Mülheim. . 36-Jährige hatte Kinder und sich getötet. Mülheimer Notfallpädagoge gibt Tipps, wie man über das Geschehen sprechen kann. Infoblatt im Netz.
Die entsetzliche Nachricht vom Tod einer Mutter und ihrer zwei Töchter erschüttert seit Tagen die Menschen in der Stadt. Die Saarnerin (36) hatte am Dienstag erst die Mädchen (9 und 3) und dann sich selbst umgebracht. In der Fachsprache ist von erweitertem Suizid die Rede. Wie erklärt man ein solches Tun seinen Kindern? Was darf man sagen, was nicht? Harald Karutz wird das seither immer wieder gefragt. Menschen aus dem Umfeld der Familie, aber auch Unbeteiligte wenden sich an ihn. Der Pädagoge (43) forscht und arbeitet mit Kindern und Jugendlichen in Notfallsituationen. Er weiß, dass sie Katastrophen oft anders wahrnehmen als Erwachsene.
Per E-Mail, per Telefon suchen die Menschen Rat; „es ist erstaunlich, wer alles einen Bezug zu dem Ereignis hat“, sagt Karutz. Das zeige, wie vernetzt die Gesellschaft ist, wie viele Mülheimer miteinander verbunden sind. Die Anteilnahme ist riesig. Die Hilflosigkeit im Einzelfall auch. „Die Menschen sind schockiert, bewegt. Sie machen sich viele Gedanken, wie sie das ihren Kindern erklären können.“
Nach Flutkatastrophe an der Elbe erstes Infoblatt
Langjährige Erfahrung hilft dem Leiter des Notfallpädagogischen Institutes in Essen bei seinen Antworten. Nach der Flutkatastrophe an der Elbe hatte er ein erstes Infoblatt für Eltern formuliert. Es wurde vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe verbreitet und wird seither immer wieder aktualisiert: nach dem Terroranschlag in Paris zum Beispiel, nach dem Amoklauf in München. Und auch jetzt wieder – nach der Tragödie im beschaulichen Saarn.
Karutz plädiert dafür, Kindern die Wahrheit zu sagen: „Auf den unterschiedlichsten Wegen werden sie früher oder später ohnehin erfahren, was passiert ist – vielleicht auch nur über Gerüchte.“ Vor diesem Hintergrund sollten Eltern ihren Kindern etwa ab dem Grundschulalter grundsätzlich sagen, was passiert ist. Man solle nicht versuchen, das Geschehen herunterzuspielen – „was passiert ist, ist passiert“ –, aber auch nichts äußern, was zusätzliche Ängste auslösen kann. Spekulationen über Hintergründe oder Details zum Tatgeschehen sollten eher nicht angesprochen werden.
Schwere seelische Erkrankung als Erklärungsansatz
Neben der sachlichen Information findet Karutz es wichtig, das Geschehen einzuordnen: Auf die Frage „Wie konnte die Mami das bloß tun?“, könnte die Antwort lauten: „Mag sein, dass eine sehr schwere seelische Erkrankung zur Tat geführt hat.“ Dies sei ein Erklärungsansatz, betont der Fachmann, „eine richtige Erklärung ist es nicht“. Manches wisse man als Außenstehender einfach nicht und müsse das auch so hinnehmen. „Für Eltern ist es eine Herausforderung, einzugestehen, dass sie es vielleicht auch nicht wissen.“ Man müsse das Unerklärliche mit den Kindern zusammen aushalten. „Man kann sie lieb in den Arm nehmen und sagen, dass so etwas sehr, sehr selten passiert, dass man also keine Angst davor haben muss.“ Eltern sollten gesprächsbereit bleiben, aufmerksam zuhören. Sie sollten Sicherheit vermitteln und eigene Betroffenheit offen zugeben, rät Harald Karutz.
Bewältigung könne auch über eigene Aktivität gelingen: Nach der Flut an der Elbe hatte der Notfallpädagoge dazu geraten, die Kinder über gemeinsames Aufräumen ins Geschehen einzubeziehen. In Saarn, so räumt er nun ein, sei allerdings „nicht viel mehr möglich als eine Kerze aufzustellen“.
>> ZUR PERSON: PROF. DR. HARALD KARUTZ
Prof. Dr. Harald Karutz ist Diplom-Pädagoge, Notfallseelsorger und Malteser. Er ist lange Jahre Rettungswagen gefahren, bildet Einsatzkräfte aus. Seit über 20 Jahren ist er mit der psychosozialen Notfallversorgung für Kinderbeschäftigt. Er leitet das Notfallpädagogische Institut, lehrt an der Medical School in Hamburg. Das Bundesinnenministerium fördert sein Forschungsprojekt Kind und Katastrophe (kikat.de).