Lüdenscheid. Drei Betroffene berichten über den evangelischen Kirchenmitarbeiter im Sauerland: „Er hat mich in eine Falle gelockt.“

Heimfahrten-Geschichte. Er nennt sie die Heimfahrten-Geschichte, wenn er an die Montagabende vor mehr als einem Vierteljahrhundert zurückdenkt. „Ich war 13, 14 Jahre alt“, sagt er. Wenn die Gruppenstunden der evangelischen Jungenschaft Lösenbach in Lüdenscheid zu Ende waren, hatte er sich zusammen mit anderen Heranwachsenden ins Auto des ehrenamtlichen Jugendbetreuers gesetzt. „Ich hätte sonst im Dunkeln eine Dreiviertelstunde nach Hause gehen müssen“, sagt Klaus Schneider. „Insofern habe ich mich gefreut, und die anderen auch, wenn der Leiter der Jugendgruppe uns nach Hause brachte.“

Allerdings: „Keiner wollte der Letzte im Auto sein“, sagt Schneider: „Ich habe dreimal erlebt, wie er seinen Wagen am Ende unserer Straße anhielt, das Gespräch auf sexuelle Handlungen lenkte und mich mit den Worten ,zeig doch mal‘ aufforderte, meine Hose herunterzuziehen. Dann erklärte er mir verbal, was ich mit meinen Händen machen kann.“

Mehr sei nicht passiert, schiebt Schneider nach, wohl wissend, dass die Übergriffe des Jugendbetreuers bei anderen Jugendlichen mutmaßlich ein anderes Kaliber hatten. „Ein Freund von mir, der auch in der Jugendgruppe war, leidet bis heute unter den schweren sexuellen Übergriffen.“ Einem Bericht der Wochenzeitung „Die Zeit“ zufolge, der sich mit der Missbrauchsstudie in der evangelischen Kirche beschäftigte, reichten die Vorwürfe gegen den Lüdenscheider Jugendbetreuer von „,Erektionskontrollen‘ bis zu Oralverkehr und Vergewaltigungen“.

Institut spricht von „Langzeittäter“

Das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in München spricht von einem „Langzeittäter in der Jugendarbeit“. Es hat die „Aufarbeitung vor Ort“ - bei der evangelischen Kirchengemeinde Lüdenscheid-Brügge und beim Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg, untersucht. Demnach soll der Mitarbeiter in der Kirchengemeinde und zuvor beim CVJM Lüdenscheid-West „über 30 Jahre lang Jugendliche sexuell ausgebeutet haben“.

Der Kirchenkreis hatte im September 2021 mitgeteilt, dass der Mann „sexualisierte Gewalttaten an mehr als 20 Jungen“ verübt haben soll. Später wurde bekannt, dass auch Mädchen sexualisierte Gewalt angetan worden sein soll. Nachdem im August 2020 erste Vorwürfe gegen ihn öffentlich wurden, hatte er sich das Leben genommen.

Mehr zum Thema

Die Ergebnisse der „ForuM-Substudie“ des IPP sollen an diesem Donnerstag (21. März) im Landeskirchenamt in Bielefeld vorgestellt werden. Die Westfalenpost hat vorab mit drei Betroffenen gesprochen. Sie nehmen eine Betroffenenzahl im dreistelligen Bereich an. „Allein in unserem Jahrgang“, so sagen sie, „wissen wir von sechs. Wenn man bedenkt, dass er 30, 40 Jahre in der Jugendarbeit tätig war, kann man sich vorstellen, wie hoch die Dunkelziffer ist. Der wird nach uns ja nicht aufgehört haben.“

Klaus Schneider heißt in Wirklichkeit anders, er gehört aber zu den Menschen, die sich im Sommer 2020 an die „Ansprechstelle für sexualisierte Gewalt“ bei der Evangelischen Kirche von Westfalen gewandt hatten. Was ihm in den 80er Jahren im Auto des Jugendbetreuers widerfahren ist, konnte er zunächst nicht einordnen. „Er hat immer so eine vertraute Atmosphäre geschaffen. Und wir waren ja in der Pubertät“, sagt er und zitiert einen anderen Betroffenen: „Er sagte zu mir: ,Wir müssen es ja eh irgendwann lernen. Besser von ihm als von unserem Biologielehrer oder vom Vater, was bestimmt peinlich wäre‘.“

Gruppenstunden am Montagabend

Jürgen Schäfer, ein weiterer Betroffener, dessen Name ebenfalls geändert wurde, ist nach seiner Darstellung erst „im Nachhinein“ darauf gekommen, dass die Gruppenstunden nach einem perfiden Plan des Jugendbetreuers Montagsabends stattfanden und erst beendet waren, „wenn keine Busse mehr zurückfuhren“.

Er schildert eine weitere „Masche“: Der Jugendgruppenleiter habe ihn angerufen und gefragt, ob er mit ihm und „allen anderen“ ins Wellenbad gehen wolle. Dass Schäfer am Ende mit dem Mann allein war, habe der sich nicht erklären können. Allerdings den Besuch in der textilfreien Sauna: „Richtige Kerle gehen in die Sauna.“ Und „richtige Kerle“ legten sich anschließend ausgiebig und nackt in den Ruheraum und ließen sich auch Zeit in der Gemeinschaftsumkleidekabine.

„Fangspiele“ im Schwimmbecken

„Wenn ich heute darüber nachdenke, wird mir schlecht“, sagt Schäfer, der damals bei anderen Mitgliedern der Jungenschaft („alle so zwischen 12 und 15 Jahren alt“) nachgefragt hatte, warum sie nicht gekommen waren. „Unser Leiter hatte sie nicht gefragt. Im Nachhinein weiß ich, dass ich in eine Falle gelockt wurde.“

Michael Bauer, er heißt im wahren Leben auch nicht so, erinnert sich an „Fangspiele“ im Wasser. Der Jugendbetreuer habe die Jungs dabei ausgiebig „abgetastet“. Und: „Anschließend mussten wir unter der Dusche die Badehosen ausziehen. ,Das machen echte Männer so‘, sagte er.“

Großes Vertrauensverhältnis aufgebaut

Vor der Fahrt zu einer Ferienfreizeit habe der Mann ihn in seine Wohnung gelockt. „Ich habe in seinem Zimmer übernachtet“, schildert Bauer, „dann hat er aus Romanen schlüpfrige Stellen vorgelesen und mich aufgefordert, mich selbst zu befriedigen.“

Der Jugendbetreuer hätte es geschafft, ein großes Vertrauensverhältnis aufzubauen, beschreibt Bauer: „Er war wie ein großer Bruder für mich. Es hat mich damals beeindruckt, dass man als 12-, 13-Jähriger von einem Mann von Anfang/Mitte 20 beachtet wird. Das war ja sonst nicht so.“ Heute wisse er, dass der Gruppenleiter „nur auf dieser Basis Verbrechen begehen konnte“.

Abiturjubiläum als Wendepunkt

Das unterstreicht auch Klaus Schneider. Der Jugendbetreuer habe den Jungs im persönlichen Gespräch vermittelt, etwas Besonderes zu sein. „Gleichzeitig konnte er autoritär und cholerisch sein.“ Das Verhältnis zu ihm sei immer „eine Symbiose aus Vertrautheit und Angst“ gewesen: „Man hat sich nicht getraut, mit irgendjemand darüber zu sprechen, weil man Angst hatte, Ärger mit ihm zu bekommen.“

Erst beim Abiturjubiläum mehr als 25 Jahre danach seien im Gespräch mit anderen aus der Jugendgruppe die Erinnerungen an den Betreuer wieder hochgekocht, schildert Schneider. „Als in den Folgejahren die Fälle von sexuellem Missbrauch an Kinder und Jugendliche in Lügde und Bergisch Gladbach bekannt wurden und wir erfuhren, dass der Jugendbetreuer immer noch aktiv ist, haben wir – sechs Betroffene – Berichte an das Landeskirchenamt geschickt.“

Staatsanwaltschaft stellte Ermittlungen ein

Der alleinstehende Jugendleiter wurde im Sommer 2020 von seinem Ehrenamt entbunden. Nach dessen Freitod stellte die Staatsanwaltschaft Hagen die Ermittlungen ein. „Die Auswertung der beschlagnahmten Medien ergab keine Hinweise auf weitere Straftaten oder Verdächtige“, so Oberstaatsanwalt Dr. Pauli.

„Ein Freund rief mich damals an und erzählte mir von seinem Tod“, erinnert sich Schneider. „Ich hielt mein Auto an und heulte los. Ich habe gedacht: Kein Mensch ist nur gut und nur schlecht. Ich weiß, welche schlimmen Dinge er gemacht hat. Aber er hat auch Familie und Freunde. Ich fühlte mich mitschuldig.“ Erst Gespräche mit engen Vertrauten hätten ihn beruhigt: „Sie sagten mir, ich hätte alles richtig gemacht. Wenn wir die Sache nicht ins Rollen gebracht hätten, hätte er immer weitergemacht.“

Disziplinarverfahren eingestellt

Wie konnte der Jugendbetreuer mehr als 30 Jahre Übergriffe begehen, ohne dass er gestoppt wurde? „Es gab ja Hilferufe“, sagt Jürgen Schäfer und berichtet von dem Freund, der sich an den Pastor der Kirchengemeinde gewandt und von „Problemen“ mit dem Jugendbetreuer erzählt habe. Dessen Reaktion: „Der liebe Gott braucht auch Menschen wie ihn.“

Wenn auf eine solche Weise „abgewiegelt“ wird, sagt Schäfer, „und es soll kein Einzelfall gewesen sein, dann muss es ein Klima der Begünstigung in der Kirchengemeinde gegeben haben“.

Gegen den Pastor – und einen weiteren ehemaligen Amtskollegen – leitete die Evangelische Kirche von Westfalen Disziplinarverfahren ein. Sie wurden eingestellt. Klaus Schneider, Jürgen Schäfer und Michael Bauer sind von der gesamten Aufarbeitung der Lüdenscheider Missbrauchsfälle seitens der Kirche bitter enttäuscht. „Uns Betroffenen wurde radikale Aufklärung versprochen. Wir haben eher den Eindruck, dass kirchenintern der Grundsatz galt: ,Die eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus‘.“