Mülheim. Distanzunterricht beschert vielen Familien tägliche Kämpfe zwischen Kind und Technik. Dazwischen, als menschliche Puffer, meist die Mütter.

Mit Tatkraft und Optimismus sind Mülheimer Schulleitungen in den flächendeckenden Distanzunterricht gestartet. Vor allem aus weiterführenden Schulen war zu hören, man sei gut vorbereitet. Einige Eltern sehen das anders.

Mülheimer Mutter: Seit Ostern war absehbar, dass es länger dauert

Bei Melanie Keller, die zwei Kinder auf der Luisenschule hat, Jahrgangsstufe sechs und neun, liegen die Nerven blank. "Die Eltern haben Schaum vor dem Mund", glaubt sie. Dabei hätten ihre Kinder immerhin das erforderliche Equipment: "Seit Ostern war absehbar, dass es länger dauert, darum haben wir zwei Notebooks angeschafft."

Seit März gebe es auch eine Schulcloud, leider hätten weder Schüler noch Lehrkräfte eine Einführung bekommen, beklagt Melanie Keller. Konsequenz aus ihrer Sicht: "Alle Lehrer benutzen unterschiedliche Tools und verschiedene Plattformen für Videokonferenzen." Die sie teilweise selber noch nie durchgeführt haben. Für die Kinder sei es kompliziert, sich dort zurechtzufinden, sie als Mutter müsse immer wieder helfen.

Forderung: Strukturierter Stundenplan für Videocalls

Und was tatsächlich im Distanzunterricht passiert, hänge stark vom Engagement der jeweiligen Fachlehrer ab. Nur Aufgaben online zu stellen, empfindet Keller als "Beschäftigungstherapie, denn neuer Stoff kann nicht in jungen Jahren autodidaktisch erlernt werden". Was sie sich wünschen würde, was sie fordert: Einheitliches, systematisches Vorgehen der Lehrer und "einen strukturierten Stundenplan für Videocalls".

Vater zweier Luisenschüler: "Sprachlos, wie gut es funktioniert"

Ein weitaus freundlicheres Bild der ersten Unterrichtstage zeichnet Georg Plassmann, Schulpflegschaftsvorsitzender der Luisenschule, die seine beiden Kinder besuchen. "Ich bin geradezu sprachlos, wie gut es funktioniert. Die Lehrer sind sehr engagiert." Seit Montag würden mehrmals täglich, in verschiedenen Fächern, Videokonferenzen abgehalten, würden Aufgaben mitsamt Rückmeldungen und Abgabeterminen verlässlich gestellt.

Doch auch dieser Vater räumt ein: "Distanzunterricht ist eine Riesenbelastung für Familien." Weil noch so viel nachgearbeitet werden müsse, weil der Dialog im Klassenraum fehle, weil schon jüngere Kinder zum Selbststudium gezwungen sein. "Das schaffen selbst viele Studenten aus höheren Semestern nicht gut. Und das bleibt jetzt an den Eltern hängen."

Drei Kinder auf drei Schulen: Große Qualitätsunterschiede

Wer wüsste das besser als Tanja Becker, Mutter und momentan zugleich Hauslehrerin von drei Kindern, die drei verschiedene Mülheimer Schulen besuchen: Gustav-Heinemann-Gesamtschule, Realschule Stadtmitte, Otto-Pankok-Gymnasium. Ihr Kommentar zum Thema Distanzunterricht lautet: "Die Qualität ist sehr ... verschieden." Teilweise sei noch viel Luft nach oben.

Jede Schule arbeite mit einem anderen System, mit oder ohne Videokonferenzen, mit oder ohne Stundenplan. "Alle wursteln vor sich hin." Ihre Kinder seien technisch eigentlich gut ausgestattet, meint Tanja Becker. Aber ohne Mamas Hilfe kämen sie nicht zurecht: "Das fängt an mit: ,Ich hab mein Passwort vergessen!' ,Die App lädt nicht.' ,Ich brauche die Kopfhörer'..."

Eigene Arbeit im Homeoffice wird oft zur Nachtschicht

Die dreifache Mutter ist beruflich selbstständig, arbeitet selber digital im Homeoffice: "Ich weiß also, dass es geht." Die eigene Arbeit verlagert sich momentan oft in die Nachtschicht, tagsüber frisst das Homeschooling viel Zeit. Tanja Becker sagt sogar: "Ich finde es vermessen, das Hochladen von Aufgaben überhaupt Unterricht zu nennen."

Sie will den Lehrern gar keinen Vorwurf machen, ihre Kritik geht eher in Richtung Landespolitik: "Ich finde, das Ministerium ist komplett in der Versenkung verschwunden." Seit Ostern sei nichts passiert, wurden kaum Ressourcen zur Verfügung gestellt, Endgeräte oder wenigstens eine funktionierende App. "Schulen und Lehrer werden völlig in der Luft hängen gelassen", sagt die Mülheimerin.

Gesamtschule: Vielen Schülern fehlen immer noch digitale Endgeräte

Damit meint sie vermutlich auch die Gustav-Heinemann-Schule (GHS), die eines ihrer Kinder besucht. Deren Leiter Thomas Ratz und sein Team kämpfen tatsächlich mit Problemen, die sie nicht zu verantworten haben. Eng ist es immer noch bei der Ausstattung mit digitalen Endgeräten.

Zehn I-Pads hat die Gesamtschule von der Stadt inzwischen bekommen, einige weitere konnten mit Hilfe des Fördervereins angeschafft werden, „aber leider reicht das immer noch nicht“, schreibt die Schulleitung in einer aktuellen Elterninformation, und muss auch Mitte Januar 2021 feststellen, „dass weiterhin eine hohe Anzahl Schüler*innen leider noch nicht für den Distanzunterricht ausgestattet ist“.

Dennoch: Start an der GHS "relativ gut geglückt"

Eltern werden gebeten, mit ungenutzten Notebooks, Tablets oder PCs auszuhelfen. „Es dürfen natürlich keine Uralt-Geräte sein“, erläutert Thomas Ratz auf telefonische Nachfrage, und beschreibt, wie sich die Gustav-Heinemann-Schule seit Wochen und Monaten selber behilft. 40 Desktop-PCs aus den eigenen Computerräumen, die eigentlich schon ausrangiert waren, wurden von technisch versierten Lehrer wieder flott gemacht. 20 Laptops steuerte die Mülheimer Finanzverwaltung bei. „Das alles hilft uns schon eine Menge weiter“, meint der Schulleiter.

Er kann außerdem vermelden, dass an der GHS die verwendeten Plattformen Moodle und MS Teams bislang reibungslos laufen, während anderswo Störungen und Abstürze an den Nerven zerrten. „Unser Start ist also relativ gut geglückt", resümiert Ratz. Nur dürfen die Kinder nicht ihre Passwörter vergessen oder die Kopfhörer verbummeln. Sonst sind wieder die Eltern gefragt, besonders die Mütter.

WILLY-BRANDT-SCHULE RICHTET "STUDY HALLS" EIN

Die Willy-Brandt-Schule hat jetzt ein Angebot für Schüler geschaffen, die keine digitalen Endgeräte haben, damit nicht umgehen können oder in einer schwierigen häuslichen Situation leben.

Die Styrumer Gesamtschule richtet "Study Halls" ein, das bedeutet: 40 Kinder und Jugendliche kommen an drei Tagen pro Woche in die Schule. Sie werden dort von Sonderpädagogen und anderen Lehrkräften in festen Kleingruppen unterstützt.

"Mit dieser Form von geschützter Präsenz erhoffen wir uns auch, ein wenig mehr Chancengerechtigkeit herzustellen", heißt es in einer Mitteilung von Schulleiterin Karin Rinn.