Gladbeck. Vor 100 Jahren besetzten französische und belgische Soldaten Gladbeck. Die Truppen blieben mehr als zwei Jahre und herrschten mit harter Hand.

Sie zählt zu den dunkelsten Stunden der Stadtgeschichte in Gladbeck: Die Besetzung der Stadt durch französische und belgische Truppen, die genau vor 100 Jahren die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Am 11. Januar 1923 begann – wie im gesamten Ruhrgebiet – der Einmarsch, zunächst von französischen Truppen, die nur wenig später von belgischen Soldaten abgelöst wurden, die teils mit harter Hand herrschten. Die Besatzer sollten mehr als zwei Jahre bis Juli 1925 bleiben und das Stadtleben auf lange Zeit lahmlegen.

Erste französische Einheiten rückten an jenem Januartag, einem Donnerstag, „kriegsmäßig formiert“, so Autor Josef Wolters in einer Analyse, von Horst und Bottrop kommend in die Kohlestadt Gladbeck ein. Etwa 200 Mann waren es am ersten Tag, die zunächst Brauck besetzten und sich auf dem Hof Große-Natrop und in der alten Marienschule einquartierten, wie Heimatforscher Ralph Eberhard Brachthäuser bei einer Recherche herausfand. Tags drauf wurde die gesamte Stadt besetzt und der Belagerungszustand ausgerufen. Anlass für die Besetzung Gladbecks wie des gesamten Ruhrgebietes waren ausbleibende oder unzureichende Reparationszahlungen an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Die Besatzer wollten sich nunmehr schadlos halten, vor allem an den Kohleförderungen und Stahlproduktionen der Revierstädte.

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Protestnote des Rates und Trauerkundgebung auf dem Markt halfen nicht

In voller Montur: Französische Besatzungssoldaten 1923 in Bottrop – ähnlich präsentierten sie sich wohl auch in Gladbeck.
In voller Montur: Französische Besatzungssoldaten 1923 in Bottrop – ähnlich präsentierten sie sich wohl auch in Gladbeck. © Georg Lücker

Die Besatzung brachte „ein Heer von Hemmungen und Drangsalen“ in die Stadt, heißt es in einer historischen Quelle: Die Polizei wurde entwaffnet, Geschäfte geplündert und Gaststätten verwüstet. Die Badeanstalt war nur noch für die Besatzer geöffnet. Sowohl eine Sondersitzung des Rates der Stadt drei Tage später, mit entsprechender Protestnote der Stadtführung, als auch eine Trauerkundgebung am gleichen Tag auf dem Marktplatz halfen nichts. Im Gegenteil: Militärposten stellten Passanten nach, jedermann musste seinen Personalausweis mit sich führen, es kam auch zu körperlichen Schikanen. Was Gladbeck gar international in die Schlagzeilen brachte, wie Wolters bei seinen Recherchen herausfand. „In Gladbeck sind praktisch alle 100 Meter entlang der Straßen Posten aufgestellt, die Passanten aufhalten und misshandeln“, schrieb seinerzeit die britische Zeitung „Daily Herald“. Über das zeitweilig „äußerst brutale Vorgehen der Besatzungssoldaten“ fand auch Brachthäuser zahlreiche Nachweise, drei Gladbecker Bergleute seien gar Opfer „willkürlicher Erschießungen“ geworden.

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Diese äußerst harte Vorgehensweise wird vor allem den belgischen Truppen zugeschrieben, während die französischen Soldaten zuvor als eher konziliant im Umgang mit der Bevölkerung beschrieben werden. In nicht nur einer Quelle wird darüber berichtet, dass ein belgischer Oberst namens Moulin mit einer Reitpeitsche die Passanten vom Bürgersteig trieb, die es wagten, in seine Nähe zu kommen. Moulin, der auch im besagten Daily-Herald-Artikel Erwähnung findet, soll es auch gewesen sein, der die Berginspektion am Bernskamp (heute Musikschule) überfiel und Geld konfiszieren ließ. Auch andernorts wurden die Kassen geplündert, meist zu Lasten der Kumpel und ihrer Familien.

Belgische Truppen quartierten sich in den Gladbecker Schulen ein

Besetzung der Zeche Hugo in Buer 1923 durch französische und belgische Truppen.
Besetzung der Zeche Hugo in Buer 1923 durch französische und belgische Truppen. © WAZ | Repro: Thomas Schmidtke

Die Besatzer beschlagnahmten über Monate acht Schulen, Luther- und Lambertischule sogar bis 1925. Tausende Kinder wurden zur Betreuung ins unbesetzte Gebiet verschickt, Politiker teils verhaftet oder ebenso ins unbesetzte Gebiet ausgewiesen. Unter ihnen Oberbürgermeister Dr. Michael Jovy, der – wie Wolters herausfand – im Nachthemd in seinem Schlafzimmer und im Beisein seiner verschreckten Gattin offenbar frühmorgens am 23. Februar festgenommen wurde – was zu Empörungen bei der Gladbecker Presse führte. Jovy wurde wenig später ausgewiesen, er durfte die Stadt nicht mehr betreten. Erst zehn Monate später konnte er zurückkehren, leitete am 14. Dezember 1923 erstmals wieder eine Ratssitzung.

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Die Lage in der Stadt war bedrückend und die weitere Entwicklung eingeschränkt, wie der ehemalige Stadthistoriker und heutige Erste Beigeordnete Rainer Weichelt in einer Aufarbeitung jener Jahre feststellte. Die Kohleförderung der fünf Zechen wurde – wegen des passiven Widerstands gegen die Besatzer – mehr und mehr eingestellt. Die Besatzer versuchten dennoch so viele Kohlentransporte wie möglich nach Belgien und Frankreich zu schaffen und zwangen prominente Stadtpolitiker, aber auch normale Leute als menschliche Schutzschilde die Züge zu begleiten (sogenannte Geiselfahrten). So sollten Anschläge auf die Züge, etwa Entgleisungen, verhindert werden. Viele Bergleute versuchten dennoch, auch unter Einsatz ihres Lebens, den Abtransport der Kohle zu verhindern.

OB Michael Jovy und Bürgermeister Kappen wurden von den Besatzern verhaftet

Bewachung eines mit Kohlebriketts beladenen Güterzugs durch einen französischen Posten, Ende Januar 1923 in Essen.
Bewachung eines mit Kohlebriketts beladenen Güterzugs durch einen französischen Posten, Ende Januar 1923 in Essen. © Haus der Essener Geschichte / Stadtarchiv Essen | Ruhr Museum

Neben OB Jovy wurde auch Bürgermeister Hermann Kappen verhaftet. Er verbrachte elf Monate im französischen Gefängnis in Zweibrücken, wie Harald Neumann in seinem Buch „Gladbeck“ schreibt. Von der Verwaltungsspitze habe nur der SPD-Beigeordnete Heinrich Krahn bleiben dürfen, dem das Zentrums-Ratsmitglied Franz Riesener, gleichzeitig KAB-Sekretär, als unbesoldeter Beigeordneter zur Seite stand. Auch sämtliche leitende Beamte waren der Stadt verwiesen worden. In den Amtsstuben mussten sich die Bediensteten „ohne Wenn und Aber“ den Anordnungen der Besatzer beugen, heißt es. Die Lokalpresse wurde angewiesen, keine den Truppen abträglichen Artikel zu veröffentlichen. Unterdessen litten die Bürger zunehmend unter den Repressionen und den Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheiten.

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Erst am 18. Juli 1925 sollte die Besatzungszeit enden. Als die fremden Truppen abrückten, bedurfte es „eines erheblichen Aufwands“, wie es heißt, Gebäude zu säubern und Schäden zu beseitigen. „Nun konnte die Stadt zumindest die zweite Hälfte der 1920er Jahre relativ unbelastet von politischen Extremsituationen konstruktiv verbringen“, so Weichelt.

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Mit dem Abzug der Belgier wurde vom 12. bis 19. Juli 1925 nicht nur das Jubiläum der 40-jährigen Selbstständigkeit Gladbecks gefeiert (Gladbeck war seit 1885 Amt, seit 1919 Stadt), sondern auch ein Richtfest für das neue Wittringen: Das Herrenhaus auf der Schlossinsel, das zum Museum umgebaut wurde, nahm trotz der bedrückenden Besatzungszeit Gestalt an – ein erster Blick in die aufregende Zukunft der Stadt in den Goldenen 20er Jahren, die die Bergbaustadt nach den Schreckensjahren der Besetzung städtebaulich, wirtschaftlich und gesellschaftlich deutlich voranbringen sollte.

Zwei neue Bücher zur Ruhrbesatzung

„Ruhrbesetzung 1923 – Ein Jahr spricht für sich“ heißt ein neues Buch aus dem Bottroper Verlag Henselowsky Boschmann, das anlässlich des Jahrestages der Ruhrbesatzung verschiedenste Veröffentlichungen zu dem Thema aus dem gesamten Revier zusammenfasst. Darin ist auch der Aufsatz „Der Oberbürgermeister wurde im Bett verhaftet“ des Gladbecker Journalisten Josef Wolters zu finden, der darin die Geschehnisse von 1923 in Gladbeck zusammenfasst (208 Seiten, 56 Abbildungen von Ansichtskarten, ISBN 978-3-948566-18-0, 19,80 Euro).

Ralph Eberhard Brachthäuser hat unter dem Titel „Der Ruhrkrieg in Gladbeck 1923 – 1925“ die Aufzeichnungen der Gladbecker Zeitung zur französisch-belgischen Besatzungszeit zusammengefasst, illustriert und kommentiert. Das Buch erschein im Februar (ISBN 978-3-9824049-2-9, voraussichtlich 14,80 Euro).

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