Essen. Rund 15 Monate lang schlossen Schulen wegen Corona ganz oder teilweise. Viele Kinder leiden bis heute, sagen Psychologen und Bildungsforscher.

Essener Schulpsychologen spüren die Folgen der wochenlangen Schließungen und Teilschließungen von Schulen und Kitas während der Corona-Pandemie noch immer. Die Zahl der Anfragen wegen Verhaltensauffälligkeiten und psychischer Probleme von Kindern sei weiterhin deutlich höher als vor der Pandemie, berichtet Hubertina Falkenhagen, Leiterin der regionalen Schulberatungsstelle der Stadt Essen. Dort sind Psychologen beschäftigt, die erste Ansprechpartner für Schulen im gesamten Stadtgebiet sind.

Genau vor drei Jahren, am Freitag, 13. März 2020, wurde in NRW die erste von mehreren Schließungen der Kitas und Schulen angekündigt. Von März 2020 bis zum Mai 2021 – also 15 Monate minus Ferien – waren Kitas und Schulen in Essen über Wochen und Monate geschlossen oder im sogenannten „Wechselunterricht“, bei dem die Kinder und Jugendlichen meistens nur an jedem zweiten Tag vor Ort in den Unterricht kamen. Die verbindliche Maskenpflicht an den Essener Schulen endete erst im Herbst 2022, zuletzt fiel jetzt im Februar die Maskenpflicht in Bus und Bahn.

Schulschließungen: Viele hatten zu wenig Kontakt zu Gleichaltrigen

„Viele Schülerinnen und Schüler hatten während der Schulschließungen zu wenig Kontakt mit Gleichaltrigen. Man merkt es jetzt, verkürzt gesagt, durch etwas grobes Verhalten“, sagt Hubertina Falkenhagen. „Es fehlen Entwicklungen der Motorik und der sozialen Kompetenzen, wie zum Beispiel der angemessenen Kontaktaufnahme. Das bedeutet, dass es in den Unterrichtsstunden oder auf dem Schulhof schneller zu Konflikten kommt.“

Das bestätigt die Leiterin einer Grundschule im Essener Norden: Bei den derzeitigen Erst- und Zweitklässlern, die keine durchgehende Betreuung in den Kindertagesstätten hatten, falle auf, dass sie häufig ungeduldiger seien, zum Beispiel bei Spielen. Auch sogenannte „basale Kompetenzen“ wie das Halten eines Stiftes oder der Umgang mit der Schere falle manche von ihnen schwerer.

Folgen: Sprachprobleme, depressive Verstimmungen

Hubertina Falkenhagen ergänzt: „Während der Kita-Schließungszeiten seien Entwicklungen ins Stocken geraten – dazu zählt auch die Sprache. Manche Kinder haben zu Hause deutlich weniger Anregungen bekommen als in Betreuungseinrichtungen.“ Eine andere Beobachtung hat die Schulleiterin im Essener Norden zuletzt während einer Klassenfahrt des dritten Jahrgangs gemacht: „Vielen fehlt Selbstständigkeit - man merkt, dass sie während der Corona-Jahre stärker von den Eltern behütet wurden.“

Die Schulpsychologinnen und -psychologen stellten fest, dass es – verstärkt durch die Corona-Jahre – eine „Vielzahl von Belastungsreaktionen“ gebe, so Hubertina Falkenhagen. „Einige Kinder und Jugendliche reagieren mit Aggression, andere mit Rückzug und depressivem Verhalten.“ Die Kinder würden an den Lasten, die Corona den Familien aufbürdete, schwer tragen. „Wir hören oft, dass Familien durch Corona in ökonomische Notlagen gekommen sind, und auch die psychische Belastung durch beengte Wohnverhältnisse kommt zum Tragen.“

Schulen bieten für manche Kinder die einzigen echten Beziehungspersonen

Und nach den Corona-Phasen? „Die Schulen haben noch stärker wichtige Aufgaben übernommen“, sagt die Schulpsychologin. Dazu zähle vor allem der Faktor Beziehung. Lehrerinnen, Lehrer oder Sozialpädagogen stellten oft die verbindlichsten Bindungspersonen dar. Für diese Beziehungsarbeit und das soziale Lernen, die heilende Wirkung haben könnten, benötigten die Schulen vor allem Zeit außerdem halb des regulären Fachunterrichts.

Noch während der akuten Spätphase der Corona-Pandemie, im Februar 2021, hatten Essener Kinderärzte Alarm geschlagen angesichts der früh sichtbaren Folgen der Schul- und Kitaschließungen. Gewichtszunahme, psychosomatische Beschwerden und Angststörungen seien bei den jungen Patienten viel häufiger sichtbar als vor Corona.

Bildungsforscher sehen deutschlandweit alarmierende Entwicklungen

Die Erfahrungen in Essen decken sich mit alarmierenden Studien von Bildungsexperten, die deutschlandweit sogar eine Rückbildung der Intelligenz von Kindern und Jugendlichen befürchten und den breiten „Lernverlust“ in der Corona-Zeit für nicht mehr aufholbar halten. Das gelte zumal unter den prekären Bedingungen des deutschen Bildungssystems mit seiner Personalknappheit und Infrastrukturmängeln.

Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen etwa stellte im Jahr 2022 fest, dass die Kompetenzen von Viertklässlern gegenüber dem 2016 weiter deutlich zurückgegangen seien. „Viertklässler können schlechter lesen und rechnen“, heißt es. Das habe zwar nicht nur mit den Schulschließungen während der Pandemie zu tun, diese hätten den Trend allerdings verschärft.