Mülheim. Die Mülheimer Bürgerinitiativen ziehen mit Spitzenkandidat Lothar Reinhard in die Kommunalwahl. Im Interview bleibt er in der Rolle des Mahners.
Seit mehr als 20 Jahren ist Mitbegründer Lothar Reinhard der Mann an der Spitze der Bürgerinitiativen. Auch jetzt ist er Spitzenkandidat für die Kommunalwahl. Im Interview stellt er klar, warum die MBI sich so wenig kompromissbereit zeigen in ihrer Ratsarbeit.
Herr Reinhard, Ihr Wahlprogramm beginnt mit einem Rückblick, es ist gespickt mit umfassender Kritik an Zurückliegendem. Fällt es Ihnen schwer, nach vorne zu schauen?
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Lothar Reinhard: Nicht grundsätzlich. Viele Probleme hier in Mülheim sind ja Endlos-Probleme, wie etwa der Flughafen. Oder sie werden wieder aufgetischt wie der Acker an der Tinkrathstraße oder das Winkhauser Tal. Von daher ist es immer wichtig, dass man die Entwicklung vorher nicht aus den Augen verliert. Es geht nicht darum, Rückblick zu machen. Der Rückblick am Anfang unseres Programms dient einfach dazu zu zeigen, in welcher Bandbreite wir was getan haben.
Für die Zukunft: Unabhängig davon, dass wir eigentlich ohnehin pleite sind, sage ich, dass wir an strukturellen Reformen ohnehin nicht vorbeikommen. Die Corona-Krise hat das noch einmal verschärft. Etwa die Digitalisierung wird durch diesen radikalen Einschnitt richtig befördert. Da kann man in vielen Punkten einfach nicht so weitermachen. Etwa jetzt noch so eine Matrix zu machen wie zu den Gewerbeflächen.
Es ist ja auch offensichtlich, dass vieles verkehrt gelaufen ist. Wann man das Programm liest, hat man aber doch den Eindruck, dass Sie stark daraus ihre Kraft ziehen, in der Vergangenheit als Mahner aufgetreten zu sein.
Ja, natürlich. Das ist eine wesentliche Funktion, die wir haben. Dass wir als Mahner bei bestimmten Punkten sagen: Das habt ihr bisher schon so gemacht, jetzt kommt nicht mit einer neuen Ausrede für dasselbe.
Sie sind mit 10,1 Prozent 2014 als viertstärkste Fraktion in den Stadtrat gewählt worden. Norbert Striemann hat die Fraktion verlassen und ist zur SPD gewechselt, Hans-Georg Hötger zum BAMH. Woran machen Sie fest, dass die MBI personell stark genug aufgestellt ist für die kommende Ratsperiode?
Weil wir genug Leute haben. Und auch genug Themen.
„Wir sind nicht Fundamental-Opposition“
Wie steht’s nun um Nachwuchs bei den MBI?
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Kevin von der Bey hat sich bei der VHS engagiert. Es waren noch andere dabei, die sich zwischenzeitlich engagiert haben. Dann waren sie, beruflich bedingt, aber weg.
Auch durch die Öffentlichkeitsarbeit kann man den Eindruck gewinnen, die MBI sind zur One-Man-Show des Lothar Reinhard verkommen. Täuscht der Eindruck?
Nicht alles ist von Lothar Reinhard. Je nachdem, was für Sachen anstehen, sprechen wir sie durch – und dann formuliere ich das oder jemand anderes. Nehmen wir mal die BI zum Erhalt der VHS, die ja nun einen langen Kampf machen musste. Die haben wir gegründet, als es um die Ansiedlung die Sparkassen-Akademie ging, weil es die einzige Möglichkeit war, mit einem Bürgerentscheid zu drohen. In den ganzen Jahren kam da ja nicht alles von uns. Bei Treffen spricht man sich ab. Vieles kam von der Initiative, was wir dann übernommen haben. Das ist immer eine Mischung.
Gab es in der Vergangenheit auch Bürgerinitiativen, wo Sie gesagt haben, das ist nicht unser Betätigungsfeld?
Ja, die Initiative „Pro Flughafen“.
Bürgerinitiativen gibt es immer noch zahlreich in dieser Stadt. Ihr enges Verhältnis zu der VHS-Initiative ist bekannt. Die Initiativen gegen die Ausweisung neuer Gewerbeflächen haben sich zuletzt im Bündnis mit den Grünen gezeigt. Drohen die MBI hier an Basis einzubüßen?
Nein. Bis auf das Fulerumer Feld war das Wirtschaftsflächenkonzept ja schon gestorben, als der Dönnebrink [Anm. der Red.: Chef der Wirtschaftsförderung] es rausbringen konnte. Das sind Themen aus der Vergangenheit, da kommt nicht wirklich was Neues. Am Auberg wird kein Gewerbe kommen, im Winkhauser Tal schon gar nicht.
Noch mal: Zuletzt haben sich diese Bürgerinitiativen lieber mit den Grünen präsentiert. Haben Sie als MBI da Boden verloren?
Nicht wirklich. Bevor sich die BI Fulerumer Feld gegründet hat, haben die erst mal hier angerufen. Da haben wir Ihnen zu dem Antrag für die Sondersitzung des Wirtschaftsausschusses im Januar geraten.
Wäre es mehr als 20 Jahre der Ratsarbeit nicht an der Zeit für die MBI, aus der Fundamental-Opposition rauszukommen, um in die Zukunftsgestaltung der Stadt einzusteigen?
Wir sind nicht Fundamental-Opposition, sondern eine ehrliche Opposition mit einer bestimmten, mit einer anderen Linie. Wir schachern nichts aus, um irgendwie noch einen unseriösen Haushalt hinzukriegen. Wir hatten von Anfang an die Linie, die jetzt mittlerweile Allgemeingut bis hin in die CDU ist, dass man eine weitere Flächenversiegelung nicht vorantreiben darf.
Wir haben immer gesagt, dass keine Verkehrswende hinzubekommen ist, wenn man alles in die Außenbereiche ausufern lässt. Deswegen waren wir immer dagegen, wenn die mit irgendwelchen Bauprojekten im Außenbereich gekommen sind. So haben wir die ganzen Jahre versucht zu verhindern, dass nicht überall in den Gewerbegebieten Discounter und Co. angesiedelt werden, weil es für die Stadtentwicklung schädlich ist. Und zum Tengelmann-Gelände: Das ist unser größtes Projekt, das wir haben, nicht der Unfug vom Dönnebrink.
Reinhard: Ausgliederungen, Teilprivatisierungen, ÖPP – das waren alles Fehler
Sie machen Filz, verdeckte Korruption und Selbstherrlichkeit von Verwaltung und Politik verantwortlich für die unzweifelhaft kritische Lage der Stadt. Woran konkret machen Sie das aktuell fest?
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Wir kommen ja in der Haushaltspolitik nicht wirklich weiter. Ich weiß nicht, wie viele neue Stellen pro Woche ausgeschrieben werden. Da heißt es dann immer zum Personalhaushalt: Wir sparen soundsoviel Prozent, haben aber mehr Stellen. Da gibt es lauter solcher Widersprüchlichkeiten. So läuft das eben in einer Ruhrgebietsstadt. Auch eine Fehlentwicklung: die ganzen Ausgliederungen, Teilprivatisierungen und PPP-Geschichten. Der Stadtrat hat dann gar nichts mehr zu sagen. Das führt im Endeffekt zu dieser wahnsinnigen Verschuldung, die eigentlich gesetzeswidrig ist.
Sie sprechen von Filz, verdeckter Korruption und Selbstherrlichkeit von Verwaltung und Politik. . .
Zur Person: Lothar Reinhard
Lothar Reinhard (70) stammt gebürtig aus einem Ort nahe Bernkastel an der Mosel. Er ist verheiratet und hat einen Sohn. Frühpensionär Reinhard war zwischen 1977 und 1994 Lehrer an der Gustav-Heinemann-Gesamtschule. Unterbrochen war diese Zeit von einem fünfjährigen Engagement in Simbabwe, wo Reinhard am Aufbau einer Schule und einer Wasserversorgung mitwirkte.
Reinhards politisches Engagement startete zu Studentenzeiten in der Anti-Atomkraft-Bewegung. 1979 war Reinhard Spitzenkandidat der Mülheimer Grünen bei der Kommunalwahl, die auf Anhieb 4,8 Prozent erreichten. Ende 1999 kam es zum endgültigen Bruch. Reinhard war daraufhin 1999 Mitbegründer der MBI und ist seither deren Fraktionssprecher.
Ja, das hängt doch alles damit zusammen. Fälle von Filz hatten wir eine ganze Serie, die zum größten Teil aus diesen ausgegliederten Gesellschaften kamen, von Bremekamp bis Rinas. Selbstherrlich ist, wie die Verwaltung mit bestimmten Anträgen von uns umgeht. Dann werden sie verschoben und verschoben.
Wir haben etwa schon zwei Jahre vorher gesagt, die Stadt könne die Realschule Broich nicht weiter so gammeln lassen. Da ist erst mal gar nichts passiert. Überhaupt mache ich mir ernsthafte Sorgen um die kommunale Demokratie, die bei vielen Beispielen der letzten Jahre deutlich an Glaubwürdigkeit verloren hat. Um nur zwei Beispiele zu nennen: die „Beförderung“ von Bonan zum ÖPNV-Geschäftsführer und gleichzeitig Mendack als Kämmerer-Nachfolger und die Missachtung des deutlichen VHS-Bürgerentscheids durch Rat und Verwaltung.
Wie müssten Verwaltung und Politik funktionieren, damit Lothar Reinhard sagt: Ja, so ist es gut!
Die müssten seriös und so transparent arbeiten, dass man es nachvollziehen kann. Also nicht so, dass man zu Beginn einer Ratssitzung feststellt, dass ein Grundstück in ganz sensibler Landschaft am Schlippenweg verkauft werden soll und kein Mensch weiß, wer das eigentlich darf… (lacht) Da gibt es ja viele solcher Dilettanten-Geschichten.
Ihr Vorschlag zur Überwindung der Haushaltsmisere ist schon lange eine entschiedene Zusammenarbeit der Ruhrgebietsstädte. Wie stellen Sie sich das vor?
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Dass man Bereich für Bereich durchforstet. Angefangen mit dem ÖPNV, das ist das größte Sorgenkind. Wir kommen an einem Ausbau des ÖPNV nicht vorbei, wenn man eine Verkehrs- und Energiewende will. Die Forderung, dass die Nahverkehrsbetriebe zusammenwachsen, gibt es seit den 60er-Jahren. Da muss die Landesregierung das Heft in die Hand nehmen. Die Fusionierung muss ja nicht sofort für alle Städte sein, aber zumindest für die DEMO-Städte Duisburg, Essen, Mülheim, Oberhausen.
MBI fordern mehr Zusammenarbeit und Zusammenwachsen im Ruhrgebiet
Da dürfte es aber verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung geben, wenn das Land eingreift.
Anders geht es aber nicht. Theoretisch könnte man es ja so machen, dass man sagt: Wenn ihr nicht fusioniert, gibt es kein Geld mehr. Aber man muss auch andere Bereiche anschauen. Wir brauchen nicht auf Dauer eine Mülheimer Stadtmarketing- und Tourismusgesellschaft für die Eigenwerbung von Mülheim, wenn viele Sachen auch in der Region gehen. Dieses Jahr braucht die MST drei Millionen Euro oder vielleicht noch mehr an Zuschuss. Das ist ja gar nicht im Haushalt drin. Das läuft alles über den Schattenhaushalt der Beteiligungsholding.
Auch die Gewerbesteuer ist ein zentraler Punkt. Dafür muss eine regionale Möglichkeit gefunden werden, damit die Ruhrgebietsdörfer nicht länger miteinander konkurrieren. Ein weiterer Punkt ist eine gemeinsame Flächenausweisung. Bisher weisen wir in Mülheim möglichst teures Wohnbauland aus und versuchen, ob wir nicht aus den Nachbarstädten die jungen, finanzkräftigen Familien hierhin locken. Das ist auf Dauer tödlich, weil die Regionalen Grünzüge dabei nicht tabu bleiben.
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Die Roten waren nie ihre Freunde. In mindestens einer Forderung aber sind sie aktuell doch auf Wellenlänge. Die MBI fordern wie SPD und Grüne, die Stadt möge sich den Zugriff auf wichtige Bereiche der Daseinsvorsorge zurückerobern. Was sollte Ihrer Meinung nach geschehen?
Soweit das möglich ist, müssen wir von den zentralen Ver- und Entsorgungsbereichen zurückholen, was zurückzuholen ist – auch um den Haushalt auf Dauer sanieren zu können. Wahrscheinlich wird das RWW das Erste sein. Da muss die Kommune Einfluss haben. Und es bedeutet Einnahmen, die von den eigenen Bürgern kommen. Das Geld fließt aktuell mindestens zur Hälfte woanders hin.
Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass es dafür in der nächsten Ratsperiode eine Gestaltungsmehrheit gibt.
Dann sind wir dabei. So wie wir bei bestimmten ÖPNV-Geschichten auch dabei waren. Nur ist dann die SPD umgekippt.
Reinhard: Anteile am RWW sollte Stadt als Erstes zurückkaufen
Noch mal zur Rekommunalisierung: Wie würden Sie die Finanzierung gestalten wollen?
Bei der Medl hat es ja nicht geklappt. Zumindest sind aber noch ein paar Anteile dazugekauft worden. Da geht aber vorläufig nichts mehr. Zu RWW: Eon wird das Geschäft unter Garantie in nächster Zeit abstoßen wollen, weil es nicht ihr klassisches Geschäft ist. Dann muss man sehen, dass man auf jeden Fall reinkommt, egal ob Vorkaufsrecht oder nicht. Bei den jetzigen Zinsen kann man das über Kredite oder die städtischen RWE-Aktien finanzieren.
Sie fordern „Klimaschutz als oberste Priorität, aber realistisch“. Wie sieht Ihr Klimaschutzprogramm für die Stadt aus?
Wir können hier nicht das Weltklima ändern. Aber wir müssen Klimafolgenanpassung machen. Erstens: die Vorbeugung. Wir müssen die Versiegelung weitestgehend reduzieren, auch Entsiegelungsprogramme machen. Zurück auf den Stand der 90er-Jahre, da gab es solche Programme. Zweitens: die Durchlüftung. Man müsste ein Begrünungsprogramm machen wie in Durban, in New York oder Melbourne. Wir müssen die Innenstadt wieder grüner machen. Drittens Maßnahmen, die dazugehören: eine Verkehrswende sowieso, Gebäudesanierung und anderes.
Millionengrab ist Mülheims ÖPNV. Was wollen die MBI tun?
Das wichtigste Ziel ist, möglichst schnell in die Fusion mit Duisburg und Oberhausen zu kommen und einen gemeinsamen Nahverkehrsplan aufzusetzen. Nicht so, dass die Oberhausener sagen, die 112 fährt alle 15 Minuten, und die Mülheimer, sie fährt alle zehn Minuten. Das kostet unendlich viel Koordinierung und bringt endlos wenig. Ich wohne in Speldorf. Wenn meine Frau samstags in Düsseldorf ab 8 Uhr arbeiten musste, musste ich sie zum Bahnhof fahren, weil die 901 zu der Uhrzeit nur bis zur Stadtgrenze am Zoo fährt. Und in Duisburg am Bahnhof habe ich dann die Mülheimer mitgenommen, die dort auf irgendeinen Nachtexpress gewartet haben, der aber nicht kam. Das ist nur ein simples Beispiel.
Im Nahverkehr fusionieren, um Kosten zu sparen
Was ist Ihre Lösung für die Reduzierung des jährlichen Defizits von weit mehr als 30 Millionen Euro, die der ÖPNV in Mülheim einfährt?
Man spart viele Kosten, wenn man es auf allen möglichen Ebenen, auch im Overhead der Verwaltung, anders organisiert. Das geht natürlich nicht von jetzt auf gleich. Wenn man aber einen gemeinsamen Nahverkehrsplan hat, dann kann man Kosten ganz anders reduzieren über Synergieeffekte. Das ist aber ein schwieriger Prozess, weil wir viel zu lange gewartet haben, um einen gemeinsamen Verkehrsverbund zu schaffen, der nicht nur die Preise bestimmt wie der VRR.
Wir sind am Ende. Hätten Sie noch eine Frage, die Sie sich selbst gern stellen würden?
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Ja, eine Sache ist da noch. Wir haben in Mülheim im Vergleich einen sehr hohen Altersdurchschnitt, aber gleichzeitig wie überall im Ruhrgebiet kräftigen Zuwachs durch Kinder und Jugendliche. Auf diesen demografischen Wandel muss man die Prioritäten setzen. Kitas und Schulen quillen schon über, was machen wir folgend mit den weiterführenden Schulen? Es hätte längst eine Planung geben müssen. Stattdessen wurden Schulgrundstücke veräußert, zuletzt das an der Meißelstraße in Styrum.
Auch das am Blötter Weg in Speldorf ist immer noch für einen Verkauf vorgesehen, obwohl die Schule sicher nicht mehr geschlossen wird, im Gegenteil. Man kommt nicht mehr an einer vierten Gesamtschule vorbei; das ist eine zentrale Forderung von uns. Dafür könnte ich mir das Tengelmann-Gelände vorstellen. Das zweite ist die Weiterbildung: Mit den schweren Einschnitten der Krise, die jetzt kommen, brauchen wir Weiterbildung, auf die die Stadt Zugriff hat. Da ist die VHS ganz zentral.
Sie hatten auch den hohen Altersdurchschnitt genannt.
Da ist eine drängende Frage: Was machen wir mit den vielen alten Menschen, die nicht in ein Heim wollen oder können? Die Einsamkeit vieler alter Menschen ist ein riesen Problem, gerade jetzt in der Corona-Zeit. Das muss ein Schwerpunktthema sein. Vielleicht könnte man da Mülheim mit seinem hohen Altersdurchschnitt zur Modellstadt machen.