Mülheim. Zwischen Vorfreude und Skepsis: Mülheims Schüler sind unsicher, was sie von vollen Klassen halten sollen. Ein Experte warnt vor zu viel Druck.
Lasse freut sich wie Bolle auf den kommenden Montag: „Ich finde es megaschön, wenn wir wieder alle zusammen in der Klasse sind“, erzählt der Zwölfjährige fröhlich am Telefon. Und doch ist der Siebtklässler der Luisenschule auch ein wenig unsicher, was er von vollem Präsenzunterricht halten soll: „Die Fallzahlen sind doch gerade niedrig. Vielleicht ist es überstürzt, wieder mit allen Kindern anzufangen. Es wäre so blöd, wenn die Zahlen wieder hochgingen.“ Lasse spricht seinen Altersgenossen aus der Seele. Vor dem Schulstart sind die Mülheimer Kinder zerrissen. Sie freuen sich – und sind doch ängstlich.
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Für Harald Karutz, der in Mülheim das psychosoziale Krisenmanagement koordiniert, ist es elementar, dass Lehrer und Lehrerinnen diese Zerrissenheit im Blick behalten, dass sie die Nöte und Bedürfnisse der jungen Menschen erkennen, Verständnis haben und Druck rauszunehmen. „Es darf jetzt nicht gleich wieder nur um Leistung gehen. Sondern darum, dass die Schüler und Schülerinnen ankommen können und dass sie gesund sind.“ Mathearbeiten seien erst mal nicht wichtig. Entscheidend sei, dass Kinder und Jugendliche sich in der Gruppe der Gleichaltrigen wieder zurechtfinden. Viel zu lang hätten sie darauf verzichten müssen. „Eigentlich ist der Montag wie eine zweite Einschulung“, findet Karutz.
An Tests ist Stella gewöhnt und auch die mögliche Quarantäne schreckt sie nicht
Stella (9) wartet sehnsüchtig darauf, ihre beste Freundin Viktoria wiederzutreffen. Die war im Wechselunterricht leider nicht in ihrer Gruppe, erzählt die Drittklässlerin der Grundschule am Krähenbüschken. Aber auch andere Klassenkameraden vermisst das Mädchen. An Tests ist Stella längst gewöhnt, und auch eine mögliche Quarantäne schreckt sie nicht. Schon zweimal hat sie das hinter sich gebracht. Neben der Rückkehr in die Schule hat sie übrigens noch einen großen Wunsch, der nach Veröffentlichung in der Zeitung hoffentlich in Erfüllung geht: „Ich möchte so gern mal wieder essen gehen in ein Restaurant. . .“
Für Jill hätte das Homeschooling ruhig bis zu den Sommerferien weitergehen können. Die 15-Jährige besucht die neunte Klasse der Otto-Pankok-Schule (OP) und hält es für unnötig, für die verbleibenden fünf Wochen noch mal alles umzukrempeln. Ihr ist wichtiger, dass die Schule nach den Ferien wirklich durchstartet. Die Erprobungsstufe EF steht an, Jill steuert langsam, aber sicher aufs Abitur zu. „Dann fängt das mit den Kursen an und ich möchte die neuen Leute unbedingt kennenlernen.“ Falls es nämlich erneut zu coronabedingten Schulstunden von zu Hause aus kommen sollte, hätte sie andernfalls keinen, um sich auszutauschen, fürchtet Jill. „Dann wird das Abi vielleicht nicht so gut, wie ich mir das vorstelle.“
Die angeblich so legendäre Abizeit zog sang- und klanglos vorüber
Ihre Schwester Lilith steckt gerade mitten im Abschluss, hat am Montag noch mündliche Abi-Prüfung in Deutsch. Die 18-Jährige kann es kaum glauben, „doch wahrscheinlich bin ich dann das letzte Mal in der Schule“. Eventuell werden dort noch die Abi-Zeugnisse überreicht, aber mit der Rückkehr der gesamten Schülerschaft ins OP wird Lilith nicht mehr viel zu tun haben. Als angehende Abiturientin hatte sie in den vergangenen Wochen deutlich mehr Unterricht als die jüngeren Schüler, doch erlaubt waren nur Kleingruppen. Lilith vermisst die Mitschüler: „Es ist so schade, dass wir uns gar nicht mehr alle sehen und richtig voneinander verabschieden konnten.“ Sie bedauert es, dass die angeblich so legendäre Abizeit für ihren Jahrgang einfach sang- und klanglos vorbeigezogen ist – „wir haben uns so darauf gefreut“.
Tiefe Spuren hat die Corona-Zeit bei Kindern und Jugendlichen hinterlassen, weiß Harald Karutz. Leider habe die Politik das in den bald anderthalb Jahren Pandemie „viel zu wenig beachtet“. Auch aktuell würde man die jungen Menschen vor allem als Schüler betrachten und nicht als Individuen mit spezifischen Bedürfnissen. „Es geht an den Schulen primär darum, Lernstoff aufzuholen“, kritisiert der Experte. Dabei müssten andere Dinge Priorität haben: „Viele Kinder sind verängstigt, beunruhigt, gereizt. Sie haben die Lust an Schule verloren, ihre Geduld und die Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Sie haben das Lernen verlernt.“ Nun bräuchten sie liebevolle Unterstützung und endlich wieder Struktur im Leben.
Es geht zurück zum Stundenplan mit allen Haupt- und Nebenfächern
Die wird es ab Montag geben, die Kinder kehren zum Stundenplan mit allen Haupt- und Nebenfächern zurück und zum regelmäßigen frühen Aufstehen. Anne (13) hat Bauchschmerzen, wenn sie daran denkt, dass alles wieder in üblicher Routine abläuft. „Ich freue mich so mittel darauf“, sagt die Achtklässlerin vom OP. Nach ihrem Geschmack sind im Klassenzimmer „viel zu viele Leute auf engem Raum“. Es sei „doof“, dass der Abstand nicht mehr eingehalten werden könne. „In unserer Klasse halten sich eh nicht alle an die Regeln – und wir hatten schon einen Coronafall.“
Fünftklässlerin Marlene (11) sieht die Dinge von zwei Seiten. Sie freut sich auf ihre Freunde, aufs Quatschmachen und auf gemeinsame Aktionen wie das Gestalten von Fensterbildern. Doch es werde bestimmt wieder „laut und anstrengend“. Niki von der Luisenschule, ebenfalls 11, ist froh, dass er endlich nicht mehr „die nervigen Online-Aufgaben“ machen muss. Restlos freuen kann aber auch er sich nicht: „Ich finde es überflüssig, den Unterricht noch vor den Ferien zu starten. Das Risiko, sich anzustecken, wächst.“
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Lorenz (17): „Irgendwann muss doch mal wieder normales Leben sein“
Lorenz aus der elften Klasse der Waldorfschule blickt ebenfalls mit Skepsis auf den Neustart: „Ich finde das nicht so prickelnd – die Zeit war so schön und ruhig.“ Der 17-Jährige hat „keine Angst, sich anzustecken“, doch die Vorstellung, dass bei steigenden Fallzahlen wieder strengere Corona-Vorschriften gelten könnten, missfällt ihm. „Das darf nicht wieder alles von vorne anfangen. Irgendwann muss doch mal wieder normales Leben sein.“ Ginge es nach Lorenz, würden weiterhin nur die Schüler der Abschlussklassen vor Ort sein. „Die Jüngeren haben noch länger Zeit zum Lernen und können das auch online gut tun.“
Dass die Zeit des Homeschoolings vorbei ist, findet Andreas Illigen gut und richtig. Der Leiter der Schildbergschule und Sprecher der Mülheimer Schulleitervertretung, vernimmt auch kaum kritische Stimmen. Im Gegenteil: „Die Vorfreude ist groß.“ Selbst wenn an weiterführenden Schulen deutlich mehr zu organisieren ist als an Grundschulen und selbst wenn Schüler und Lehrer noch Vorbehalte und Ängste haben – ihm fällt die Abwägung pro Präsenzunterricht nicht schwer. Von Gefahrenabwehr könne man längst nicht mehr reden. „Die Risiko ist nur noch minimal, der Inzidenzwert ist gut und wir testen seit Wochen intensiv.“ Es sei eindeutig Zeit für einen geregelten Schulalltag. Im Dezember 2020, als die Klassenzimmer letztmalig voll besetzt waren, „da hatten wir keine Tests, die Inzidenz lag über 200 und es war Winter“. Nun stehe man doch viel besser da.
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Maja (8): „Jetzt muss man endlich nicht mehr so oft alleine spielen“
Maja (8) erleichtert das unendlich: „Ich finde es toll, dass alle wieder in die Schule gehen“, sagt die Zweitklässlerin der Hölterschule. Es sei so schön, wieder andere Kinder zu sehen. Endlich müsse man „nicht mehr so oft alleine spielen“. Corona ist doof, findet Maja. „Ich hoffe, es ist bald verschwunden. Dann können wir uns endlich wieder alle treffen und auch mal in Läden gehen.“