Es ist der 31. März, Ostersamstag. Gegen 7 Uhr am Morgen fahren zwei französische Militärkommandos am Krupp-Werksgelände in der Altendorfer Straße in Essen vor. Die Soldaten sollen hier mehrere Fahrzeuge beschlagnahmen. Aufgebrachte Krupp-Arbeiter empfangen die Vertreter der Ruhr-Besatzungsmacht, schnell kommen Tausende zusammen. Augenzeugen berichten später, dass die Arbeiter vaterländische Lieder anstimmen und wütend Hämmer, Spaten und Rohre schwingen. Dann verlieren die Franzosen wohl die Nerven – sie eröffnen das Feuer auf die Arbeiter. 13 Männer sterben, viele werden schwer verletzt. Dieser Tag, der als „Essener Blutsamstag“ in die Geschichte einging, bildete den traurigen Höhepunkt der Ruhrbesetzung Anfang 1923 (siehe Chronik in nebenstehendem Kasten).

Protestwelle im ganzen Land

Französischer Posten vor dem besetzten Hauptpostamt in Essen 1923.
Französischer Posten vor dem besetzten Hauptpostamt in Essen 1923. © epd | akg-images

Die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen als Folge des Streits um die Reparationszahlungen, die Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg an die Siegermächte zahlen musste, bildete gleichsam den Auftakt zu einem dramatischen Jahr, dessen Ereignisse die noch junge Weimarer Republik insgesamt an den Rand des Zusammenbruchs brachte. „Dass der Weimarer Staat diese Krise überhaupt überstand, ist bemerkenswert“, schreibt der Historiker Peter Longerich in seinem neuen Buch „Außer Kontrolle – Deutschland 1923“. Er sieht in den Verwerfungen und Krisen jenes Jahres bereits den Keim der verhängnisvollen Saat, die zehn Jahre später Adolf Hitler und die Nazis an die Macht bringen sollte. Ganz Deutschland wurde nach der Besetzung des Ruhrgebiets von einer Protestwelle erfasst. Sämtliche Reparationslieferungen wurden eingestellt und die Beamten vor Ort angewiesen, jede Zusammenarbeit mit den Besatzern zu vermeiden. Der volkswirtschaftliche Gesamtschaden der Ruhrbesetzung war enorm – er belief sich auf 3,5 bis vier Milliarden Mark. Die durch Zinszahlung und Schuldentilgung für die Reparationszahlungen bereits höchst angespannte Haushaltslage des Reiches wurde durch die Produktions- und Steuerausfälle im Ruhrgebiet noch einmal verschärft.

Spaltung der Gesellschaft

Immer öfter warf deshalb die Regierung die Notenpresse an. Aus der ohnehin hohen Inflation wurde so im Sommer 1923 eine Hyperinflation: In Berlin kostete im September ein Laib Brot 10,37 Millionen Mark; ein Kilo Rindfleisch wurde für 76 Millionen Mark verkauft. Longerich: „Preise wurden mehrfach am Tag festgesetzt, Lohngelder wurden waschkörbeweise von den Banken abgeholt und mussten wegen des rapiden Preisverfalls sofort, für was auch immer, ausgegeben werden.“

Es war unausweichlich, dass diese wirtschaftliche und finanzielle Notlage Auswirkungen haben würde auf die gesellschaftliche Lage insgesamt in der Republik. Laut Historiker Longerich hatte die Inflation „tiefgreifende mentale wie sozialpsychologische Folgen“, ihre Auswirkungen „trieben die Spaltung der Gesellschaft weiter voran und erschütterten letztlich die Grundlagen des Zusammenlebens.“

Extreme Rechte sammelt sich in Bayern

Die Spaltung der Gesellschaft führt zu einem Erstarken der extremistischen Kräfte auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Als im Oktober in Sachsen eine Koalitionsregierung aus SPD und KPD gebildet wird, sieht sich die Reichsregierung in Berlin von einem kommunistischen Umsturzversuch bedroht. Auf Weisung von Reichswehrminister Geßler rücken Reichswehrtruppen in Sachsen ein. In Hamburg wird ein kommunistischer Aufstand unter Führung von Ernst Thälmann von der Polizei blutig niedergeschlagen. Reichswehrtruppen rücken in Thüringen ein – wie in Sachsen hatte die KPD dort zum Widerstand gegen die Reichsregierung aufgerufen. In Aachen rufen Separatisten eine unabhängige Rheinische Republik aus.

Putschversuch der NSDAP in München am 8./9. November 1923.
Putschversuch der NSDAP in München am 8./9. November 1923. © picture-alliance / akg-images | akg-images

Die extreme Rechte sammelt sich unterdessen vor allem in Bayern. Es hagelt Proteste gegen die Vorgänge vor allem in Sachsen und Thüringen. Zum Showdown kommt es am 8. und 9. November 1923: Adolf Hitler verkündet im Münchener Bürgerbräukeller die „nationale Revolution“, erklärt die bayerische Regierung kurzerhand für abgesetzt und proklamiert den „Marsch auf Berlin“. Doch es kommt anders: Die Landespolizei schlägt an der Münchener Feldherrnhalle den Putsch gewaltsam nieder. Die NSDAP wird verboten, Hitler am 11. November verhaftet. „Mit dem Scheitern des Putsches, das stellte sich rasch heraus, hatten sich aber auch alle übrigen Staatsstreich- und Diktaturpläne erledigt“, schreibt Peter Longerich. Dem Konflikt zwischen Bayern und dem Reich „war die gefährliche Spitze genommen worden“, und mit Ausgabe der wertbeständigen Rentenmark eine Woche später kam die Inflation zu einem Ende. Und weiter: „Damit waren wesentliche Faktoren, die für den Ausbruch der Krise im Spätsommer und Herbst 1923 verantwortlich gewesen waren, zur Seite geräumt, und die gesamte Entwicklung lief auf eine Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse hinaus.“ Zumindest fürs erste.

Trügerische Erleichterung

Was also bleibt als Lehre aus dem Krisenjahr 1923? Autor Longerich bilanziert, „dass die Auflösung der Krise und die Stabilisierung 1923/24 kaum eines dieser strukturellen Probleme beseitigte“, mit den denen die Weimarer Republik zu kämpfen hatte: Abkehr einer Mehrheit der Bürger von den demokratischen Parteien, Schwächung des Parlaments, die immer deutlicher werdende ungleiche Verteilung der Kriegskosten, die Spaltung der Gesellschaft mit der Stärkung des gewaltbereiten Extremismus von rechts und links, die Ablehnung des Versailler Friedensvertrags und der politische Wille zu dessen (gewaltsamer) Revision.

Dazu Longerich: „Die allgemeine Erleichterung, die nach der Krise mit der scheinbaren Rückkehr zur Normalität einkehrt, lenkt von dem Weiterexistieren der eigentlichen Krisenursachen ab und führt zu einer Stabilitätsillusion.“ Nur wenige Jahre später sollten sich die nicht gelösten oder nur eingedämmten strukturellen Probleme zu neuen, gravierenden Konflikten auftürmen. „Was 1923 nicht gelungen war“, so Longerich, „nämlich ein tragfähiges und dauerhaftes Bündnis von Rechtsextremisten und Rechtskonservativen zu bilden, bahnte sich seit 1930/1931 an und führte schließlich zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Die Diktatur, die 1923 durch das eigenständige Vorgehen der Rechtsextremisten im letzten Moment verhindert worden war, wurde zehn Jahre später Wirklichkeit.“

Der Ruhrkampf - die Chronologie

•10. Januar: Belgien und Frankreich informieren das Deutsche Reich offiziell von der beabsichtigten Ruhrbesetzung. Damit sollen die Kohlelieferungen gesichert werden.
•11. Januar: Französische und belgische Truppen marschieren in das Ruhrgebiet ein.
•12. Januar: Die Reichsregierung stellt alle Reparationslieferungen an Frankreich und Belgien ein.
•13. Januar: Reichskanzler Wilhelm Cuno verkündet den „passiven Widerstand“ gegen die Besatzungstruppen.
•15. Januar: Französische Truppen besetzen Bochum, Witten, Recklinghausen und Dortmund.
•24. Januar: Wegen der Weigerung, Kohle zu liefern, werden der Zechenbesitzer Fritz Thyssen und weitere Industrielle vom französischen Kriegsgericht zu Geldstrafen verurteilt.
•8. Februar: Der passive Widerstand heizt die Inflation an. Die Tagesproduktion der deutschen Notenpresse wird von 45 Milliarden auf 75 Milliarden bis Ende des Monats gesteigert.
•1. März: Die Besatzungsmächte drohen die Todesstrafe für Sabotageakte und passiven Widerstand beim Eisenbahntransport an.
•31. März: Französische Soldaten erschießen im Essener Krupp-Werk 13 Menschen, die gegen die Beschlagnahmung von werkseigenen Kraftwagen protestieren („Essener Blutbad“).
•7. April: In Essen verhaftet die französische Militärpolizei den ehemaligen Freikorpsoffizier Albert Leo Schlageter wegen Beteiligung an einem Sprengstoffanschlag auf die Bahnstrecke Dortmund-Duisburg. Durch einen Sabotageakt auf den Rhein-Herne-Kanal wird der Abtransport von Kohle beträchtlich erschwert.
•30. April: Eine französische Untersuchung des „Essener Blutbads“ kommt zum Ergebnis, dass die französischen Truppen aus Notwehr handelten, als sie auf die Krupp-Arbeiter schossen.
•26. Mai: Der von einem französischen Kriegstribunal wegen Geheimbündelei und Spionage zum Tode verurteilte Schlageter wird hingerichtet. Dies löst große Proteste aus.
•29. Mai: Ein Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet wird nach neun Tagen beendet. Hunderttausende Arbeiter erreichten so eine 50-prozentige Lohnerhöhung als Inflationsausgleich.
•11. Juli: Die Reichsregierung veröffentlicht eine Bilanz der Ruhrbesetzung: 80.000 französische und 7000 belgische Soldaten sind stationiert, 92 Menschen wurden bisher getötet, mehr als 70.000 ausgewiesen.
• 8. August: Reichskanzler Cuno bekennt sich trotz wachsender Kritik zum passiven Widerstand. Am 12. August tritt er zurück, Nachfolger wird Gustav Stresemann.
•21. September: Im besetzten Rheinland beginnt die Rheinlandkommission mit der Ausgabe von Notgeld.
•26. September: Stresemann verkündet den Abbruch des passiven Widerstands und die Wiederaufnahme von Reparationslieferungen.

Peter Longerich: Außer Kontrolle – Deutschland 1923. Molden Verlag, 320 Seiten, ca 33 Euro.

Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.