Duisburg/Düsseldorf/Wattenscheid. Zu wenige Lehrkräfte arbeiten in NRW mit zu vielen Kindern. Besonders in sozialen Brennpunkten mit hohem Migrationsanteil hat das Folgen.

Es brodelt in den Grundschulen, besonders im Ruhrgebiet. Viele Stellen für Lehrkräfte bleiben unbesetzt, und die Klassen sind so vielfältig wie noch nie. Die NRW-Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Ayla Celik, sprach am Donnerstag beim Besuch einer „Brennpunktschule“ in Duisburg-Marxloh von einem „Flächenbrand“. Dem NRW-Schulministerium wirft sie vor, das große Feuer bloß mit Wassereimern zu bekämpfen.

Die Gemeinschaftsgrundschule Sandstraße in Marxloh darf man „bunt“ nennen. Übliche Klassennamen wären unmöglich. Statt einer „1 A“ oder „4B“ gibt es hier die Affen-, Ameisen- und Tigerklasse, denn Kinder der ersten bis vierten Klassen lernen gemeinsam. Jedes zweite der 366 Kinder gilt als „Seiteneinsteiger“. Diese Schülerinnen und Schüler sind mit ihren Familien erst vor kurzem zugewandert, zum Beispiel aus Rumänien, Bulgarien, aus der Türkei oder der Ukraine. 36 Kinder benötigen wegen eines Handicaps zudem sonderpädagogische Förderung.

Lehrerin aus Marxloh: „Wir brauchen keine Hilfs-, sondern Lehrkräfte“

In der „Affenklasse“ sitzt die zehnjährige Hizha wie ihre Mitschüler vor Tablet-PCs. Mit dem „Räuber Hotzenplotz“ lernt sie am Bildschirm Wörter wie „Zipfelmütze“ und „Kaffeemühle“. Lehrerin Alexandra Pütz macht hier das Unmögliche möglich: Sie bringt 26 Mädchen und Jungen, von denen viele kaum Deutsch sprechen, das Schreiben, Lesen und Rechnen bei.

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Oft steht Frau Pütz allein vor der Klasse. „Eigentlich müssten wir hier mit einer Doppel-, besser Dreifachbesetzung arbeiten“, erklärt sie. Ob solche Assistenzen in Sicht seien? Nein, außerdem brauche man keine Hilfs-, sondern gestandene Lehrkräfte.

Seit vier Jahren keine Bewerbung mehr auf eine freie Stelle

Stattdessen beschäftigt sich Schulleiter Klaus Hagge mit „Mangelverwaltung“. 33 „echte“ Lehrerinnen und Lehrer müsste diese Schule haben, es sind aber nur 25. Das heißt: Mehr als 200 Stunden weniger Unterricht pro Woche als nötig. Seit vier Jahren hat sich keiner mehr auf eine freie Stelle an der Sandstraße beworben. „Wir arbeiten am Limit“, sagt Hagge.

Besser ist die Lage in der Paulus-Grundschule in Düsseldorf. Die liegt in einem bürgerlichen Einzugsgebiet. Alle Stellen seien hier besetzt, sagt Schulleiterin Monika Maraun. Das Problem: Auch in Düsseldorf gelten viele Vertretungslehrkräfte als „fachfremd“ und müssen erst auf die Arbeit in einer Schule vorbereitet werden. Und so stehen landauf-landab in den Klassen nicht nur studierte Lehrkräfte, sondern auch Speditionskaufleute und Gärtner. „Wo bleibt die Qualität?“, fragt Maraun.

Gertrudisschule Bochum: Viele Kinder mit körperlichen Defiziten

Prekär ist die Lage auch an der Gertrudisschule in Wattenscheid. Immer wieder greift etwa das sechsjährige Schulkind neben das Blatt Papier, versucht es zu fassen, doch schafft es nicht. Lehrkräfte stellen schließlich fest, dass das Kind fast blind ist. Ein anderes Kind kann nur mit Kopfhörern am Unterricht teilnehmen, die Geräusche in der Klasse irritieren es. Ein drittes Kind lernt nur mühsam, die Schere richtig zu halten.

Beobachtungen wie diese machen Lehrerinnen und Lehrer der Gertrudisschule bei vielen ihrer Schülerinnen und Schüler. Von 100 Erstklässlern haben nur zwei Kinder eine „absolute unbedenkliche Gesundheitssituation“, heißt es. Die Eltern sollen davon meist nichts mitbekommen haben. Da sei es nicht verwunderlich, dass viele Grundschulkinder in NRW massive Probleme beim Schreiben und Rechnen haben, wie der „IQB-Bildungstrend“ kürzlich zeigte. Die Pädagoginnen und Pädagogen in Wattenscheid sagen, dass vielen Kindern die einfachsten Grundlagen fehlten.

Grundschule als Familienzentrum

Die Gertrudisschule wurde deshalb zu einem Familiengrundschulzentrum ausgebaut, dessen Aufgabe über den üblichen Bildungsauftrag hinausgeht. Gerade in sozial schwachen Stadtgebieten mit hohem Migrationsanteil sollen Familienzentren Schulkinder und ihre Eltern mit leicht zugänglichen Angeboten unterstützen – und als Vermittlungsstelle fungieren.

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„So ein Modell brauchen wir flächendeckend an Grundschulen in NRW“, sagte Thomas Kutschaty, Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion, kürzlich bei einem Besuch an der Gertrudisschule. Diese Zentren seien ein wichtiger Baustein im Kampf gegen die „Bildungskatastrophe“, so Kutschaty. Von den rund 2800 Grundschulen seien gerade einmal knapp über 150 auf dem Weg, ein Familienzentrum zu werden.

Während die Schülerzahlen an der Wattenscheider Grundschule explodieren, findet der Unterricht hier auf engstem Raum statt. Die 350 Schülerinnen und Schüler kommen aus 50 Nationen, 80 Prozent haben einen Migrationshintergrund. „Wir haben festgestellt, dass Chancengleichheit nur funktioniert, wenn wir nicht nur das Kind betrachten, sondern die Familie mit dazu holen“, sagt Schulleiterin Tanja Knopp.

Zusatzangebote sollen die Eltern mit ins Boot holen

In der ersten Klasse seien das zum Beispiel wöchentliche Treffen mit den Eltern, die dann im Laufe der Schulzeit weitergeführt werden. Zudem werden Elterncafés, Deutschkurse oder Bastelaktionen angeboten. „Damit wollen wir die Eltern ins Boot holen“, erklärt Knopp. Bei Bedarf vermittle die Schule die Eltern an die Jugendhilfe. Für die Kinder selbst beginnt der Tag mit einem kostenlosen Frühstück.

Um das gewinnbringende Konzept aber so weiterführen zu können, brauche die Schule „mehr Personal, geeignete Räume sowie eine auskömmliche Finanzierung“, betont Schulleiterin Knopp. „Wir hangeln uns von Projekt zu Projekt, brauchen aber eine Möglichkeit, das Angebot langfristig erhalten zu können.“