Herne. In Herne revolutioniert eine Gesamtschule das Lernen: Es soll keinen Unterricht, keine Klassen und keine Noten mehr geben. Was dahintersteckt.
- Die Erich-Fried-Gesamtschule stellt ab Sommer ihr komplettes Lernkonzept um.
- Für alle neuen Schüler gilt dann: kein verpflichtender Unterricht, keine Klassen und in den ersten Jahren keine Noten mehr.
- Vorbild für das „Lerndorf Holsterhausen“ ist eine Schule in Baden-Württemberg.
Die Erich-Fried-Gesamtschule in Herne stellt ab Sommer ihr komplettes Lernkonzept auf den Kopf und geht Schule völlig neu an: Für alle künftigen Schülerinnen und Schüler wird es im „Lerndorf Holsterhausen“ keinen Unterricht, keine Klassen und in den ersten vier Jahren auch keine Noten mehr geben. Stattdessen sollen sich die Kinder sehr selbstbestimmt und individuell im eigenen Tempo Lehrinhalte selbst erarbeiten. Große Lernateliers ersetzen Klassenzimmer, ein Marktplatz bietet Raum für gemeinsamen Austausch und Diskussionsrunden.
„Man stößt aufgrund des Systems häufig an seine Grenzen. Das frustriert“, sagt Anders Krosch, Didaktischer Leiter an der Schule, der die Entwicklung des Konzeptes maßgeblich vorangetrieben hat. Während kleine Kinder noch von sich aus eine unheimliche Freude am Lernen mitbrächten, verlören sie diese an der Schule zunehmend. „Warum ist das so?“, fragte sich Krosch. „Das muss an der Art und Weise liegen, wie wir Schule gestalten.“ Lernkonzepte hätten sich über Generationen nicht weiterentwickelt. Doch genau diesen Schritt möchte die Gesamtschule Erich-Fried nun wagen.
Kein Stundenplan, kein Unterricht: Das plant Erich-Fried
Auf der einen Seite soll das Lernen viel selbstorganisierter stattfinden. Es gibt keinen Stundenplan. Kinder haben auf dem Tablet Lernpakete und können in vier Unterrichtsstunden am Vormittag selbst entscheiden, ob sie heute lieber Mathe, Englisch oder Deutsch machen möchten. Dabei löst sich die Schule komplett vom klassischen Frontalunterricht. Fachlehrer bieten zwischendurch „Input“-Runden an, bei denen in 20 bis 30 Minuten neue Inhalte erläutert werden. Ob Schülerinnen und Schüler daran teilnehmen möchten, können sie allerdings selbst entscheiden.
Für jedes Kind oder jeden Jugendlichen sind Aufgabenpakete digital hinterlegt, die zu bearbeiten sind. Wird ein Paket mit 80 Prozent der Punkte abgeschlossen, wird das nächstschwierigere Paket freigeschaltet. So könne jedes Kind in jedem Fach genau auf dem Leistungsniveau weiterlernen, auf dem es sich befindet. Ein Lehrer, der künftig Lernbegleiter heißt, setzt sich einmal in der Woche mit jedem Schüler zusammen, fragt, wie es ihm geht, und bespricht, was er oder sie bearbeitet und was es sich für die künftige Woche vorgenommen hat. An dieser Stelle werde durchaus nachjustiert, damit die Schülerinnen und Schüler alle Lerninhalte bearbeiten, betont Krosch. Bis einschließlich der 8. Klasse solle es keine Noten, sondern Wortzeugnisse geben.
„Lerndorf Holsterhausen“ möchte sich im Umfeld vernetzen
Alle Nebenfächer sollen künftig im Nachmittagsbereich stattfinden und projektbezogen fächerübergreifend unterrichtet werden – also beispielsweise das Thema Globalisierung oder Ernährung. Dabei wird auch auf die zweite Säule des Konzeptes zurückgegriffen, bei der der Gedanke des „Lerndorfes Holsterhausen“ besonders zum Tragen kommt.
Herne- Gesamtschule Erich-Fried plötzlich ohne SchulleiterEin afrikanisches Sprichwort laute: „Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Diesem Motto folgend möchte sich Erich-Fried öffnen und eng mit Einrichtungen im Umfeld zusammenarbeiten: dem Kleingartenverein, bei dem Natur hautnah erkundet werden kann, der Kita, in der die Schüler das Fach Pädagogik von der praktischen Seite erleben oder den Kindern vorlesen könnten. Aber auch Kooperationen mit einem Altenheim, dem Sportverein und dem Fitnessstudio seien geplant, so Krosch.
Auch das Lernumfeld soll ein anderes werden. Aus dem langen Flur, von dem vier Klassenräume abgehen und der laut Krosch eher wie eine Kaserne denn wie eine Schule wirke, solle ein großes Lernatelier werden. Dazu sollen alle Wände herausgerissen werden. Anschließend soll jedes Kind einen eigenen festen Arbeitsplatz erhalten, den es mit Fotos von der Familie oder dem Haustier selbst gestalten könne. In diesem Lernatelier soll wie in einer Bibliothek ruhig gearbeitet werden.
Konzept gilt nur für künftige Schülerinnen und Schüler
Erste kleine Testballons seien in der Oberstufe bereits gestartet. Doch ansonsten wird das neue Lernkonzept keine Schüler betreffen, die bereits die Schule besuchen. Schließlich hätten die Eltern ihre Kinder unter den alten Bedingungen an der Schule angemeldet, betont Krosch. Doch alle Eltern, die ihre Kinder künftig an der Erich-Fried-Gesamtschule anmelden, täten dies in dem Wissen um das neue Konzept. Diese Kinder werden keine Klasse 5a oder 5b mehr besuchen, da es keine Klassen mehr gibt, sondern die „Phase 5“.
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Um die zukünftigen Eltern und die aktuellen Lehrkräfte nicht zu überfordern, wird der Prozess der Umstellung insgesamt auf einen Zeitraum von sechs Jahren angelegt. Die Umstellung erfolge nicht ad hoc in einem Schritt, sondern die Bausteine würden nach und nach eingeführt. In jedem Jahr soll ein weiterer Jahrgang mit diesem Konzept beginnen, um über mehrere Jahre das Lernen sukzessive komplett neu aufzustellen.
Eine Umstellung, die für die nach Anmeldezahlen beliebteste Gesamtschule in Herne, sicherlich auch ein Risiko ist. „Klar hat man Sorge“, gibt Krosch zu. „Wir sind von dem Konzept aber auch so überzeugt, dass wir diesen Weg gehen wollen.“ Die Frustration im Kollegium sei zuletzt sehr groß gewesen. Knapp 75 Prozent des Kollegiums habe deshalb für diesen neuen Weg gestimmt, auch wenn es für sie deutlich mehr Präsenzzeit an der Schule bedeuten wird. „Wir möchten Schule kindgerecht machen und nicht Kinder an die Schule anpassen“
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- Als Vorbild nennt Krosch die Alemannenschule im baden-württembergischen Wutöschingen, über die er sich vor Ort informiert hat. Diese arbeite bereits seit Jahren mit diesem Konzept, wurde 2019 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet.
- Die Umstellung an der Erich-Fried-Gesamtschule solle von einem Professor wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden, wie sich die Umstellung auf die schulischen Leistungen auswirke, so Krosch. Außerdem solle regelmäßig geschaut werden, was funktioniert und wo nachjustiert werden müsse.
- Im Sommer hatte der bisherige Schulleiter mitten im Umsetzungsprozess die Schule verlassen. Derzeit wird noch eine neue Schulleitung gesucht, die dieses Konzept aber mittragen müsste. Die Bezirksregierung Arnsberg, die Stadt und die Schulkonferenz hätten das Lernkonzept bereits abgenickt, betont Krosch.
- Das neue Lernkonzept wird auch am Tag der offenen Tür am 18. November (von 10 bis 14 Uhr) erläutert.