Mülheim. . Mülheim hat in großem Tempo Rekordschulden angehäuft. Dabei darf es noch immer als Stadt der Millionäre gelten. Wie konnte es dazu kommen?
Mehr als zwei Milliarden Euro fehlen der Stadt Mülheim. Und heute allein wie jeden Tag werden noch einmal rund 116.000 Euro Schulden hinzukommen. Mülheim hat gar Oberhausen überholt als neue Rekordschuldenstadt in NRW. Selbst bundesweit ist die Stadt auf den vierten Negativplatz gesprintet. Familien stöhnen über hohe Kitabeiträge, Hausbesitzer über eine satte Grundsteuererhöhung, Bahnfahrer über einen dünneren Takt.
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Mülheim? Das war doch mal die „Stadt der Millionäre“, die Heimat von Thyssen, Aldi Süd und Tengelmann. Tatsächlich darf man sich von der ausgebluteten Innenstadt nicht täuschen lassen, die Kaufkraft fließt nur in die Einkaufszentren. Noch immer liegt das Durchschnittseinkommen deutlich über dem Landesschnitt, die Arbeitslosigkeit ist im Reviervergleich niedrig. Beste Voraussetzungen – und doch hat sich Mülheim seit 2002 maßlos übernommen. Wie konnte es soweit kommen? Eine Spurensuche in vier Etappen.
1. Berti Buddel und die Bahn
Auf die Bahn kann man lange warten am Flughafen, die mächtige Luftschiffhalle und das Zirpen des vom Aussterben bedrohten Steinschmätzers im Rücken. Der „Verkehrslandeplatz“ kostet die Stadt zwar jährlich 500.000 Euro, aber diese Verschuldung erklärt es natürlich nicht, wenn 4000 Jahre Flughafenbetrieb hinein passen. Nein, wir sind hier, weil nun ein Bus kommt, anstelle der Bahn, weil man umsteigen muss auf dem Weg in die Innenstadt, seit die Linie 110 stillgelegt ist – wegen maroder Gleise, die die Sicherheit der Fahrgäste bedrohten.
Deutlich über 30 Millionen Euro Miese fahren Bus und vor allem Bahn Jahr um Jahr ein. Wie andere Ruhrstädte leistete sich Mülheim in den 70er Jahren ein teures U-Bahnsystem. Früh wurde klar, dass die Netze der Städte nicht wie geplant zusammenwachsen würden – schon damals explodierten die Kosten. Doch noch 1998 untertunnelte der Bohrer „Berti Buddel“ die Ruhr. Der Abschnitt bekam ein Vierspursystem, damit auch die Bahnen aus Duisburg mit anderer Spurbreite den Tunnel passieren können – seitdem muss Mülheim drei verschiedene Schienensysteme unterhalten.
In der Folge schlampte die Stadt beim Erhalt, weswegen man ab 2015 nachholend massiv investieren musste – und Takte ausdünnen. Während in Herne der Nahverkehr jeden Bürger 61 Euro kostet, ist es in Mülheim das Dreifache (185 Euro) – Spitze im Ruhrgebiet. Immerhin verwarf man vor zwei Jahren den Vorschlag eines Gutachters, den Tunnel der U18 zuzuschütten und sie oberirdisch fahren zu lassen, um Millionen zu sparen.
2. Tricks mit den RWE-Aktien
„Der Hauptfehler ist die Arroganz“, sagt Lothar Reinhard in seinem hoffnungslos verqualmten Büro bei den Mülheimer Bürgerinitiativen (MBI). Für die sitzt er seit Jahrzehnten als Querkopf vom Dienst im Stadtrat. Mülheim sei die Stadt der Ruhrbarone, erklärt er, und die Arroganz bestünde in der Idee, dass sich alles irgendwie regeln ließe. Die Stadtspitze habe den wahren Zustand der Finanzen lange mit Hilfe von Tochtergesellschaften und anderen Tricks verschleiert – und die Bezirksregierung Düsseldorf als Aufsicht habe weggesehen. Zentral sei dabei die Abhängigkeit vom Energieerzeuger RWE.
Rund 8,5 Millionen RWE-Aktien hält die Beteiligungsholding Mülheim (BHM) noch heute, die Stadt ist damit pro Einwohner so stark verbandelt mit dem Konzern wie keine andere Ruhrstadt. In die BHM sind auch Wohnungsgesellschaft, Nahverkehr, Entsorgung, Immobilien und vieles mehr ausgelagert. Die Dividenden der RWE-Aktien finanzierten lange die Defizite dieser Töchter quer. Reinhard kritisiert, dass „der Haushalt damit der demokratischen Kontrolle entzogen war. Die Stadt konnte so viel mehr ausgeben, als erlaubt gewesen wäre. Probleme hat man auflaufen lassen, statt sie zu lösen.“
Tatsächlich hatte Ex-Kämmerer Uwe Bonan über Jahre den Höchstwert der RWE-Aktien von 2007 in seinen Bilanzen verbucht, dem Jahr, in dem Düsseldorf sich durch deren Verkauf schuldenfrei machte. Damals stand die Aktie bei 97,70 Euro. Mülheim hätte damals ebenfalls alle Schulden tilgen und sogar ein Viertel seiner Aktien behalten können. Doch man setzte wie andere Revierstädte auf die Dividende. Der RWE-Kurs ist bekanntlich weiter gefallen auf rund ein Fünftel des Höchstwertes – die Dividende bleibt auch aus. Erst 2014 zwang ein Gesetz Bonan rückwirkend zur Angabe des Realwertes. Mit einem Schlag war Mülheim 468 Millionen Euro ärmer und überschuldet.
Uwe Bonan, Kämmerer von 2005 bis 2016, ist später zum Geschäftsführer der Ruhrbahn aufgestiegen. Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld, in deren Amtszeit (2003-2015) die dramatische Schuldenentwicklung fällt, hat seit 2005 einen Posten im RWE-Aufsichtsrat inne – bis heute.
3. Mieten ist teurer als bauen
Fronten aus Glas, Brücken zwischen den Gebäuden, 19.000 Quadratmeter Gesamtfläche: Die neue Feuerwache von Mülheim lässt keine Wünsche offen – und ist auch für Anleger höchst attraktiv. Die Hannover Leasing, die das Gebäude an die Stadt vermietet, stellt den Anlegern ihres geschlossenen Immobilienfonds eine Gesamtauszahlung von rund 222 Prozent in Aussicht. Ursprünglich sollte die Wache „nur“ 31,6 Millionen kosten, doch nun zahlt Mülheim fast vier Millionen Euro jährlich, Tendenz steigend – 20 Jahre lang. Das Konstrukt „Mieten statt Schulden“ kommt die Stadt am Ende viel teurer, als hätte sie selbst gebaut.
Mülheim zahlt diesen Aufpreis, weil es gar nicht hätte bauen dürfen. Fast alle großen Bauprojekte hat die Stadt über solche „öffentlich-private Partnerschaften“ (ÖPP) finanziert – und so die Finanzaufsicht der Bezirksregierung ausgehebelt. Auch der aktuelle Kämmerer Frank Mendack (SPD) kritisiert, die ÖPP-Projekte seien eine „deutliche Belastung für den städtischen Haushalt“. Allein für die so sanierten Schulen werden jährlich 6,2 Millionen Euro fällig.
Das große Stadtumbauprogramm Ruhrbania ist zwar überwiegend privat finanziert worden. Die Stadt hat jedoch ein großes Immobilienkarussell gestartet, bei dem Teile des Rathauses, Bücherei und Bürgeramt die Standorte wechselten – verbunden mit jeweils teuren ÖPP-Sanierungen. Doch obwohl Ruhrbania das größte Projekt überhaupt war, ist es nie im Haushalt aufgetaucht. „Die Kontrolle fehlte komplett“, sagt Reinhard. „Ruhrbania war ein Katalysator für die weitere extreme Schuldenbildung.“
4. Kaum Personal gespart
Seit diesem Schiebepuzzle ist das Technische Rathaus recht ungewöhnlich untergebracht in einem der vier Wohntürme am Hauptbahnhof. Das alte Rathaus war zu klein geworden. Dies ist der größte Kostenfaktor, den die Stadt selbst beeinflussen kann: das eigene Personal. 183 Millionen Euro sind für 2019 eingeplant plus 15 Millionen für Versorgung – fast ein Viertel des Gesamtetats. Doch gerade hier hat sich Mülheim im Vergleich zu anderen Städten schwer getan. Jeder Mülheimer zahlt rund 1160 Euro im Jahr für das städtische Personal, der Gelsenkirchener nur 837 Euro.
Zehn Jahre habe es gedauert, um eine Einsparung von 16 Millionen Euro zu erzielen, ärgert sich selbst Kämmerer Mendack. Das schlage mit 160 Millionen Euro Schulden zu Buche, die sich die Stadt bei entschiedenerem Handeln hätte ersparen können. Von einer ambitionierteren Einsparung redet Mendack gar nicht erst.
>> Info: Etwa 100 Millionen Euro sind Pflichtaufgaben
Städte haben Pflichtaufgaben, die von Bund oder Land beschlossen werden. Da alle gleichermaßen in der Pflicht sind, können sie keinen Schuldenrekord erklären. Sie lasten dennoch auf dem Etat. Dagegen engagiert sich das NRW-Städtebündnis „Raus aus den Schulden“ – Mülheim ist dabei.
Für Hartz IV bringt Mülheim jährlich 40 Millionen auf – wenig im Reviervergleich, die Arbeitslosenquote beträgt „nur“ 7 Prozent.
Die Kinder- und Jugendhilfe kostet die Stadt im Jahr etwa 30 Millionen Euro.
Beim Asyl trug die Stadt im Schnitt der vergangenen drei Jahre einen Anteil von rund 20,5 Millionen Euro.
Der Solidarpakt Ost schlägt im Schnitt mit etwas über 7 Millionen Euro jährlich zu Buche. Bis Ende 2019 wird Mülheim 193,3 Millionen überwiesen haben.