Essen. In NRW blicken Ärzte mit Sorge auf die Pandemiefolgen bei Kindern. Schulen bereiten sich auf eine besondere Generation von i-Dötzchen vor.
Welche Folgen die Pandemie bei Kindern und Jugendlichen habe? Michael Achenbach muss nicht lange nach einer Antwort suchen. Der Kinderarzt kann sofort von zwei Patientinnen aus seiner Praxis im ländlichen Plettenberg berichten. Er erzählt von einem fast 13-jährigen Mädchen, das er zuletzt vor zwei Jahren gewogen hatte. Damals habe es 84 Kilogramm gewogen, inzwischen seien es 121. Gleich danach sei eine knapp 16-Jährige zu ihm gekommen, deren Magersucht sich verstärkt habe: „Sie wiegt 47 Kilogramm.“
In den Praxen sähen die Kinder- und Jugendärzte derzeit vermehrt beide Extreme, sagt Achenbach, der auch Regionalsprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in Westfalen-Lippe ist: „Kinder, die sehr stark zugenommen haben und solche, die sich dem Essen zunehmend verweigern.“
Fehlende Bewegung und weniger soziale Kontakte: Ärzte beobachten Folgen bei Kindern
Kinder und Jugendliche sind von den Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus massiv betroffen. Präsenzunterricht in den Schulen wird erst zum Monatsende vielerorts wieder möglich, Kontakte zu Freunden waren lange reduziert, Sport- und Freizeitangebote vielfach ins Digitale verlegt. Niedergelassene Ärzte, aber auch Mediziner in den Gesundheitsämtern, bemerken immer deutlicher die Auswirkungen des Pandemiejahres.
Die augenscheinlichste Folge ist das Gewicht. Deutlich mehr Kinder hätten im zurückliegenden Pandemiejahr sehr stark an Gewicht zugenommen, sagt Achenbach. „Der Unterschied zu den Vorjahren ist groß.“ Übergewicht habe zwar immer persönliche Gründe, doch alle Kinder haben aus Sicht des Fachmanns derzeit gemeinsam, dass ihnen der regelmäßige Weg zur Schule, die Bewegung in der Schule und die Nachmittagsbeschäftigung gefehlt haben. „Die Folgen sehen wir jetzt sogar bei Kindern, bei denen Übergewicht vor der Pandemie und den Lockdowns kein Thema gewesen ist“, sagt Achenbach.
Auf den Bewegungsmangel allein führt er seine Beobachtungen aber nicht zurück: „Wir sehen in den Praxen häufiger Kinder, die gestresst sind. Essen ist auch eine Form der Stressbewältigung.“
Ratschläge an die Eltern? „Viele sind nicht am Limit, sondern drüber“
Deshalb müsse man auch die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen stärker in den Blick nehmen, fordern Achenbach und seine Kollegen aus NRW. Sie berichten von Kindern und Jugendlichen mit emotionalen Störungen, von Depressionen und von Jugendlichen, die sich selbst verletzten. Es vergehe in seiner Praxis keine Woche ohne einen schweren Fall, sagt Axel Gerschlauer, Landesvorsitzender des BVKJ in Nordrhein und Bonner Kinderarzt. „Das ist ein absolutes Ausnahmejahr.“
Aus seiner Sicht geht es nicht nur darum, dass den Kindern Kontakte und die festen Strukturen eines Schulalltags fehlen. „Kinder haben eine sehr feine Antenne. Sie bekommen von unseren Ängsten und dem Hin und Her der Pandemiemaßnahmen mehr mit als wir meinen“, sagt der Bonner Kinderarzt. Er beobachtet, dass seine Patienten und Patientinnen insgesamt stiller und verunsicherter geworden seien.
Auch interessant
Eltern mit guten Ratschlägen zu kommen, davon nehme er inzwischen eher Abstand: „Vor sechs Monaten hätte ich bei einem übergewichtigen Kind vielleicht gesagt, dass sie mit ihren Kindern mehr raus gehen sollten. Das würde ich heute nicht mehr tun. Die Eltern sind nicht am Limit, viele sind drüber.“ (mehr zum Thema)
Nicht alle Kinder seien gleich stark betroffen, unterstreichen die Mediziner. Es gebe Familien, in denen Fehlendes aufgefangen werden konnte. Entscheidend aber sei, dass die Schule zum Monatsende in NRW für alle wieder starten könne.
Städte untersuchen Vorschulkinder: Übergewicht häufiger ein Thema
Auch in den städtischen Gesundheitsämtern sind die Experten aufmerksam. Sie berichten von ersten Auffälligkeiten bei Routine-Untersuchungen von Vorschulkindern, die sich gezeigt haben. In Essen etwa haben die Fachleute im Vergleich zum Vorjahr bei den Schuleingangsuntersuchungen häufiger Übergewicht oder motorische Schwierigkeiten festgestellt. Auch in Bottropist die Anzahl der übergewichtigen Kinder gestiegen.
Ärzte gegen Impfpflicht von Kindern
Kinderärzte warnen schon im Vorfeld vor einer möglichen Diskussion über eine Corona-Impfpflicht für Kindern und Jugendlichen. Der Besuch einer Schule dürfe nicht an den Impfstatus eines Kinder gebunden sein, warnt Axel Gerschlauer, Vorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in Westfalen-Lippe. „Es darf keine Impfpflicht durch die Hintertür geben“, sagt er.
Eine Corona-Schutzimpfung sei für Kinder mit Vorerkrankungen und bestimmten Risikofaktoren notwendig. „Aber wir dürfen jetzt nicht vollkommen gesunde Zwölfjährige impfen, nur damit sich die Lehrer in den Schulen besser fühlen“, so Gerschlauer. Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung warnte unlängst davor, das Ziel der Herdenimmunität als Begründung für Impfungen Jugendlicher heranzuziehen. Sie gelten als weniger stark vom Virus betroffen.
Derzeit befinden sich Corona-Schutzimpfungen mit dem Impfstoff von Biontech/Pfizer für Kinder ab zwölf Jahren im Zulassungsverfahren. Bislang kann das Vakzin nur an über 16-Jährige gegeben werden. Noch ist nicht klar, ob die Ständige Impfkommission (Stiko) eine Corona-Schutzimpfung von Zwölf- bis 16-Jährigen überhaupt empfehlen wird. Gegenüber dem Tagesspiegel hat sich Stiko-Chef Thomas Mertens zurückhaltend geäußert. Er finde das politische Ausrufen einer Impfkampagne bei Kindern „bedauerlich“.
Wie sehr sich dieses Bild landesweit bestätigen lässt, ist nicht abzusehen: Wegen der Pandemiebekämpfung, die die Gesundheitsämter weiter auf Trab hält, werden nicht überall alle Kinder untersucht. Gelsenkirchen priorisiert, in Mülheim etwa gibt es verkürzte Untersuchungen.
Schule bereiten sich auf eine besondere Generation der Erstklässler vor
Die Grundschulen stellen sich derweil bereits auf eine besondere i-Dötzchen-Generation ein und haben dabei auch das Thema Übergewicht im Blick. „Die Kollegen und Kolleginnen bereiten sich auf einen anderen Unterricht vor, um Kinder stärker zu aktivieren“, sagt Baldur Bertling vom Grundschulverband NRW. Die Erfahrung zeige, dass Kinder, die nicht regelmäßig eine Kita besuchen, viel Zeit vor dem Fernseher verbrächten, sich wenig bewegten, insgesamt eher träge seien und bei kreativen Prozessen eher Probleme hätten. Dies gelte es aufzufangen: „Zählen muss man nicht am Tisch lernen, Treppenstufen eignen sich genauso gut.“
Allerdings dürfe nun nicht nur auf Defizite von künftigen und aktuellen Grundschülern geschaut werden, mahnt der langjährige frühere Grundschulleiter aus Dinslaken. Das entmutige Schüler, ihre Eltern und letztlich die Lehrkräfte.
Sportexperten fordern, dass Bewegung und das gemeinsame Bewegen ins Zentrum des Alltags an den Grund- und weiterführenden Schulen rücken müsse. Es gebe einen erheblichen Nachholbedarf bei den Kindern und Jugendlichen, sagt Günter Stibbe, Professor am Institut für Sportdidaktik und Schulsport an der Deutschen Sporthochschule Köln. „Das kann der Sportunterricht allein nicht leisten“, so Stibbe. Nötig sei eine konzertierte Aktion an den Schulen, um Bewegungsräume zu schaffen. Es brauche Angebote im Ganztag und Feriencamps.