Gladbeck. Im November 1922 kaufte Gladbeck das marode Anwesen Haus Wittringen. Erinnerungen an eine entscheidende Weichenstellung der Stadtgeschichte.

Vor genau 100 Jahren, im November 1922, wurden die Grundlagen gelegt für den Umbau und die Neugestaltung des Wittringer Waldes in Gladbeck zur einstigen Volkserholungs- und heutigen Freizeitstätte: Der damalige Besitzer Freiherr Friedrich August von Vittinghoff-Schell verkaufte der Stadt Gladbeck, nicht ganz ohne Druck, das Anwesen Haus Wittringen samt Wald, Freiflächen und den dazugehörigen, meist baufälligen Gebäuden. Der damalige junge Oberbürgermeister Dr. Michael Jovy hatte große Pläne mit dem Areal.

Jovy hatte nichts Geringeres vor, als den riesigen Komplex, der etwa zur Hälfte als ökologisch tot galt, zur Erholungs- und Kulturfläche aus- und wiederaufzubauen: Zur Rettung der Natur, als wichtigen Impuls zur Stadtgestaltung, aber vor allem auch zur Erholung der Menschen in der wachsenden Arbeiterstadt Gladbeck. Jovy erkannte, wie strategisch günstig – stadtnah und auch aus den Ortsteilen leicht erreichbar – eine solche neu gestaltete Nutzfläche lag.

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Der Wittringer Wald und das Haus Wittringen waren in einem erbärmlichen Zustand

Marode und baufällig: Das Anwesen Haus Wittringen war in einem erbärmlichen Zustand, als die Stadt es 1922 übernahm
Marode und baufällig: Das Anwesen Haus Wittringen war in einem erbärmlichen Zustand, als die Stadt es 1922 übernahm © Unbekannt | Stadtarchiv

Der Wittringer Wald war zu jener Zeit als Folge einer ungezügelten Entwässerung der Zechen, insbesondere von Moltke 1/2, aber auch einer unkontrollierten Abwasserentsorgung der jungen Stadt, in einem katastrophalen Zustand. Durch Bergsenkungen hatten die Abwasserbäche, allen voran der Wittringer Mühlenbach, keinen kontrollierten Zugang mehr zur Boye, weite Teile des Geländes in Wittringen hatten sich in gefährlichen Sumpf verwandelt, viele Bäume waren abgestorben.

Morast und Schlamm bildeten Brutstätten für Insekten aller Art, allenthalben wurde die Übertragung gefährlicher Ansteckungskrankheiten befürchtet. Jovy erkannte schnell, dass die Rettung des Wittringer Waldes eine ökologische, aber darüber hinaus auch städtebauliche Notwendigkeit war. Er erreichte alsbald, dass die junge Emschergenossenschaft die Bäche regulierte – und damit auch die Grundlage für die Kanalisation der Stadt schuf. Gleichzeitig begann nach dem Erwerb der Wittringer Ländereien durch die Stadt der Wiederaufbau des Waldes und der Ausbau des Hauses Wittringen.

Der einstige OB Dr. Michael Jovy gab den Anstoß zum Kauf von Wittringen

Ein wunderschönes Kleinod: Schloss Wittringen in Gladbeck, seit bald hundert Jahren ein Magnet für die Menschen im Revier.
Ein wunderschönes Kleinod: Schloss Wittringen in Gladbeck, seit bald hundert Jahren ein Magnet für die Menschen im Revier. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Der junge Jurist Jovy, der noch während des Ersten Weltkriegs am 1. Januar 1918 OB in Gladbeck wurde, hatte nach Ende des Krieges bereits mehrfach den Kauf des Wittringer Waldes angeregt. Doch Freiherr von Vittinghoff-Schell, dessen Familie schon lange nicht mehr in dem heruntergekommenen Haus wohnte, weigerte sich zunächst, sein Anwesen abzutreten, stimmte aber Ende 1922 schließlich doch zu – nachdem ihm die Stadt mit der Enteignung gedroht hatte. Die Stadt kaufte von Vittinghoff-Schell das Areal mit mehr als 110 Hektar Wald und Ländereien samt dem halb verfallenen Haus Wittringen und alter Mühle ab – für 3,75 Millionen Reichsmark. Die Kaufsumme muss allerdings angesichts der aufziehenden massiven Inflation Anfang der 1920er Jahre relativiert betrachtet werden.

Jovy erreichte – neben den Bachregulierungen (auch Haar- und Nattbach wurden zu Abwasser-Sammelbächen umfunktioniert) und dem Wiederaufbau des Waldes im Stil eines englischen Gartens und zur Nutzung als Volkspark – auch eine Sanierung der Schlossteich-Insel mit Neubau des historisierend gebauten Hauses Wittringen – ein schlossähnliches Gebäude im niederrheinischen Renaissancestil, das mit seiner Gastronomie zum Aushängeschild der Gartenstadt werden sollte. Gleichzeitig entstanden die Vestische Kampfbahn (Stadion) und das Freibad – bauliche Zeichen städtischer Entwicklung und seinerzeit schon überregional beachtet. Der Stadt gelang die Realisierung trotz Ruhrbesetzung ab 1923 und Hyper-Inflation in Rekordzeit. Eingeweiht wurde das Ensemble als „Volkserholungsstätte“ unter großer Beteiligung der Bevölkerung bereits im Jahre 1928.

Im einstigen Haus „Waldfriede“ fühlte sich Gladbecks „bessere Gesellschaft“ wohl

Auch Gladbecks „bessere“ Gesellschaft flanierte in den 20er Jahren in Wittringen und kehrte ins Restaurant Waldfriede ein.
Auch Gladbecks „bessere“ Gesellschaft flanierte in den 20er Jahren in Wittringen und kehrte ins Restaurant Waldfriede ein. © WAZ | Ulla Michels

Der Stadtwald galt als wichtiger Baustein der Gartenstadt-Idee, nach der Gladbeck in der Gründerzeit städtebaulich entwickelt und durchgrünt wurde. Er sollte der Gladbecker Bevölkerung, und zwar vor allen Dingen den schwer arbeitenden Bergarbeitern und ihren Familien, die Möglichkeit bieten, „in frischer Luft und schöner Umgebung Erholung zu tanken“, wie es hieß. Aber auch die feinere Gesellschaft Gladbecks nutzte Wittringen zum Flanieren und zur Einkehr – etwa im schon fast vergessenen Lokal Waldfriede, dass an der Bohmertstraße lag, dort, wo heute der große Spielplatz neben dem Tiergehege zu finden ist. Jovy gelang mit der Umsetzung der Gartenstadt-Idee und der Neugestaltung Wittringens auch machtpolitisch ein wichtiger Schritt: Nämlich Gladbeck maßgeblich vom Rathaus aus zu gestalten – statt die Stadtentwicklung, wie lange praktiziert, überwiegend von den Zechendirektoren bestimmen zu lassen.

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Was die neue Volkserholungsstätte anbelangt, so konnten sich die Gladbecker neben der neuen Ausflugsgastronomie mit nachgebautem Schloss und Teichanlagen (64.000 Quadratmeter Wasserfläche mit vier Teichen) schon in jenen Jahren über die ersten Tennisplätze, einen Faustballplatz, Spielwiesen, Spielplatz und die Marathonbahn freuen. Der Kernwald wurde erweitert, 14,5 Kilometer neue Spazierwege wurden angelegt samt „reichlich Bänken zum Ausruhen“. Am Westrand entstanden eine Baumschule und eine Stadtgärtnerei, die die städtischen Anlagen mit Blumen- und Grünschmuck versorgen sollten, wie es damals hieß.

Vestische Kampfbahn und Freibad waren in Gladbeck von Anfang an populär

Unter großer Beteiligung der Bevölkerung wurde 1928 die Volkserholungsstätte Wittringen nach fünf Jahren Um- und Ausbau eingeweiht – hier das Freibad.
Unter großer Beteiligung der Bevölkerung wurde 1928 die Volkserholungsstätte Wittringen nach fünf Jahren Um- und Ausbau eingeweiht – hier das Freibad. © Unbekannt | VON STAEGMANN, LutzFFS

Der Stadtpark sollte aber auch kulturell das Leben fördern: Das einstige Herrenhaus von 1640 wurde stilgerecht instand gesetzt und als Heimatmuseum eingerichtet. Auch der Gildensaal im „Schloss“ (das als Schloss-Nachbau und in seiner Funktion eher ein Bürgerhaus war) diente der „Verbesserung des Lebensstils“ in der aufstrebenden Bergarbeiterstadt. Auf der Freilicht-Waldbühne, die einst mitten im Wald zwischen Schloss und Bauer Wilms lag, frönten die Gladbecker sommertags dem Theater- und Konzertleben. Infolge starker Bergsenkungen verschwand die Waldbühne viele Jahre später. Insgesamt, so konstatieren Stadthistoriker, war der Stadtwald mit einer volksnahen (heute würde man sagen: bürgernahen) Einrichtungen nach sechs Jahren Bauzeit ein regelrechtes Aushängeschild der Gartenstadt Gladbeck.

Heute gilt Wittringen als Juwel, als Meisterleistung der Stadtplanung und Gartenbaukunst in Gladbeck, ein Park, der schon immer, und heute mehr denn je, überregionale Anerkennung genießt: Mit dem Wittringer Wald bewiesen die damaligen Stadtväter Weitsicht, da diese Grünfläche von Anfang an nicht nur zum Flanieren und Wohlergehen, sondern auch als Sport-, Kultur- und Freizeitstätte angelegt wurde – und die sich nun schon seit 100 Jahren als solche bewährt.

Die Geschichte reicht bis 1263 zurück

Die Ursprünge Wittringens reichen mit einer ersten urkundlichen Erwähnung bis ins 13. Jahrhundert zurück: 1263 wird in alten Dokumenten ein Dominus Ludolfus de Witteringe als Besitzer genannt. Das Anwesen wechselte bis zum Erwerb durch die Stadt mehrfach den adeligen Besitzer.Eine erste Anlage im Westknie des Mühlenbaches (auf der kleineren von zwei Inseln, der heutigen Vogelinsel) könnte eine Motte, ein in Holzbauweise errichteter befestigter Burgtyp (Turmhügelbau) gewesen sein. Nachfolger war eine steinerne Burganlage, in deren Oberburg die Wohnung des Burgherren lag. Eine Pfahlrostverbindung diente wahrscheinlich als Brücke über den Mühlenbach zum „Festland“.Nach Zerstörungen der Burg 1642 im Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) und einem allgemeinen Trend von der bewehrten zur offenen Wohnweise, wurde auf der größeren der Mühlenbach-Inseln, die bis dahin als Vorburg diente, ab 1650 ein neues zweistöckiges Fachwerkgebäude als Herrenhaus gebaut.Zuletzt wohnten dort zunächst der Rentmeister als Verwalter, danach der Förster der letzten Besitzerfamilie Vittinghoff-Schell. Zum Anwesen gehörten ein Mühle, Wirtschaftsgebäude und ein Torhaus mit Backsteinbrücke (1706 erneuert). 1761 kam ein Pächterhaus hinzu. Die Gebäude verfielen im 19. Jahrhundert zusehends.