Mülheim. Im August endete offiziell die 23-jährige Amtszeit von Mülheims Stadtdirektor und Corona-Krisenmanager Frank Steinfort. Ein letztes Interview.
Er hat zahlreiche Krisenstäbe geleitet, hat in 23 Jahren Dienstzeit wie kein anderer Dezernent der Stadtverwaltung Entwicklungen der Stadt miterlebt und gestaltet. Er hat unter vier Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern gearbeitet, den skandalträchtigen und später krankgeschriebenen OB Ulrich Scholten musste er über Monate vertreten: Jetzt ist für Stadtdirektor Frank Steinfort Feierabend im Rathaus. Wir trafen ihn zu einem Interview.
Herr Steinfort, wann sind Sie das letzte Mal so richtig an die Decke gegangen?
Frank Steinfort: Gar nicht.
Man durfte als Beobachter von außen in all den Jahren den Eindruck haben, Sie seien der Ruhepol im Verwaltungsvorstand. Immer unaufgeregt, nicht aus der Haut fahrend. Sind Sie so ausgeglichen? Oder tun Sie nur so?
Ich habe mir früh am Küchentisch beigebracht, nicht hochzugehen, weil ich als Kind erlebt habe, wenn die Eltern hochgehen. Weil ich gemerkt habe, wie verletzend das sein kann. Worte, die einmal gesprochen sind, kann man nicht zurückholen. Das ist bei mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass Sie bei mir nie erleben werden, dass ich Sie verletze oder was sage, was mir nachher leidtut. Dann sage ich lieber gar nichts und warte. Das ist eine perfekte Selbstkontrolle. Was aber nicht heißt, dass ich keine Gefühle habe.
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Tut diese Selbstkontrolle manchmal weh?
Nein, weil sie mich auch beschützt vor Konflikten, die nur aufgrund meiner Impulsivität entstehen würden.
Kochen Sie denn innerlich schon mal?
Ja. (lacht)
Wann zum letzten Mal?
Das weiß ich nicht. Aber ich mag es zum Beispiel nicht, wenn jemand versucht, mir Geschichten zu erzählen, bei denen man sehr schnell merkt, dass sie erfunden sind, dass mich jemand austricksen will. Dann habe ich mein Duell, Mann gegen Mann, Mann gegen Frau, ob ich mich austricksen lasse. Das kann innerlich schon mal zu Emotionen führen, ja.
Mit Vehemenz haben Sie in den Vorjahren immer wieder betont, dass ein weiterer Personalabbau in der Stadtverwaltung die Schmerzgrenze überschreiten würde. Jetzt haben Sie gar gesagt, an einigen Stellen bedürfe der Stellenabbau einer gewissen Überprüfung. Wo genau sehen Sie eine Überlastung?
Das Problem ist, dass wir trotz vielleicht gerade noch ausreichender Stellen nicht genügend Personen haben, die auf diesen Stellen sitzen und arbeiten. Wir haben im Schnitt 15, in manchen Bereichen sogar 20 Prozent nicht besetzte Stellen. So müssen andere diese Arbeit mitmachen. Im Schnitt bleiben also bis zu 20 Prozent Arbeit einfach liegen. Gerade die bürgerbezogenen Ämter haben große Probleme. Sie kennen die Wartezeiten im Bürger- und Ausländeramt: Da wäre eine gewisse Personalaufstockung und Stellenausweitung sinnvoll.
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Sie selbst haben zum Ende Ihrer langen Zeit als Stadtdirektor auch Jahre höchster Beanspruchung erlebt. Erst mussten Sie lange Zeit zusätzlich den krankgeschrieben OB Uli Scholten vertreten, dann kam Corona und hat Sie als obersten Krisenmanager immens gefordert. Wie blicken Sie auf die vergangenen Jahre zurück?
Einerseits mit Dankbarkeit, dass wir gemeinsam im Krisenstab und mit vielen Beteiligten diese Pandemie so gut es ging bekämpft haben. Andererseits habe ich mir eine Art des Arbeitens angewöhnt, die auf Dauer nicht sehr gesund ist: Morgens nach dem Wecker als Erstes die Mails checken und abends als Letztes vor dem Schlafengehen noch mal gucken, ob was gekommen ist und das gegebenenfalls auch noch beantworten. Man darf nicht vergessen: Am Anfang ging es um Lebensgefahr und Todesangst, was den eigenen Einsatz noch erhöht. Gesund war das nicht. Deswegen ist es vielleicht ganz gut, dass ich jetzt aufhöre.
Hat Sie die Belastung der vergangenen Jahre dazu gebracht, früher aufzuhören?
Ja. Die letzten drei bis vier Jahre waren wie fünf. Ich kürze ja um 14 Monate – das passt dann.
23 stolze Jahre haben Sie als Wahlbeamter im Rathaus verbracht, sind zwei Mal ohne großes politisches Gezerre im Vorfeld wiedergewählt worden. Wie haben Sie es geschafft, unangefochten durch das politische Haifischbecken ins Ziel zu schwimmen?
Als ich hier anfing zu arbeiten, habe ich im Rat erklärt, dass ich für alle ansprechbar sein möchte, unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Und dass wir gemeinsam für die Menschen draußen auf der Straße da sind. Diese Art der Denke, lösungsorientiert zu arbeiten, habe ich immer angewandt. Ich habe immer die besten Ideen gesucht, egal, von wem sie kamen. Manchmal war es schon frustrierend, dass eine Idee nicht gut sein sollte, weil sie von der falschen Fraktion gekommen war. Da habe ich dann gegengehalten, mit Argumenten. Jede Fraktion war bei mir mal Gewinner, mal Verlierer. Das war sehr ausgeglichen – und damit auch sehr fair. Ich glaube, diese Fairness gegenüber den Ideen war das Entscheidende. Man konnte sich darauf verlassen, dass der Mann sagt, was er auch denkt.
Falsch ausgezählt: Mülheims OB-Wahl 1999 war die erste Herausforderung für Steinfort
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Sie sagten bei der Verkündung Ihres Abschieds, Sie seien vor 23 Jahren in ein rotes Rathaus gekommen. Wie war das als Schwarzer?
Es war eine zunächst abstrakte Herausforderung, die sich aber später durchaus konkret gestellt hat. Ich erlebte natürlich, ohne Netzwerk hier zu sein. Es gab ein, zwei Personen, die prominent in der CDU waren – ich erinnere zum Beispiel an Herrn Dehm als Referent des Oberbürgermeisters. Aber es waren nicht viele. Das Amt des Oberstadtdirektors war abgeschafft worden durch die Änderung der Gemeindeordnung, ein Oberbürgermeister musste erst noch gewählt werden. Ich fing ja an im Juli 1999 und im September war die Kommunalwahl.
1999 sind Sie bei der OB-Wahl gleich mal richtig gefordert gewesen, weil falsch ausgezählt worden war. Erinnern Sie sich!
Das war sehr spannend. Der Abstand war 30 Stimmen, aber ein Päckchen an Stimmen ist wohl übersehen worden. Es hatte abends SPD-Kandidat Thomas Schroer gewonnen und morgens CDU-Kandidat Jens Baganz. Es gab schnell großen Druck auf mich, die Wahlurnen wieder zu öffnen und nachzählen zu lassen. Ich war eigentlich der Einzige, der in der Mitte stand und sich bemüht hat, klar zu denken und zu überlegen, was hier jetzt eigentlich geht und was nicht. Da habe ich gemerkt, noch kein Netzwerk zu haben. Die Wahlurnen habe ich, weil die Menschen so aufgeregt waren, sie könnten gestohlen oder manipuliert werden, alle in den hintersten Raum im Ratstrakt bringen lassen. Die Fenster wurden versiegelt und wir haben Nachtwächter dort postiert. So hysterisch war das hier – und super aufregend. Und ich war schlicht alleine, ich hatte nur meinen Verstand. Es wurde dann öffentlich neu ausgezählt. Mit dem bekannten Ergebnis.
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Was waren ansonsten die größten Herausforderungen in Ihrer langen Dienstzeit?
Als ich hier anfing, war die Wagenburg mein Gesellenstück. Da waren vielleicht 50 Menschen, die keinen festen Wohnsitz hatten, in Bauwagen schon länger an der Ruhr ein alternatives Leben lebten und ein Schrecken der Gutbürgerlichen in Speldorf waren. Es gab keine Erschließung, keine Toiletten. Die mussten da weg, wollten es aber natürlich nicht. Ich habe mit den Menschen verhandelt, aber ohne Ergebnis. So habe ich einen Verwaltungsakt erlassen zur sofortigen Räumung. Das Verwaltungsgericht hat aber dem Rechtsanwalt der Menschen in der Wagenburg recht gegeben. Dann habe ich eine Berufung zum OVG selbst geschrieben, weil ich noch auf mich alleine gestellt war hier in der Verwaltung – und gewonnen. Wir sind an einem Septembermorgen, wie in einem Film, angerollt mit Spezialkräften der Polizei, weil dort angeblich Sprengsätze gesehen worden sein sollten, und haben geräumt. Ein Teil war schon gegangen, die anderen zogen dann friedlich ab. Sicher waren auch die neun Bürgerbegehren eine anspruchsvolle Herausforderung, weil jeweils emotional stark aufgeladen.
Und der schönste Moment?
Die positiven Reaktionen auf meine Videoansprachen in der Covid-Zeit. Ich habe mit mehr Konflikten gerechnet, aber es gab fast nur Positives. Normalerweise ist das im Netz anders. Dass es uns mit unserer Arbeit gelungen ist, die Menschen so mitzunehmen, war schon toll und war bei einer Sieben-Tage-Woche auch ein schönes Dankeschön. Emotional war die Gründung der Freiwilligen Feuerwehr nach 09/11. Wir waren die letzte Großstadt ohne Freiwillige Feuerwehr. Toll war es auch für unsere Stadt, als wir Hochschul-Standort wurden.
Corona: „Das soziale Leben wird nicht mehr so beeinträchtigt werden“
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Sie haben Mülheim als Krisenmanager ins dritte Jahr Corona begleitet. Es ist längst nicht geschafft, oder?
Sicherlich sind wir graduell in einer Phase, die nicht annähernd so schlimm ist wie 2020. Die Todesangst ist weg. Medikamente sind da, Impfstoffe sind da. Man kann natürlich den Teufel an die Wand malen und eine neue Mutation befürchten. Aber solange das nicht passiert, werden wir zwar einen Herbst mit Einschränkungen haben, aber im Großen und Ganzen wird das soziale Leben davon nicht mehr so beeinträchtigt werden.
Mülheim 2022 – wie steht die Stadt aus Ihrer Sicht im Vergleich zum Jahr ihres Dienstantritts 1999 da?
Die Stadt ist besser vernetzt als früher, die Kommunikation untereinander im Rathaus ist viel unkomplizierter geworden und dadurch viel konstruktiver. Innerhalb des Rathauses ist das Hierarchiedenken sehr zugunsten einer Diskussionskultur gewichen, wo die besten Ideen zum Zuge kommen. Als ich hier anfing, sagte mir meine Sekretärin, dass es das früher nicht gegeben habe, dass normale Mitarbeiter zum Stadtdirektor ins Büro kommen. Das war bei mir sofort anders.
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Das war jetzt die Rathaus-Sicht. Wenn Sie die Stadt an sich sehen: Wie steht sie heute da?
Sie hat sich baulich sehr positiv verändert. Das sagen mir auch junge Besucher: Das ist ja toll geworden mit dem Hafenbecken und mit den Gebäuden da vorne. Der alte Kaufhof ist weg. . . Das mag ja für Menschen, die das Alte kennen, traurig sein. Aber so war es hier: Die Stadt war nicht am Fluss. Hier unten hinter dem Rathaus war eine dreispurige Straße. Keiner ging da rüber, es gab auch keine Ampel. Drüben gab es eine Grünanlage, die aber überwiegend von Menschen genutzt wurde, in deren Nähe man nicht sitzen wollte. Die Innenstadt ist nach wie vor ein Sorgenkind. Und zur Finanzsituation muss ich zur Ehrenrettung der Stadt sagen: In einem Telefonat habe ich dem Bund der Steuerzahler mal gesagt, dass er nur auf unser Girokonto guckt, aber nicht darauf, dass wir hunderte Millionen Euro in die Schulen und Turnhallen gesteckt haben. Wenn aber die Schuldendebatte kommt, sagt keiner, dass die Schulen und Sportanlagen in Mülheim einen doch relativ guten Zustand haben. In den vergangenen 20 Jahren sind unsere Schulden zwar gestiegen, aber wir haben auch Mehrwerte dafür bekommen. Ich habe nicht beobachtet, dass Geld verschwendet wurde.
In die Hauptfeuerwache hat die Stadt so viel Geld reingesteckt, dass jetzt viele andere mitverdienen. Mir fallen auch die Zinswetten oder der Verkauf der RWW-Anteile, um das Geld dann zu verfrühstücken, ein. . .
Bei den Zinswetten ist man einem Trend gefolgt, der sich definitiv als Fehler erwiesen hat. Aber da stand Mülheim bei weitem nicht alleine. Feuerwache, ja, richtig: Die Kalkulation war einen Tick zu hoch, weil die Kette der Finanzierungen nicht so transparent war. Der Verkauf der RWW-Anteile war eine Abwägung: Vier Prozent Rendite im Schnitt gegen die Zinsen, die man am Markt zahlen musste. Hinterher ist man immer schlauer. Aber was hatte man denn für Informationen zum Zeitpunkt der Entscheidung: Wir hatten kein Geld, um die Wache zu bauen. Kein Geld, um die Schulen zu machen. Wir mussten all dies über Umwege finanzieren – und (nur) das wurde uns vom Land erlaubt. Der einfache Weg der Kreditaufnahme für die notwendigen Investitionen war uns von der Kommunalaufsicht nur sehr begrenzt und völlig unzureichend erlaubt.
Mülheims Stadtdirektor spricht sich klar für Zukunft des Flughafens Essen-Mülheim aus
Jetzt aber mal Feierabend, Sie waren ja nicht Kämmerer. Mülheim in zehn Jahren: Auf was freuen Sie sich am meisten?
Wenn die Digitalisierung der Verwaltung abgeschlossen wäre und die Prozesse von Bürgerinnen und Bürgern auf vielerlei Weise zu Hause erledigt werden können. Ich wünsche mir, dass die Politik weiter um beste Lösungen ringt, dass der Flughafen sich weiterentwickelt. Ich war immer ein Befürworter des Flughafens. Wenn er sich weiterentwickelt zu einem kleinen, modernen Flughafen mit Elektroflugzeugen und der tollen Eventhalle, die jetzt gebaut wird, ist das was ganz Besonderes für Mülheim. Ich freue mich auch, wenn die Internationale Gartenbauausstellung 2027 Erfolg hat, weil damit Grünanlagen in der Stadt vernetzt werden.
Wird man Sie nach Ihrem Ausscheiden aus dem Rathaus im öffentlichen Leben Mülheims weiter sehen oder bevorzugen Sie nun ein Leben fernab des „Rampenlichts“?
Letzteres. Ich habe einen so hohen Bekanntheitsgrad in der Stadt, dass ich immer angesprochen werde, wenn ich irgendwo durch die Stadt gehe. Zum Glück meistens sehr anerkennend. Ich freue mich wieder auf ein Stück Anonymität, wie ich es in meinem früheren Leben mal hatte. Dass ich mich im Restaurant vielleicht nicht immer beobachtet fühle. Ich verspreche, keine Leserbriefe zu schreiben. Als Zeitungsleser werde ich aber sicher beobachten, wie sich die Stadt weiter entwickelt. Ich werde aber auch mit einem gewissen Schmunzeln wahrnehmen, wenn einmal wieder eine Ratssitzung ist – und ich nicht dabei sein muss.
Herr Steinfort, ich wünsche Ihnen alles Gute.