Essen. WAZ und „yeswecan!cer“ luden ein, Mediziner beantworteten Leser-Fragen zum komplexen Thema „Präzisionsonkologie“ bei Brust- und Lungenkrebs.
„Man fühlt sich wie ein Alien mit so einer Erkrankung“, sagte Lungenkrebs-Patientin Julia Mittelstaedt im WAZ-Gespräch. „Du bist nicht allein mit deinem Krebs“, war die Botschaft, die am Mittwoch auf der „YES!CON“-Spezial zur „Präzisionsonkologie bei Lungen- und Brustkrebs“ im Deichmann-Auditorium der Essener Uniklinik vermittelt wurde. WAZ und die Patientenorganisation „yeswecan!cer“ hatten eingeladen.
Die knapp fünfstündige Informationsveranstaltung, die als Live-Stream auch auf allen Portalen der Funke-Mediengruppe übertragen wurde, gliederte sich in zwei Blöcke: Zu den beiden Themenkomplexen „Lungenkrebs“ und „Brustkrebs“ hielten drei Top-Mediziner und eine Top-Medizinerin der Essener Universitätsmedizin Kurzvorträge und beantworteten dann Fragen aus dem Publikum. Längst nicht alle Fragen konnten beantwortet werden, so groß war das Interesse der Gäste vor Ort und im Internet. Die wichtigsten Punkte:
Lungenkrebs: Wenn die Operation unumgänglich ist…
... ist das oft gar nicht so ein großer Eingriff, wie viele Patienten fürchten. 2300 OPs werden jährlich in der Essener Ruhrlandklinik durchgeführt, die Operation ist bei Lungenkrebs noch immer das Mittel der ersten Wahl. „Aber 1200 unserer 2300 OPs sind minimal-invasive, oft Roboter-assistierte endoskopische Eingriffe“, erklärte Prof. Servet Bölükbas, seit Juli Direktor der Klinik für Thoraxchirurgie. Früher mussten Chirurgen für eine „Lobektomie“, die Entfernung eines Lungenlappens, den Brustkorb des Patienten öffnen, bei „Schlüsselloch-Operationen“ reichen ihnen dazu zwei, drei kleine Schnitte. Und das bedeute, so Bölükbas: weniger Schmerzen, kaum Blutverlust, kürzere Klinikaufenthalte, schnellere Rekonvaleszenz „und viel weniger Patienten, die sterben“. Unter bestimmten Umständen sei für eine solche OP nicht einmal eine Vollnarkose erforderlich.
Können das alle Onkologen im Land?
„Leider Gottes nein“, antwortete Bölükbas auf die Frage eines Zuschauers. Robotische Eingriffe könnten allerdings auch nicht alle Kliniken anbieten, „so ein DaVinci kostet zwischen 1,7 und zwei Millionen Euro.“
Warum ihr Brustkorb sich nach der Entfernung eines Teils der Lunge nun anfühle, als ob sie ständig einen zu engen BH trage, wollte eine andere Betroffene wissen. Weil durch die OP ein Hohlraum im Körper entstanden sei, erklärte der Arzt. „Das geht nicht wieder ganz weg, aber der Körper gewöhnt sich daran“.
Warum so viele Menschen an Lungenkrebs sterben…
Lungenkrebs ist eine der häufigsten und tödlichsten Krebsarten; die Menschen, die in einem Jahr neu mit der Diagnose konfrontiert werden, füllten das Gelsenkirchener Veltins-Stadion mit seinen 60.000 Plätze, erläuterte Bölükbas: „Und am Ende des Jahres sind die Reihen dann fast leer…“ 44.786 Betroffene starben 2020 – so viele wie an Pankreas-, Magen- und Brustkrebs zusammen. Das habe damit zu tun, das Lungentumore zunächst kaum Beschwerden machen, bei 45 Prozent der Patienten wird die Erkrankung erst erkannt, wenn die sie bereits weit fortgeschritten ist, im Stadium IV.
… Und wie man das ändern kann
Ein flächendeckendes „Lungenscreening“ sei eine große Chance, sagt Bölükbas. Kollegen in Holland und Belgien hätten gesunde 50- bis 75-Jährige aus Lungenkrebs-Risikogruppen im Rahmen einer Studie untersucht: 40 Prozent der Tumoren wurden dabei schon im Stadium I entdeckt. In Deutschland sind es nur 20 Prozent. Das Sterblichkeitsrisiko sei so um 24 Prozent, bei Frauen sogar um 33 Prozent gesunken.
Präzisionsmedikamente für Schwerkranke
52 Prozent der Lungentumoren haben bereits gestreut, wenn sie diagnostiziert werden. „Und denen kann man mit einer Operation nicht unbedingt helfen“, erklärte Prof. Martin Schuler, Direktor der Inneren Klinik (Tumorforschung) am Westdeutschen Tumorzentrum. Sie bräuchten Präzisionsmedikamente, die nicht lokal, sondern im gesamten Körper wirkten. Kernelement dieser „Präzisions- oder personalisierten Medizin“ sei die Erstellung eines individuellen Tumorprofils. Dazu wird in der Regel eine kleine Gewebeprobe aus dem Tumor entnommen und dessen DNA im Labor auf relevante Genveränderungen hin untersucht. Aus diesem „Tumorprofiling“ wird die effizienteste Therapie abgeleitet. Die Behandlung von nicht heilbarem Lungenkrebs, vor allem die des nicht kleinzelligen Adenokarzinoms habe das „revolutioniert“, behauptete Schuler – und belegte seine These mit eindrucksvollen Beispielen aus der eigenen Praxis.
Wer braucht ein Tumorprofiling?
Bei gestreuten Lungenkarzinomen sei eine umfassende molekularpathologische Diagnostik heute „Standard“, bei jedem nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom sei sie zwingend erforderlich. „Wer sie nicht bekommt, wird nicht zeitgemäß behandelt!“ Auch Schuler riet Betroffenen dringend dazu, ein spezialisiertes Spitzenzentrum wie die Essener Uniklinik oder ein von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifiziertes Zentrum aufzusuchen, „auch wenn der Weg dahin vielleicht etwas weiter ist“.
Ist Deutschland zu zögerlich bei der Medikamenten-Zulassung?
Die USA sind „davongaloppiert“, entgegnete Schuler auf diese Frage. „Und sie mussten manches später wieder zurücknehmen.“ Deutschland sei „das großzügigste Land“: Alles, was zugelassen sei, werde in unserem Gesundheitssystem auch bezahlt. Die Kosten für Molekulardiagnostik bei Lungenkrebs lägen bei 1500 bis 2000 Euro, die für eine Monatspackung zielgerichtet wirkender Tabletten bei 11.000.
Brustkrebs: Was wichtig ist
Brustkrebs ist häufig, aber „kein Notfall“, erklärte Privatdozent Oliver Hoffmann, leitender Oberarzt der Frauenklinik in Essen, zu Beginn des zweiten Themenblocks. Jede achte Frau erkranke im Laufe ihres Lebens einmal daran, 70.000 (und 700 Männer) seien es jährlich. Seine jüngste Patientin war 16, seine älteste fast 100. Die Überlebenschancen bei Brustkrebs hätten sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, fünf Jahre nach der Diagnose lebten heute noch acht von zehn Frauen – und nach zehn Jahren noch sieben. Neben den drei „klassischen Therapiesäulen“ OP, Bestrahlung und Krebsmedikamente würden inzwischen immer häufiger zielgerichtete Therapien helfen, etwa sog. Antikörper. Auch dafür ist eine Tumortestung im Vorfeld nötig.
Ist Brustkrebs immer erblich bedingt?
Nur in fünf bis zehn Prozent aller Fälle, erklärte Hoffmann, „anders, als mancher denkt“. Woran insbesondere die Schauspielerin Angelina Jolie „schuld“ sei, die sich als gesunde Frau prophylaktisch Brüste und Eierstock entfernen ließ, nachdem sie als BRAC1/2-Mutationsträgerin identifiziert worden war. Diese Form von Brustkrebs ist erblich. Wenn in der Familie auffallend viele Krebsfälle vorlägen, riet der Arzt, ließe sich anhand von Checklisten klären, ob eine molekulargenetische Untersuchung sinnvoll sei.
Muss die Brust immer ab?
85 Prozent der Patientinnen würden heute „nach vernünftiger Diagnostik“ brusterhaltend operiert – „und für die anderen gibt es viele Möglichkeiten“. Noch in der OP, bei der die Brust entfernt werde, könne diese mit Eigengewebe oder Implantaten gleich wieder aufgebaut werden; Brustwarzen ließen sich dabei auftätowieren. „Oft entfernen wir auch nur in der Tiefe das Drüsengewebe, dann bleibt der Hautmantel erhalten – und man sieht es hinterher fast gar nicht.“
Warum Versuchskaninchen länger leben
Hoffmann nutzte, wie zuvor schon Prof. Schuler, die Gelegenheit, um für die Teilnahme an wissenschaftlichen Studien zu werben. „Nicht nur zertifizierte Zentren verbessern die Prognose“, erläuterte er. „Patienten, die an einer Studie teilnehmen, profitieren ebenfalls, sie werden mit zehn Prozent besserem Überleben belohnt.“
Was von Kühlkappen zu halten ist
… wollten gleich mehrere Betroffene wissen. Sie verhindern den Haarausfall bei einer Chemotherapie, erklärte Hoffmann. Hände und Füße zu kühlen, wirke unter Umständen aber auch bei Polyneuropathien von Krebspatienten.
Warum Frauen über 60 keine humangenetische Untersuchung mehr bekommen
„Warum sind Über-70-Jährige offiziell vom Mammografie-Screening ausgeschlossen?“,, konterte Hoffmann auf diese Frage aus dem Publikum. Kostengründe seien dafür verantwortlich. „Natürlich könnten wir jede Frau genetisch testen, aber eine einzige solche Untersuchung kostet mehrere tausend Euro, das muss ja auch jemand bezahlen.“ Was das Screening angeht, rät er dazu, es einfach doch zu versuchen: „Manche Städte sehen das nicht so eng mit der Altersbegrenzung.“
Was, wenn der Krebs wieder kommt
Schlussrednerin Dr. Anja Welt, Privatdozentin und Oberärztin der Inneren Klinik am Westdeutschen Tumorzentrum, machte Frauen mit metastasiertem Brustkrebs Hoffnung. Metastasierter Brustkrebs bliebe unheilbar, erläuterte Welt, anders als im frühen Stadium der Erkrankung brächten auch große Genuntersuchungen bei Mammakarzinomen, die gestreut hätten, wenig. „Man findet dabei zu oft einfach nichts“. Aber in den vergangenen Jahren seien eine ganze Reihe lebensverlängernder Therapieoptionen dazu gekommen. „Wir wissen inzwischen eine ganze Menge darüber, wie man Tumorzellen präzise austricksen kann.“ Selbst bei dem „ungünstigen“, sehr aggressiven „triple negativem“ Brustkrebs sehe man Fortschritte, zwei Checkpoint-Hemmer seien in der Immuntherapie bereits zugelassen.
Eine Erfolgsgeschichte
Die Entwicklung im Bereich des „HER2“-positiven Brustkrebses nannte die Fachärztin für Innere Medizin, Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin eine „tolle Erfolgsgeschichte“. Auch sie belegte das eindrucksvoll mit der wechselvollen Geschichte einer ihrer Patientinnen, die 1990 erstmals an einem solchen Krebs erkrankte, zehn Jahre später ihren ersten Rückfall erlitt – und dann immer wieder neue. Doch die Ärzte fanden immer auch Wege, neu entwickelte Medikamente (unter anderem sog. Antikörper-Wirkstoff-Konjugate) und maßgeschneiderte Therapieansätze, um ihr zu helfen. Präzisionsonkologie vom Feinsten. „Wir akzeptieren, wenn wir sehen, es geht nicht mehr. Aber wir geben nicht vorschnell auf“, versprach Anja Welt. Ihre Patientin ist heute 62, und es gehe ihr sehr gut, sagte die Ärztin: „Kein Ende abzusehen.“