Essen. Seit Jahren leben fast ein Drittel der Essener Kinder von Sozialleistungen. Dezernent Muchtar Al Ghusain über den zähen Kampf gegen Kinderarmut.
Zwei Millionen Jungen und Mädchen leben bundesweit in Armut, jedes fünfte Kind also. Die Lage könne sich angesichts steigender Lebenshaltungskosten bald weiter verschärfen, warnt die Organisation „Save the Children Deutschland“ in ihrem aktuellen Bericht. Das Ruhrgebiet sei dabei das Armenhaus der Republik, sagt Armutsforscher Prof. Christoph Butterwege. Das gilt auch für Essen, wo knapp 31 Prozent der unter 18-Jährigen Sozialleistungen nach SGB-II beziehen. Eine Katastrophe, mit der sich die Stadt arrangiert hat? „Wir kämpfen jeden Tag“, widerspricht Jugenddezernent Muchtar Al Ghusain.
Das Arsenal der Stadt reicht vom Babybesuchsdienst bis zum Rucksackprogramm, die Einsatzkräfte sind in Kitas, Schulen, Vereinen unterwegs, bieten Sprach-, Sport- oder Musikkurse an. In vielen Schulen bereiten Ehrenamtliche den Kindern morgens ein kostenloses Frühstück und helfen nachmittags bei den Hausaufgaben. Bildung soll verhindern, dass das Leben in Sozialhilfe vererbt wird. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Im Jahr 2005 bezogen 26 Prozent der Kinder in Essen Sozialleistungen, bis 2017 stieg die Quote auf fast 34 Prozent.
Essen sieht sich immer neuen Herausforderungen ausgesetzt
Seither hat sich der Wert zwar nur leicht gebessert, doch Al Ghusain ist zuversichtlich, „dass wir den Turnaround eingeleitet haben“. Der Dezernent bestreitet, dass all die Anstrengungen von Stadt und Wohlfahrtspflege wirkungslos verpuffen. „Das Phänomen ist vielmehr, dass die Zahl der Maßnahmen zugenommen hat – die Herausforderungen aber eben auch.“ Das liege nicht zuletzt am „enormen Zuzug“, den die Stadt nicht nur um das Jahr 2015 erlebt hat, sondern mit Ausbruch des Ukraine-Kriegs im vergangenen Jahr mit neuer Wucht.
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Schon wegen des (zunächst) fehlenden Zugangs zum Arbeitsmarkt sind Zuwanderer eher von Armut betroffen: Bei den nicht-deutschen Kindern und Jugendlichen liegt die SGB-II-Quote mit 61 Prozent doppelt so hoch wie bei den Deutschen. „Ich denke aber, dass die Integration heute schneller gelingt. Schon weil wir wissen, dass Sprache der Schlüssel für alles weitere ist.“ Umso ärgerlicher sei es, wenn der Bund die Mittel für ein Erfolgsmodell wie die Sprach-Kitas auslaufen lasse.
Dezernent würde die Kita gern kostenlos anbieten
Er wünsche sich mehr Regelangebote und weniger befristete Projekte, sagt Al Ghusain. Es sei absurd, wenn Corona-Hilfen endeten, obwohl viele Kinder weiter unter den Folgen von Kita- und Schulschließungen leiden. Immer wieder neue Fördertöpfe anzuzapfen, neue Anträge zu stellen, „bindet vor Ort viele Kräfte“. Dabei sei klar, dass die Stadt den Kampf gegen Kinderarmut ohne Unterstützung von Land und Bund nicht gewinnen könne.
Manches, was sich reichere Kommunen leisten können, ist in Essen bestenfalls Zukunftsmusik: „Wir hätten gern die Mittel, die Kitas kostenlos zu machen.“ Weil dann mehr Kinder gut gerüstet in die Schule kommen – und weil auch ihre Eltern profitieren. Kitas seien Ankerpunkte für die ganze Familie: In Elterncafés und Familienzentren gebe es Austausch, Lebenshilfe, Perspektiven. Aber: „Erst kommt der Kita-Ausbau, dann können wir über Beitragsfreiheit nachdenken.“ Nebenbei sind Kitaplätze auch Voraussetzung, damit mehr Alleinerziehende arbeiten gehen können: 17 Prozent der SGB II-Bezieher in Essen sind alleinerziehende Mütter oder Väter.
Kita-Ausbau wird durch steigende Baukosten und fehlende Erzieherinnen erschwert
6000 Kitaplätze habe man in den vergangenen Jahren geschaffen, die angepeilte Quote für Kinder unter drei Jahren sei bald erreicht. Doch selbst wenn alles nach Plan laufe, fehlen am Ende des nächsten Kita-Jahres noch immer 1000 Plätze. Steigende Baukosten und fehlende Erzieherinnen erschweren den Ausbau zusätzlich, sagt Al Ghusain. „Es gibt in anderen Städten schon neue Kitas, die nicht an den Start gehen, weil Fachkräfte fehlen.“
Umso weniger könne man sich noch leisten, dass Jugendliche nach der Schule im Nichts landen: Darum beteilige sich Essen an der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“. Auch Betriebe zwinge der Fachkräftemangel zum Umdenken: „Die können nicht mehr einfach sagen, ein Jugendlicher sei halt nicht ausbildungsbereit.“
Um auch die Schulen in schwierigerem Umfeld zu stärken, wolle das Land zusätzliche Lehrkräfte nach Sozialindex verteilen – so man sie denn findet. Davon solle der Norden der Stadt profitieren, der einkommensschwächer und kinderreicher ist: So sind in Vogelheim und Katernberg um die 21 Prozent der Bewohner Kinder und Jugendliche – in Rüttenscheid sind es nur zwölf, in Werden 13 Prozent.
Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um Wertschätzung
Die Stadt trage dem bereits Rechnung mit Projekten wie der Junior-Uni in Altenessen oder den vier Familiengrundschulzentren, die etwa im Steeler Rott oder im Bergmannsfeld angesiedelt sind. Al Ghusain verspricht: „Bis 2030 wird die Schullandschaft völlig anders aussehen.“
Wie wirksam die einzelnen Investitionen in Steine und Menschen sind, lasse sich schwer messen, räumt er ein. Doch wie sähe es wohl ohne die zahllosen Anstrengungen aus. „Wir sollten nicht nur die Defizite sehen, sondern daran arbeiten, dass die Menschen die Zuversicht nicht verlieren.“ Kinderarmut sei nicht rein materiell. Es gehe auch um fehlende Anregung, persönliche Beziehungen, um Wertschätzung. „Jedes Kind, das an einem Tag einmal lächelt, hat etwas gewonnen.“