Gelsenkirchen. Viele Kinder in NRW sind armutsgefährdet – besonders in Gelsenkirchen. Zur NRW-Wahl hat Sozialarbeiter Erkan Öztürk eine klare Forderung
Noch liegen die frisch aufgepusteten Luftballons unberührt auf dem Boden, Stühle stehen sorgsam in einer Reihe und die aufgestellte Leinwand ist noch weiß. Im Jugendtreff „Ücky“ im Gelsenkirchener Stadtteil Ückendorf bereitet Erkan Öztürk, Leiter der mobilen Jugendarbeit Gelsenkirchen, alles für einen Kinotag vor. Viel Zeit bleibt ihm mit Blick auf die Uhr nicht mehr. „Gleich kommen die ersten Kinder zum Frühstück.“
Im Ücky nehmen die Kinder an Ferien- und Freizeitprogrammen teil, sie essen gemeinsam oder machen Hausaufgaben. Viele von ihnen wohnen in sozialen Brennpunkten und sind von Armut betroffen – und das gilt in Gelsenkirchen für eine besonders große Gruppe von Minderjährigen. 42 Prozent der Kinder in Gelsenkirchen sind laut NRW-Sozialbericht armutsgefährdet. Ein trauriger Negativrekord in NRW. Laut Bertelsmann-Stiftung leben knapp 40 Prozent der Minderjährigen in Hartz-IV-Familien.
Rund 23 Prozent der Minderjährigen in NRW sind von Armut bedroht
Auch landesweit ist die Zahl der Kinder, die von Armut bedroht sind, zuletzt wieder gestiegen. 2022 waren rund 23 Prozent der Minderjährigen in NRW armutsgefährdet – mehr als im Bundesdurchschnitt. Das heißt, diese Kinder leben in Familien, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens des Landes beträgt. Arm gelten sie oft dann, wenn sie in einem Haushalt mit Hartz-IV-Bezug leben.
Tagtäglich erlebt Erkan Öztürk, was es für die Kinder bedeutet, arm zu sein. Jedes Kind, das hier auf einem der vielen bunt gerahmten Fotos an der Wand hängt, habe seine Erfahrung damit gemacht. „Die Kinder und Jugendlichen haben kein Geld für viele Hobbys, mal eben so ins Kino gehen oder in den Ferien Urlaub machen“, sagt der 43-Jährige. „Deshalb hängen viele von auf der Straße rum und wissen nichts, mit sich anzufangen. Hier im Ücky können sie sich auspowern und kreativ werden.“
Öztürk weiß, wovon er spricht. Er selbst ist im Gelsenkirchener Stadtteil Feldmark aufgewachsen und bezeichnet sich als einen „Jungen der Straße“. Dort habe Armut und Kriminalität geherrscht, Öztürk spricht von einem Drogen-Milieu. Als Jugendlicher schloss er sich der Hip-Hop-Szene an, wo es vorrangig um Talent, Kunst und Kreativität gegangen sei. „Ich wollte nie so sein, wie die Leute in der Umgebung. Da wo ich herkomme, haben die Kinder kein Taschengeld bekommen und auch nie den Umgang damit gelernt. Meist lungerten sie auf der Straße rum.“
Forderung an die Landesregierung: „Wir brauchen mehr Personal in der Jugendhilfe“
Halt habe Öztürk in einem Jugendzentrum gefunden. „Ich weiß noch, wie unsere Augen leuchteten, als wir dort einen Ball bekommen haben, mit dem wir kicken konnten.“ Jetzt wolle er den Kindern Chancen geben, die er früher nicht hatte, sagt der Sozialarbeiter, der nebenbei auch Deeskalationstrainings anbietet.
Im aktuellen Landtagswahlkampf setzen die Parteien vorrangig auf Kernthemen wie Bildung, Digitalisierung oder Pflege. Öztürk geht das nicht weit genug: gerade im sozialen Bereich sieht er an vielen Stellen Nachbesserungsbedarf und nennt das Dringlichste zuerst: „Das Hauptproblem im Bereich der sozialen Arbeit ist der Personalmangel“, sagt Öztürk. „Die Landesregierung müsste viel mehr Gelder zur Verfügung stellen, um weitere Stellen zu schaffen.“ Jugendhilfe ist zwar eine kommunale Aufgabe, das Land unterstützt und fördert sie aber finanziell.
Mehr Sozialarbeit, kostenfreies Essen oder günstige Kulturangebote
Er nennt eine ganze Reihe von Ansatzpunkten, um Kinder aus Brennpunkten mehr zu unterstützen, will selbst ein Kurzfilmprojekt umsetzen und die Eltern stärker einbinden. „Das schaffe ich nicht allein.“ Von der Landtagswahl erhofft er sich deshalb eine Regierung, die die Probleme in der sozialen Arbeit erkennt.
WAZ Wo Kinderarmut besonders hoch istViele Sozialverbände setzen auf das Konzept der Kindergrundsicherung, mit dem Kinder von Sozialhilfeempfängern finanziell abgesichert werden sollen. Die Ampelkoalition in Berlin will das durchsetzen.
In NRW sehen die Parteien weitere Anknüpfungspunkte. Die Grünen setzen sich für mehr Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in Brennpunkten ein. Die SPD möchte jedem von Armut betroffenem Kind ein kostenfreies Mittagessen ermöglichen. Die FDP will außerhalb der Schulzeit Gelder für Ferienfreizeiten bereitstellen, während die CDU einen Familienpass in NRW einführen möchte, bei dem Hartz-IV-Familien einen kostenlosen oder kostengünstigen Eintritt in öffentliche Einrichtungen wie Museen oder Schwimmbäder erhalten.
Sozialarbeiter: Es fehlt nicht nur am Geld. Kinder leiden auch unter emotionaler Armut
Erkan Öztürk hält den Familienpass für eine gute Idee, „allerdings braucht es Vorbilder, die die Kinder an Kunst und Kultur heranführen. Und da kommt dann wieder das fehlende Personal ins Spiel.“ Zudem brauche es Gelder für die Ausstattung von Jugendzentren. Was er sich als erstes kaufen würde? Eine Einbauküche fürs Ücky. „Das gemeinsame Kochen könnte mich auch mit den Eltern in Kontakt bringen“, glaubt Öztürk.
Öztürk bemerkt auch, dass das Fehlen von Geld nicht das einzige Problem für viele der Kinder ist. Es gebe auch vermehrt solche, die unter „emotionaler Armut“ litten, sagt er. „Vielen fehlt es an Wärme.“ Und der Möglichkeit, den Tag zu verarbeiten. Deshalb frage er seine Schützlinge immer, ob sie über ihre Erlebnisse sprechen möchten.
Dass er die Kinder im Viertel erreichen und sie unterstützen kann, davon ist Öztürk überzeugt. Er erzählt, dass er Arabisch gelernt habe, weil viele von ihnen arabischstämmig sind. „Als ich ihnen mein arabisches Buch gezeigt habe, haben sie mir ihr traditionelles Essen mitgebracht“, berichtet er von der Anerkennung der Jugendlichen. Wie zum Beweis zeigt er auf einen Stapel bunter Tupperdosen – allesamt inzwischen leer gegessen.
>>> DIE WAZ-WAHLFAHRT UND WER DAHINTER STECKT
Über 13 Millionen Menschen sind bei der Landtagswahl am 15. Mai dazu aufgerufen, ihre Stimme für den nächsten NRW-Landtag abzugeben. Welche Themen sind den Menschen in NRW wichtig, welche Probleme müssten aus ihrer Sicht zuerst von der nächsten Landesregierung angepackt werden?
Darüber spricht WAZ-Volontärin Laura Lindemann (26) mit Menschen aus der Region für eine Social-Media-Serie „WAZ-Wahlfahrt“. Lindemann fährt dazu mit dem Zug durch verschiedene Städte des Ruhrgebiets. Sie spricht unter anderem mit einer Pflegekraft über den Personalmangel, mit einem Oberhausener Händler über verödete Innenstädte und mit einem Pendler über seinen Stau-Frust.
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