Essen. Bei einer Essenerin wird ein seltener Tumor entdeckt. Wie Essener Experten ihr halfen und Radfahrer die Forschung voranbringen

  • Ein Sarkom ist ein bösartiger Tumor. Die Krebsart ist sehr selten, Forschungsgelder und auch Aufmerksamkeit für diese Erkrankung sind rar.
  • In Essen fahren deshalb seit fast zwei Jahrzehnten Radler um den Baldeneysee, um Spenden für die Forschung zu sammeln. Am Samstag, 24. August, findet die nächste Sarkomtour statt.
  • Das Beispiel einer jungen Essenerin zeigt, wieso die Forschung so wichtig ist.

Es fing nach dem Joggen an. Schon vor Jahren schmerzte Georgina Weiss die linke Wade so sehr, dass sie zum Orthopäden ging. Der verschrieb ihr Einlagen für die Schuhe und die junge Frau machte weiter, wie gehabt. Bis es 2023 nicht mehr ging: Nach einem Training im Fitnessstudio wurden die Schmerzen so stark, dass der Orthopäde die damals 29-Jährige gleich weiter verwies. MRT, Biopsie und am Ende kam der Anruf aus dem Essener Universitätsklinikum.

In der Wade des linken Beins sei ein Sarkom, ein bösartiger Tumor, über Jahre so sehr um Knochen und Muskelgewebe gewachsen, dass es operativ nicht mehr zu entfernen sei. Der Mediziner riet der Essenerin zur Amputation, bevor der zehn Zentimeter große Tumor streut. Sie sollte ihr Bein teilweise verlieren, mit 29 Jahren. Georgina Weiss schüttelt noch heute energisch mit dem Kopf: „Das wollte ich nicht akzeptieren.“

Essener Sarkomzentrum gehört zu führenden Einrichtungen in Europa

Kein Jahr nach diesem Anruf im Herbst 2023 sitzt die junge Frau mit langem, gewelltem Haar in einem schicken Einteiler im Westdeutschen Tumorzentrum (WTZ) der Uniklinik. An ihrem Stuhl lehnt eine Gehhilfe, zur Begrüßung steht sie nicht auf. Aber man sieht es trotzdem unter dem Tisch, das linke Bein. Es ist noch da. Und Weiss lächelt, wenn auch müde.

Foto: Socrates Tassos / FUNKE Foto Services

„Ich bin kein anderer Mensch mit dieser Diagnose. Ich bin immer noch ich.“

Georgina Weiss

Ihr gegenüber sitzt der Mann, der das zusammen mit seinem Team möglich gemacht hat: Prof. Sebastian Bauer ist der Leitende Arzt des Sarkomzentrums am Westdeutschen Tumorzentrum. Es ist das größte Zentrum in Deutschland und eine der führenden Einrichtungen Europas zur Erforschung und Behandlung von Sarkomen, einer äußerst seltenen Krebsart. „Gerade einmal ein Prozent der Krebs-Neuerkrankungen in Deutschland gehen auf Sarkome zurück“, sagt der Onkologe Bauer. Der Medizin seien heute rund 150 Unterarten bekannt – manche davon sind so selten, dass sie selbst Spezialisten zum ersten Mal unterkommen. „Das ist die Herausforderung in der Sarkomforschung. Im Prinzip muss jede Unterart anders behandelt werden“, so der Professor für Translationale Onkologie. „Forschung und Vernetzung der Forschenden weltweit ist unglaublich wichtig, um Menschen helfen zu können.“

Radtour soll Sarkomforschung unterstützen

Das Problem: Gelder und Aufmerksamkeit für seltene Erkrankungen sind häufig rar. Vor knapp zwei Jahrzehnten hat der 50-jährige Mediziner deshalb eine Radtour ins Leben gerufen, um beides zu ändern: Bei der „Sarkomtour“ sollen sich Patientinnen und Patienten vernetzen und Spendengelder gesammelt werden, um die Sarkomforschung voranzutreiben. Am Samstag, 24. August, findet die nächste Ausgabe dieser Essener Radtour statt. Georgina Weiss will dort sein und wirbt ein stückweit mit ihrer Geschichte für diese Veranstaltung.

Radfahren für die Sarkomforschung

Pro Jahr erkranken schätzungsweise 6000 Menschen an einem Sarkom. Die bösartigen Tumoren können überall im Körper auftreten, vermehrt aber in Armen und Beinen. Etwa 85 Prozent der Neuerkrankungen tauchen im Weichgewebe auf, etwa 15 Prozent in den Knochen. Zu den Ursachen weiß man inzwischen, dass erbliche Faktoren bei der Entstehung eine Rolle spielen und zudem Menschen mit anderen Krebserkrankungen vorbelastet sind. In sehr seltenen Fällen könne eine Strahlentherapie Sarkome auslösen, so Sebastian Bauer, leitender Arzt des Essener Sarkomzentrums. Bei ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen am Westdeutschen Tumorzentrum werden im Monat etwa 300 neue Patientinnen und Patienten vorstellig.

Die Erkennung von Sarkomen ist gerade in den Praxen vor Ort oft schwierig: Sarkome fühlen sich wie Knoten im Gewebe an, doch längst nicht jeder Knoten im Körper ist gefährlich. Aufmerksam müsse man werden, wenn sie eine gewisse Größe haben und wachsen, sagt Bauer. „Alles, was größer als ein Golfball ist und wächst, sollte abgeklärt werden.“

Aufmerksamkeit und Spenden für die Forschung soll die Sarkomtour bringen, die am Samstag, 24. August, am Baldeneysee in Essen stattfinden soll. Radler suchen sich Sponsoren für jeden gefahrenen Kilometer und tragen so zur Sarkomforschung bei. Es gibt auch die Möglichkeit, eine eigene Tour zugunsten der Sarkomforschung auf die Beine zu stellen. Die Sarkomtour ist die größte Veranstaltung der Stiftung Universitätsmedizin Essen. Bislang sind rund 700.000 Euro gesammelt worden. Anmeldung und Info unter: www.sarkomtour.de

Die Essenerin erkrankt in einer Lebensphase an Krebs, in der man eigentlich so richtig loslegen möchte: Sie hat in England und China die Universität besucht, dann in Deutschland Medizin studiert. Erst kurz vor der Diagnose hat sie den Arbeitgeber gewechselt und ihre Weiterbildung zur Labormedizinerin begonnen. Zum ersten MRT-Termin kommt ihr Freund mit. „Alle fingen an zu weinen“, erinnert sie sich. „Meine Eltern haben sofort herumtelefoniert, um an Informationen und Hilfe zu kommen.“ Sie selbst habe vieles weggeschoben. „Ich habe vieles nicht wahrhaben wollen.“

Äußerst seltene Tumor-Art: Nur eine Handvoll Erkrankungen in Europa

Sarkome entstehen vor allem am Weichgewebe, aber auch an den Knochen. Sie können überall im Körper auftreten, werden aber besonders häufig an den Armen und Beinen gefunden. In der Regel verursachen diese Tumoren keine Schmerzen. Dass es im Fall von Georgina Weiss anders war, liegt nach Einschätzung der Fachleute an der schieren Größe des Tumors. Bauer zeigt Aufnahmen, auf denen das erkrankte Bein fast doppelt so dick ist wie ein gesundes. Das „spindelzellige“ Sarkom mit besonderer genetischer Veränderung, unter der gerade einmal eine Handvoll Menschen in Europa leiden, hatte Muskelgewebe und Knochen umschlossen.

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Weil die damals 29-Jährige eine Amputation ablehnte, die Zeit aber so sehr drängte, versuchten die onkologischen Fachleute, das Sarkom gezielt anzugreifen. Dabei griffen sie auf ein Verfahren zurück, bei dem vereinfacht gesagt das Bein vom Blutkreislauf des restlichen Körpers zeitweise abgekoppelt wird. Es wurde dann gezielt mit sehr starken Medikamenten durchspült, die das Wachstum der Krebszellen hemmen sollten. Sieben Stunden dauerte die Operation. Weiss erinnert sich an die starken Schmerzmittel und daran, wie sie danach das Laufen wieder lernen musste. Trotzdem: Der Tumor war nicht geschrumpft.

Sarkomforscher entdecken seltene Genmutation: Drei Tabletten am Tag, sieben Monate lang

Und er wäre es auch nicht, wären Untersuchungen von Sebastian Bauer und seinem Team nicht auf eine weitere Besonderheit an dem eh schon sehr seltenen Sarkom gestoßen. Sie erkannten eine molekulare Genmutation, bei der der Körper vereinfacht gesagt ein fehlerhaftes Eiweiß bildet, das unkontrolliert aktiv ist und für die Entstehung eines Tumors verantwortlich ist. Diese molekulare Veränderung wird bei gerade einmal 0,3 Prozent aller Krebserkrankungen beobachtet.  

Das Gute an der Diagnose: Nun gab es einen neuen Plan. Bauer konnte auf ein Medikament zurückgreifen, das die Mutation blockierte. Jeden Tag nahm seine Patientin drei Tabletten, sieben Monate lang. Über Nebenwirkungen will die inzwischen 30 Jahre alte Essenerin heute kaum sprechen. Sie sieht den Erfolg: Der Tumor ist fast weg. Strahlentherapie hilft, ihn gänzlich einzudämmen. „Wir sind noch nicht am Ende des Wegs“, sagt ihr behandelnder Arzt Sebastian Bauer, aber er ist guter Dinge.

Der Patientin selbst ist es heute ein Anliegen, über Krebs zu sprechen. Sie erinnert sich noch gut an Fremde, die sie auf der Straße auf ihre Krücken ansprachen. Statt Zuspruch zu erfahren in einer Phase, in der sie für ihre Gesundheit kämpfte, erlebte sie, wie Menschen verschreckt und entschuldigend den Blick abwendeten. „Später habe ich dann gesagt, dass ich mir den Knöchel verstaut habe, weil mir das einfacher schien“, sagt die heute 30-Jährige. „Wenn man jemanden nach seiner Erkrankung fragt, sollte man auf die Antwort vorbereitet sein.“ Krebs sei eine Erkrankung wie andere auch, wenn auch eine schwere, an der Menschen sterben können, man müsse darüber sprechen können. „Ich bin kein anderer Mensch mit dieser Diagnose. Ich bin immer noch ich.“

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