Essen. Immer mehr Mütter und Väter beantragen eine Kur. Doch viele Kliniken sind mindestens ein Jahr im Voraus ausgebucht. Das hat gravierende Folgen.
Immer mehr Mütter und Väter sind derart erschöpft, dass sie dringend eine Kur benötigen. Die Krankenkassen bestätigen auf Anfrage dieser Zeitung, dass die Anzahl der Anträge für eine Mutter/Vater-Kind-Kur deutlich steigt. Doch die vorhandenen Plätze reichen nicht. Die Erholungsbedürftigen müssen lange Wartezeiten in Kauf nehmen, bis sie endlich ihre Kur antreten können. Mütter oder Väter mit nur einem Kind haben es dabei besonders schwer. Hier sind die Antworten auf die wichtigsten Fragen:
Wie hoch ist die Nachfrage nach einer Mutter-Kind-Kur?
Seit dem Jahr 2021 beobachtet die BARMER bundesweit, dass mehr und mehr Ärzte Eltern eine Kur verordnen: Damals gab es 20 Prozent mehr Anträge als 2020. Im Jahr 2022 waren es noch einmal 23 Prozent mehr als im Vorjahr. Ein Jahr später gab es eine weitere Steigerung von 17 Prozent.
Auch die AOK bestätigt, dass die Nachfrage nach der Corona-Pandemie deutlich angestiegen ist. Zum Vergleich: 2019 beantragten im Landesteil Westfalen-Lippe 4669 AOK-Versicherte die Kur mit ihrem Nachwuchs. Im Jahr 2023 waren es rund 60 Prozent mehr: 7548 Anträge. Der Trend setzt sich fort: Auch im ersten Halbjahr dieses Jahres haben schon 3787 eine Mutter/Vater-Kind-Kur beantragt.
„Wir stehen im Moment vor einer unerwartet hohen Nachfrage“, sagt auch Verena Ising-Volmer, Sprecherin des Fachausschusses Müttergenesung der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrt in NRW. Das Müttergenesungswerk ist mit 72 Kliniken bundesweit der größte Anbieter von Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen für Mütter, Väter und pflegende Angehörige. Rund 50.000 Plätze kann es pro Jahr anbieten, andere Träger von Mutter/Vater-Kind-Kliniken kommen zusammen ungefähr auf noch mal so viele Plätze. Aber diese Plätze deutschlandweit reichen nicht. In der aktuell verfügbaren Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit wird das Jahr 2022 beleuchtet: Danach wurden in dem Jahr rund 180.000 Mutter/Vater-Kind-Kuren beantragt.
Im Datenreport des Müttergenesungswerks für dasselbe Jahr wird ebenfalls ein erhöhter Beratungsbedarf gesehen bei „sehr erschöpften Müttern und Vätern“. Auch eine zunehmende Zahl an Privatversicherten lasse sich beraten, zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer. Viele Anträge seien dabei erfolgreich: „Die Zahl der Ablehnungen durch die Krankenversicherungen ist weiterhin sinkend und liegt inzwischen bei 7 Prozent.“
Wie lange müssen Mütter und Väter heute auf eine Kur warten?
Eine Mutter/Vater-Kind-Kur soll eigentlich zeitnah angetreten werden, innerhalb von sechs Monaten nach der Bewilligung. Doch aufgrund der hohen Nachfrage wurde der Zeitraum geändert. Auf Anfrage bestätigten AOK, Barmer und Techniker, dass ihre Versicherten nun zwölf Monate Zeit haben, ihre Kur anzutreten. Aber auch dieser Zeitraum scheint nicht auszureichen: „Wir können bestätigen, dass viele Kliniken 18 Monate im Voraus ausgebucht sind“, sagt Ising-Volmer. „Es sind nur noch sehr wenige Kliniken, die unter einem Jahr Plätze zur Verfügung stellen.“
Was sind die Gründe dafür, dass die Nachfrage das Angebot übersteigt?
Die befragten Krankenkassen AOK, Barmer und Techniker sehen einen Grund für den Anstieg in der Corona-Pandemie. Zeitweise gab es deswegen überhaupt keine Mutter-Kind-Kuren, dann nur in geringer Anzahl aufgrund der Schutzverordnungen und Hygienekonzepte. Als Eltern wieder wie gewohnt die Kur antreten konnten, waren die Wartelisten lang. Zudem stellte die Pandemie-Zeit mit Kita- und Schulschließungen sowie geschlossenen Spielplätzen eine besondere Belastung für die Familien dar.
Doch das allein erklärt nicht den massiven Anstieg an Anträgen für eine Mutter/Vater-Kind-Kur. „Der Anstieg ist größer als der Nachholeffekt“, sagt Tobias Klingen, Landespressesprecher der Barmer in NRW. Und auch Verena Ising-Volmer bestätigt, dass die hohe Nachfrage nicht allein auf die Pandemie zurückzuführen ist.
Es gebe zurzeit immer mehr Mütter und auch Kinder, die mit psychosozialen Diagnosen in den Kliniken aufgenommen werden, so die 60-Jährige: „Die Gründe haben wir nicht explizit erhoben. Aber sie liegen vermutlich an den allgemeinen krisenhaften Entwicklungen, die wir zurzeit erleben.“ Dabei denkt die Expertin der Müttergenesung an die Nachwirkungen der Corona-Pandemie, an die zunehmende Unsicherheit in der Weltordnung, die Auswirkungen der Kriege. Aber auch die für Familien spürbare Inflation spiele eine Rolle. „Und womöglich liegt es auch an der Doppelbelastung vieler Familien durch Erwerbstätigkeit und Sorgearbeit für ihre Kinder. Zudem finden sie keinen Wohnraum. Es fehlen Kita-Plätze oder sie erleben eine unzuverlässige Kinderbetreuung.“ All das mache Eltern kurbedürftig.
Ist der Anstieg der Kur-Anträge darauf zurückzuführen, dass mehr Väter eine Kur machen wollen?
„Wir erleben, dass die Nachfrage nach Vater-Kind-Kuren leicht zunimmt“, sagt Verena Ising-Volmer. Aber: „Sie können nicht davon ausgehen, dass Väter den Müttern die Plätze wegnehmen.“ Sie hat den Eindruck, dass es weiterhin ein Akzeptanzproblem gibt, bei den Arbeitgebern oder auch bei den Vätern. „Es nehmen immer noch sehr viel weniger Väter als Mütter die Kurmaßnahmen in Anspruch.“
Welche Gründe gibt es sonst für die Entwicklung? Liegt auch hier ein Fachkräftemangel vor oder gar ein Krankenhaussterben?
„Der Träger, die AWO OWL, hat in NRW kürzlich eine Mutter-Kind-Klinik geschlossen, aber das ist ein Einzelfall“, sagt Verena Ising-Volmer vom Müttergenesungswerk. Es handelt sich dabei um die Klinik Schanzenberg in Horn-Bad Meinberg. Die AWO habe keinen neuen Träger für die Klinik gefunden, daher sei nur noch die Schließung möglich gewesen. Aber: „Es gibt kein Kliniksterben.“ Das Angebot der Plätze sei weitgehend gleichgeblieben. „Es ist so, dass immer mehr Familien kurbedürftig sind und ihre Anträge stellen.“ Ein Fachkräftemangel an den Kurkliniken könne ebenfalls nicht der Grund für die Entwicklung sein. „Wir spüren das auch, dass Stellen nicht mehr so nachbesetzt werden können, wie wir das gewohnt sind, aber wir müssen nicht schließen, wir können immer diese Engpässe überbrücken.“
Haben es Mütter oder Väter mit nur einem Kind besonders schwer, einen Kurplatz zu finden?
Mütter – oder auch Väter – mit lediglich einem Kind hören häufiger von den Kliniken, dass sie ausgebucht sind, wie eine Betroffene erzählt. „Wir können aus unseren Erfahrungen heraus nicht bestätigen, dass bei der AOK Nord-West versicherte Mütter mit nur einem Kind es besonders schwer hätten, einen Vorsorgeplatz zu finden“, so Pressesprecher Jens Kuschel aus Hagen. Anders sieht es Verena Ising-Volmer vom Müttergenesungswerk: „Die Kliniken sind tendenziell für Familien mit mehreren Kindern eingerichtet, haben nicht so viele Plätze für Familien mit einem Kind.“ In den Kliniken gibt es oft Apartments mit Betten für zwei oder drei Kinder. „Wenn die Klinik solch ein Apartment einer Mutter mit einem Kind gibt, bleibt mindestens ein Platz nicht belegt und somit unbezahlt.“ Auch ist die Kinderbetreuung darauf ausgelegt, dass das Haus möglichst voll besetzt ist. „Deswegen kommen Mütter mit einem Kind so schlecht zum Zuge.“
Zugleich gibt es aber immer mehr Mütter in Deutschland, die nur ein Kind haben. Verena Ising-Volmer: „Das ändert sich gerade in der Gesellschaft und die Kliniklandschaft hat sich noch nicht mitentwickelt und die Finanzierung, die man dafür braucht.“
Welche Auswirkungen gibt es, wenn Mütter und Väter ein Jahr und länger auf eine Kur warten?
„Das ist nicht sinnvoll“, betont Verena Ising-Volmer. Denn wenn die Kur aufgeschoben werde, verschlechtere sich auch die gesundheitliche Situation der Eltern. „Bei Mutter-Kind-Kuren geht es zentral um die Mutter. Die Kinder sind in der Regel Begleitkinder. Es gibt auch Therapiekinder, die in einem gewissen Rahmen gesundheitsbezogene Therapien bekommen können. Aber es geht in erster Linie um die erschöpften Mütter, bei denen der Akku leer ist, die sich auch mal um sich selber und um ihre Gesundheit kümmern müssen.“ In der Klinik sollen sie ihre eigene Situation reflektieren und dann gestärkt in den Alltag gehen. Stattdessen würden psychische und physische Probleme durch die lange Wartezeit womöglich noch schlimmer. Sie befürchtet, dass bei Betroffenen eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt wird, „so könnte zum Beispiel aus einer Niedergeschlagenheit eine Depression entstehen oder aus einer momentanen Überlastung ein Burnout“.
Was können kurbedürftige Mütter und Väter tun, um die lange Wartezeit zu überbrücken?
Die Krankenkassen verweisen auf ihre eigenen Gesundheitsangebote für die Versicherten an ihren Heimatorten. Zudem werden Selbsthilfegruppen, Online-Kurse, Programme der Sportvereine oder Kurse bei der VHS genannt. Verena Ising-Volmer vom Müttergenesungswerk lobt die Angebote der Krankenkassen, sieht die Empfehlung, vor Ort Hilfe zu suchen, aber skeptisch: „Dort hat man natürlich nie dieses kompakte Angebot, wie man es bei der Vorsorge oder Reha hat.“ Außerdem könnten die Mütter und Väter im Rahmen einer Kur Abstand von zu Hause gewinnen und sich drei Wochen fast ausschließlich um ihre Gesundheit kümmern. „Das ist etwas anderes.“
Wie könnte das Problem mit der steigenden Nachfrage nach Mutter-Kind-Kuren gelöst werden?
Mehr Plätze in Kurkliniken wäre für Verena Ising-Volmer von der katholischen Arbeitsgemeinschaft für Müttergenesung die dauerhafte Lösung. Doch dafür würden schlicht die Gelder fehlen. „Die Träger der Kliniken melden uns zurück, dass die Finanzierung nicht ausreichend sei, um damit eine Platzerweiterung vorzunehmen.“ Die Gelder würden überwiegend in notwendige Instandhaltungsmaßnahmen fließen. Die Kliniken leben von der Vergütung durch die Krankenkassen. Eine ergänzende Baufinanzierung vom Land wie bei den Akutkliniken gebe es bei den Kurkliniken nicht, so Ising-Volmer. Allerdings bekamen sie bisher Baufördermittel vom Bundesministerium für Familie: Im Jahr sind das knapp sechs Millionen Euro für 72 Kliniken im Verbund des Müttergenesungswerks. „Das reicht nicht, um ausreichende Neuinvestitionen bewerkstelligen zu können.“
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