Essen. Eine große Chance für die Kleinen: Das Nachhilfeprojekt des Bistums und der RAG-Stiftung fördert benachteiligte Kinder in sozialen Brennpunkten.

Worte mit pf sind schwer. Apfel, Topf, Pfote, Pflaster. Die achtjährige Luisa sitzt konzentriert vor ihrem Arbeitsblatt und übersetzt die Symbole in die richtigen Begriffe. Fote, schreibt sie neben das Bild. Dann schüttelt sie den Kopf, radiert heftig an dem Wort herum und schreibt es dann richtig auf. Neben ihr sitzt Benjamin (6) im Glitzer-T-Shirt und will sich nicht stören lassen. „Ich arbeite“, sagt er ernst und malt reihenweise große und kleine Buchstaben in sein Heft. Nase, Dose, Sonne – die ganze Seite voll.

Es herrscht eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre in dem Klassenraum der Karlschule, ein freundlich gelb gestrichener Backsteinbau mit Sonnenblumen an den Fenstern mitten in Altenessen – ein sogenannter sozialer Brennpunkt im Essener Norden. Rund 15 Kinder aller Jahrgangsstufen besuchen heute die Förderstunde bei Heike Tomeczek und Anja Claus. „Ich komme gerne in die Förderstunde, besonders wenn Frau Claus da ist. Das macht Spaß und sie ist nicht so streng“, sagt Lionel aus der vierten Klasse. Er übt Präsens und Imperfekt, denn morgen ist die Deutscharbeit. Ich lerne – ich lernte. Ich gehe – ich ging. Ich stehe – ich stand. Nicht so einfach!

Murrhem will aufs Gymnasium

Muhrrem (10) beugt sich über sein Blatt und sagt leise: „Hier kann ich gut lernen. Denn ich will aufs Gymnasium.“ Anja Claus lächelt und nickt. „Ich kenne ihn seit der ersten Klasse. Am Anfang hat er sich schwergetan. Doch durch das Nachhilfeprojekt ist er mittlerweile ein Kandidat für das Gymnasium.“

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Die Karlschule ist eine von 15 Schulen, die an dem „Nachhilfeprojekt für Grundschulen in herausfordernder Lage“, initiiert durch den Rat für Bildung des Bischofs von Essen und finanziert von der RAG-Stiftung, teilnehmen und Kinder wie Murrhem im Blick haben. Gefördert wird das Gesamtvorhaben seit 2020 von der RAG-Stiftung mit bisher rund 730.000 Euro, ein Teil davon ging auch an die Karlschule. „Das gibt uns die Mittel und die Freiheit, die Kinder in den Ferien und während des Schuljahrs so zu fördern, wie sie es brauchen“, sagt Schulleiterin Christiane Gühmann.

15 Grundschulen nehmen teil

Zwei Mal in der Woche kommen die Kinder in die Förderstunde, ohne diese Hilfe würden die Leistungen der Kinder rasch wieder absacken, ist sich die Lehrerin sicher. Gestartet wurde das „Leuchtturmprojekt“ im Pandemiejahr 2020 mit dem Ziel, benachteiligte Kinder, die wegen der Schulschließungen Wissenslücken entwickelt haben, auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen, erklärt Bärbel Bergerhoff-Wodopia, Mitglied im Vorstand der RAG-Stiftung und Sprecherin des Rates für Bildung. Von zunächst vier Schulen wurde das Projekt mittlerweile auf neun Grundschulen in Essen sowie sechs in Mülheim ausgeweitet.

Schulleiterin Christiane Gühmann: Ohne die Förderung würden die Leistungen der Kinder wieder nachlassen.
Schulleiterin Christiane Gühmann: Ohne die Förderung würden die Leistungen der Kinder wieder nachlassen. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Um während der Pandemie den Kontakt zu ihren Schülern nicht zu verlieren, ist Christiane Gühmann während des Lockdowns mit dem Fahrrad zu den Kindern nach Hause gefahren und verteilte Lernpakete. Und wenn Schüler beim Zoom-Unterricht gefehlt haben, hat sie angerufen oder ist zu den Eltern gefahren. „Man muss dran bleiben“, sagt sie. Dazu gehöre auch, den Eltern auf den Füßen zu stehen. „Inzwischen haben es alle verstanden.“

Mehr Chancengerechtigkeit im Ruhrgebiet

Neben dem Nachhilfeprogramm arbeitet der Rat für Bildung mit weiteren „Leuchtturmprojekten“ für mehr Chancengleichheit im Ruhrgebiet. Vom Kita-Projekt „Zukunft früh sichern“ (ZUSI) in Gelsenkirchen, über die Initiative „Joblinge“, die benachteiligte junge Menschen beim Berufsstart unterstützt, bis zur „Mode- und Lernwerkstatt nouranur“ in Witten, die sich für mehr Teilhabe von Frauen mit Migrationsgeschichte einsetzt – stets geht es darum, den Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg ein Stück weit aufzubrechen.

Mehr Chancengerechtigkeit im Ruhrgebiet, das hat der Rat für Bildung seit einigen Jahren zu seinem Leitthema gemacht. Denn im Revier liege das Bildungsniveau unter dem landesweiten Durchschnitt, zudem lebten hier mehr arme Menschen, was das Problem ungleicher Bildungschancen noch verschärfe.

Gewöhnung an Bildungsungleichheit

Die Situation ist bekannt und durch zahlreiche Studien belegt, dennoch sei eine „fatale Gewöhnung“ eingetreten. „Gerade der Kirche und den gesellschaftspolitischen Akteuren aus der Bildungslandschaft ist es wichtig, Stellung zu beziehen und zu zeigen, dass eine Gewöhnung an Bildungsungleichheit unsolidarisch ist“, begründet Bergerhoff-Wodopia das Engagement des Rats.

Und deshalb beschäftigt sich der kleine Martinez heute mit Krokodilen. Welche Zahl ist größer, 3 oder 4, 8 oder 12? „Das ist leicht“, grinst der Sechsjährige. „Das Krokodil frisst immer die größere!“

Rat kämpft für mehr Bildungschancen im Ruhrgebiet

Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck hat vor gut drei Jahren den Rat für Bildung am Bistum Essen als Beratungsgremium eingerichtet. Sprecherin des Rates ist Bärbel Bergerhoff-Wodopia, Mitglied im Vorstand der RAG-Stiftung. Im Interview erläutern beide ihre Ziele und Motive.

Laut IQB-Schulstudie sind Viertklässler in Deutsch und Mathematik weiter abgerutscht. Dabei habe der soziale Hintergrund einen steigenden Einfluss auf den Bildungserfolg. Welche Gründe sehen Sie?

Overbeck: Ja, das stimmt. Kinder aus Elternhäusern mit sozialen Konflikten und wirtschaftlichen Notlagen sind auch mit Blick auf den Bildungserfolg benachteiligt. Sie kommen oft mit Entwicklungsverzögerungen in die Kita. Sie werden von Bildungs- und Förderangeboten spät oder gar nicht erreicht. Und diese Problematik verschärft sich dann noch bei den Übergängen, beispielsweise von der Kita in die Grundschule.

Seit Jahren ist der Zusammenhang von Herkunft und Bildungserfolg bekannt, warum hat sich die Lage dennoch sogar verschlimmert?

Bärbel Bergerhoff-Wodopia, Mitglied im Vorstand der RAG.Stiftung.
Bärbel Bergerhoff-Wodopia, Mitglied im Vorstand der RAG.Stiftung. © Jens Nieth

Bergerhoff-Wodopia: Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe. Zum einen hat die Corona-Pandemie zur Verschärfung der Situation beigetragen. Diejenigen Kinder, die es ohnehin schon schwer hatten, waren noch einmal deutlich mehr von den Nachteilen der Kita- und Schulschließungen betroffen. Zum anderen haben sich viele mit der Ungleichheit von Bildungschancen abgefunden.

Das Bistum und die RAG-Stiftung wollen die Chancengerechtigkeit im Ruhrgebiet verbessern – wie kann das konkret geschehen?

Overbeck: Der Rat für Bildung hat eine Stellungnahme und ein Konzeptpapier zum Thema entwickelt. Darin zeigen wir Handlungsoptionen auf, mit denen der Bildungsungleichheit entgegengewirkt werden kann. Wichtig ist: Die Mammutaufgabe Bildungsgerechtigkeit zu erreichen, bedarf vieler Akteure und Akteurinnen und guter Beispiele, die im wahrsten Sinne des Wortes Schule machen.

Bergerhoff-Wodopia: Die RAG-Stiftung ist der größte Bildungsförderer im Ruhrgebiet. Aber auch wir können die Aufgabe nicht alleine stemmen. Wir sind seit vielen Jahren aber sehr vertraut mit der Problemstellung und konnten unsere Erfahrungen im Rat für Bildung einbringen.

Welche Vorschläge formuliert der Rat für Bildung in seinem Papier?

Bergerhoff-Wodopia: Wir plädieren ganz klar für eine Kultur des Gelingens. In der Bildungsförderung sollte das Handeln viel mehr vom Gelingenden geleitet werden, nicht von der Defizitorientierung. Der richtige Ansatz liegt darin, sich auf Erfolge und Stärken zu konzentrieren. Das heißt auch, nicht ständig neue kleinteilige Konzepte zu entwickeln, sondern das, was schon funktioniert, sichtbar zu machen und zu übertragen. Beim Thema Bildung gibt es kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.

Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck richtete den Rat für Bildung ein.
Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck richtete den Rat für Bildung ein. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Wie können die positiven Beispiele im Ruhrgebiet in die Fläche gebracht werden?

Bergerhoff-Wodopia: Dafür brauchen wir dringend mehr Vernetzung und Austausch. Eine Möglichkeit wird die geplante zweitägige Fachtagung im Rahmen der Talent-Tage Ruhr im September 2023 sein. Die Tagung soll deutlich machen: Kräfte bündeln und voneinander lernen lohnt sich.

Overbeck: Nur so kommen wir gemeinsam ans Ziel, das lauten muss: Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Dann entscheidet Herkunft weniger über Bildungserfolg, mehr junge Menschen erfahren gesellschaftliche Teilhabe und können ein selbstbestimmtes Leben führen.

Das Positionspapier des Rates ist im Internet einzusehen unter www.die-wolfsburg.de/aktuelles