Mülheim. Mülheims Grundschule am Dichterviertel stand vor dem Aus. Warum sie heute auf Noten, Unterricht & Co. verzichtet – und damit so erfolgreich ist.
Halima setzt sich die neongrünen Kopfhörer auf und öffnet das Mathebuch. „Zahleneinmaleins, auch umgekehrt“ lautet das Kapitel. Sie rechnet sieben mal 60 und 130 geteilt durch fünf, ohne lange überlegen zu müssen. Am Platz neben ihr schiebt Noah-Marie zum Plusrechnen blaue und rote Perlen auf einer Schnur hin und her. In der anderen Ecke des Klassenzimmers üben vier Schüler gemeinsam das Einmaleins. „Frau Groß, ich verstehe die Aufgabe nicht“, sagt einer von ihnen. „Frag mal Diana, die kann das schon gut und kann es dir bestimmt erklären“, antwortet Jana Groß.
Die Klassenlehrerin geht im Raum hin und her und stoppt immer da, wo ein Zeigefinger in die Luft geht. Frontalunterricht oder eine feste Sitzordnung kennen die Schülerinnen und Schüler der „Elefantenklasse“ nicht. Die Grundschule am Dichterviertel in Mülheim setzt auf ein außergewöhnliches Konzept. Mit Erfolg.
Grundschule am Dichterviertel in Mülheim stand vor dem Aus
Als Schulleiterin Nicola Küppers vor knapp zehn Jahren die Leitung übernahm, war die Schule als Brennpunktschule verschrien. Für das kommende Schuljahr gab es lediglich 13 neue Anmeldungen, die Stadt plante den Verkauf des Grundstücks. Die Lehrkräfte waren völlig überarbeitet, die Leistungen der Schüler unterdurchschnittlich.
Heute, zehn Jahre später, haben sich die Anmeldezahlen verfünffacht, die Schule wurde zur Modellschule für Hochbegabung und Inklusion und mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Eine Unterrichtsstunde vor Ort zeigt, wie Mülheim ein Vorbild für andere sein kann, worauf das erfolgreiche Konzept aufbaut – aber auch, warum es längst nicht überall im Ruhrgebiet funktionieren kann.
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Donnerstag, 8.15 Uhr. „Ich wünsche euch allen einen guten Morgen. Wir begrüßen uns auf drei verschiedenen Sprachen: Türkisch, Chinesisch und Afrikaans“, sagt Schüler Leo. „Günaydın“, „Nǐ hǎo“ und „Goeie more“ antworten ihm seine Mitschülerinnen und Mitschüler im Chor. Sie alle haben am großen Tisch Platz genommen für den Morgenkreis.
Der läuft fast jeden Tag gleich ab. „Wie geht es Dir heute?“, fragt Leo, der heute die Moderation des Morgenkreises übernimmt. „Gut, weil ich gestern im Stadion war“ oder „Schlecht, weil meine Schwester mich so früh geweckt hat“, lauten die Antworten. Er will von seinen Mitschülern auch wissen, wie heute das Wetter ist, was sie gestern erlebt haben – und welche Matheaufgaben sie sich für den Vormittag vorgenommen haben.
8.30 Uhr. Die Schüler verteilen sich im Klassenzimmer, auf dem Flur oder im Nachbarraum. In der „Elefantenklasse“ lernen Kinder, die erst vor wenigen Monaten eingeschult wurden, zusammen mit jenen, die bald auf eine weiterführende Schule wechseln. Einige lösen heute Matheaufgaben für Viertklässler, obwohl sie erst seit zwei Jahren zur Schule gehen. Andere verzweifeln auch nach drei Jahren in der Schule noch an Aufgaben für Erstklässler. Einige konnten schon lesen, bevor sie eingeschult wurden. Andere hielten am ersten Schultag zum ersten Mal einen Stift in der Hand.
„Wir haben gemerkt, dass die Kinder mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen zu uns kommen. Man kann sich die Grundschulzeit wie einen Lauf vorstellen. Die einen starten weiter vorne, die anderen weiter hinten. Das Problem: Es ist ein Sprint und kein Marathon. Die Kinder auf den hinteren Startplätzen haben normalerweise keine Chance, aufzuholen“, so Groß.
Keine Noten für mehr Motivation an der Mülheimer Grundschule am Dichterviertel
Das wollten die Lehrkräfte in Mülheim nicht länger hinnehmen. Jahrelang arbeiteten sie in Absprache mit der Stadt und dem Schulministerium an einem Konzept, das es jedem Kind ermöglichen sollte, in seinem Tempo zu lernen.
Die Idee lässt sich, grob gesagt, so beschreiben: Die vom Land vorgegebenen Lehrpläne sind die Grundlage für die sogenannten individuellen „Lernwege“. Schließt ein Kind einen „Lernweg“ erfolgreich ab, kann es mit dem nächsten weitermachen. Mit regelmäßigen Lernstandskontrollen überprüfen die Lehrkräfte, ob alles nach Plan läuft.
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Mathe, Deutsch und Englisch stehen abwechselnd vormittags auf dem Stundenplan. Am Nachmittag werden die Nebenfächer unterrichtet, immer projektbezogen. Bis zur vierten Klasse werden keine Noten vergeben, um die Motivation nicht zu mindern. Hausaufgaben gibt es nicht, um Stress in den Familien zu vermeiden und die Bildungsungleichheit nicht zu verstärken.
Das Konzept ist so komplex und gleichzeitig so gefragt, dass fast jede Woche Lehrkräfte fremder Schulen in Mülheim hospitieren. So sitzen auch an diesem Morgen drei Grundschullehrerinnen aus einer anderen Ruhrgebietsstadt mit im Klassenzimmer.
„Wie viele der Kinder haben vorher keine Kita besucht?“, will von ihnen wissen. „Etwa 15 Prozent“, antwortet Groß. „Und wie viele Kinder sprechen auch in der vierten Klasse noch nicht richtig Deutsch?“, fragt sie. „Anfangs haben viele noch Probleme, aber dann sprechen sie eigentlich alle gut Deutsch“, sagt Groß.
„Die Aufgabe ist eigentlich ganz einfach. Guck mal hier“, sagt Yussuf am Nachbartisch zu Nils. Dass die stärkeren Schülerinnen und Schüler anderen helfen, ist ein wesentlicher Grundstein des Mülheimer Konzepts.
„Das Konzept würde bei uns nicht funktionieren“
Der Stadtteil Eppinghofen, in dem die Grundschule liegt, hat zwei Gesichter. Wer in die eine Richtung geht, stößt auf triste Mehrfamilienhäuser. Wer in die andere Richtung geht, sieht schöne Parks und gepflegte Häuser. Dass heute auch die Kinder aus bildungsstarken Familien auf die Grundschule am Dichterviertel gehen, ist nicht selbstverständlich. Schulleiterin Nicola Küppers zog von Kita zu Kita, um für ihre Schule Werbung zu machen.
Diesen Aufwand würden auch die drei Lehrerinnen der anderen Schule sofort in Kauf nehmen. Das Problem: Ihr Stadtteil ist längst nicht so heterogen. Fast alle ihrer Schüler kommen aus schwierigen Verhältnissen, waren nicht im Kindergarten und haben auch am Ende der Grundschulzeit Sprachprobleme. „Das Konzept hier ist wahnsinnig toll. Aber es würde bei uns in dieser Form einfach nicht funktionieren. Das fängt ja schon damit an, dass die Kinder gar nicht in der Lage wären, die Aufgaben zu verstehen oder so selbstständig zu arbeiten“, sagt eine der Lehrerinnen.
9.30 Uhr. Jana Groß schlägt auf die Klangschale und sagt: „Es ist viel zu laut hier. Versammelt euch alle bitte wieder am Tisch.“ Es ist Leos Aufgabe, das Ende der Schulstunde abzumoderieren. „Welche Aufgaben hast Du heute gemacht? Was hast Du heute gelernt?“, fragt er in die Runde. „Ich habe eine Lernstandskontrolle geschrieben“, antwortet ein Mitschüler. „Wir haben mit den Perlen gerechnet“, eine andere. „Ich wünsche euch einen erfolgreichen Tag“, ruft Leo noch, bevor der laute Gong alle in die große Pause entlässt.
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