Dortmund. Bildungsforscherin: Es gebe keinen wissenschaftlichen Grund für Schulnoten. Warum es aber trotzdem nicht reicht, sie einfach nur abzuschaffen.
NRW steckt in der Bildungskrise. Jüngste Studien bescheinigten den Schülerinnen und Schülern gravierende Schwächen in den Kernfächern. Immer mehr Schulen setzen daher auf alternative Lernkonzepte ohne Klassen, ohne Noten, ohne festen Stundenplan und sogar ohne gemeinsame Klassenarbeiten. Doch viele Eltern und Lehrkräfte sind skeptisch: Kann Unterricht ohne Noten funktionieren? Das fragten wir Silvia-Iris Beutel, Professorin für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik der TU Dortmund. Die Wissenschaftlerin ist seit 2006 Jurorin beim Deutschen Schulpreis und erforscht seit langem alternative Methoden der Leistungsbeurteilung.
Die Laborschule Bielefeld, eine Grundschule Mülheim, eine Gesamtschule Herne: Stimmt der Eindruck, dass immer mehr Schulen in NRW auf alternative Lernkonzepte setzen?
Silvia-Iris Beutel: Ja, der Eindruck stimmt. In den Erlassen und Verordnungen aller Bundesländer gibt es inzwischen Empfehlungen und viele Freiräume für alternative Lern- und Lehrkonzepte. Zugleich gibt es an den Schulen eine wachsende Offenheit dafür, neue Instrumente und Konzepte zu erproben und einzusetzen. Das ist eine gute Nachricht.
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Woher kommt diese Bereitschaft, sich von traditionellen Methoden zu verabschieden?
Zuletzt haben Studien erneut auf gravierende Kompetenzprobleme in Grundschulen und der Sekundarstufe Eins hingewiesen. Die Lehrkräfte wissen, dass sie die Kinder und Jugendlichen in anderer Weise stützen und fördern müssen. Etwa durch individuelle Gelingensnachweise anstatt gemeinsamer Klassenarbeiten. So können Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Lerntempo finden. Wichtig ist, dass das ganze Kollegium bei der Umsetzung mitwirkt. Das war übrigens auch ein Grund von vielen, warum zum Beispiel die Mülheimer Grundschule so erfolgreich im Deutschen Schulpreis war.
Schon lange wird über die Abschaffung von Noten diskutiert. Ist das sinnvoll?
Die Sinnhaftigkeit der Notengebung muss man in Frage stellen. Ich plädiere für eine Abschaffung der Noten in der Grundschule und in der Sekundarstufe Eins, beispielsweise bis zum Ende der achten Klasse. Einige Bundesländer gehen bereits diesen Weg. Aber die Notengebung ist seit Generationen verankert und es ist schwer, das aufzubrechen.
Warum sind sie für ein Ende der Noten?
Noten sind die einfachste Form der Leistungsbewertung. Sie ist nicht transparent, ihre Aussagekraft ist zweifelhaft und eine Vergleichbarkeit oftmals nicht gegeben. Die Noten zeigen nicht die eigentlichen Kompetenzen an, die hinter den Ziffern stehen. Zudem bezweifle ich, dass ein guter Notenschnitt die Befähigung für einen bestimmten Beruf anzeigt. Bin ich mit einem Einser-Abitur eine gute Ärztin oder Psychologin?
Können Noten die Leistung der Schüler abbilden?
Das bezweifle nicht nur ich, sondern viele Bildungswissenschaftler. Die Wissenschaft lieferte noch keinen Beleg dafür, dass wir Noten unbedingt brauchen. Aber es reicht nicht, einfach nur die Noten abzuschaffen.
Wie soll Leistung denn sonst bewertet oder gemessen werden?
Einfache Wege gibt es bei einer alternativen Leistungsbeurteilung nicht. Und das wissen die Schulen auch, die sich auf diesen Weg machen. Man muss den Unterricht grundlegend verändern und auf eine individuelle und dokumentierte Lernbegleitung setzen. Ein einfacher Wechsel von Noten zu Texten reicht auch in der Zeugnispraxis nicht aus. Verbalbeurteilungen sind sensible Texte, man muss auf die Schülerinnen und Schüler individuell eingehen, und diese müssen sich darin wiederfinden können.
Wollen die Schülerinnen und Schüler nicht selbst lieber Noten haben?
Ja, das ist beharrlich in den Köpfen. Es ist eine permanente Entwicklungsaufgabe, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern von Alternativen zu überzeugen. Aber was mir besonders wichtig ist: Eine andere Lernkultur befördert auch das Demokratieerleben.
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Wie meinen Sie das?
Die Schülerinnen und Schüler sind beteiligt am Bildungsprozess, an der Auswahl zu erwerbender Kompetenzen. Sie bringen sich ein, geben und erhalten Rückmeldungen. Das bedeutet ein frühes Einüben von Partizipation. Die Schüler suchen sich den Bereich aus, den sie bearbeiten möchten, natürlich immer nach einem Planungsgespräch mit einer Lehrkraft. Schüler lernen leichter, wenn sie wissen, dass sie sich verbessern können und nach einem Scheitern nicht allein gelassen werden.
Immer noch ist der Bildungserfolg stark von der Herkunft abhängig. Kann sich daran etwas ändern?
Nicht nur am Beispiel der Mülheimer Grundschule lässt sich erkennen, dass die Bildungsungerechtigkeit durch neue Lernkonzepte aufgebrochen werden kann. Kinder in herausfordernden Lagen bekommen eine Chance, weil für jedes Kind individuelle Lernpläne entwickelt werden und der Lernstand fortlaufend begleitet wird. Darauf aufbauend wird festgelegt, was die nächsten Lernziele sein sollen. Das ist wie in der Medizin, da belassen wir es ja auch nicht bei der Diagnose und sagen: du bist krank. Sondern es folgt darauf eine individuelle Therapie.
>>>> Zur Person:
Prof. Silvia-Iris Beutel ist stellvertretende Leiterin des Instituts für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik an der TU Dortmund. Die Wissenschaftlerin schrieb mehrere Bücher zum Thema Noten und Leistungsbeurteilung, unter anderem: „Zeugnisse aus Kindersicht“ (2005), „Lernen ohne Noten - Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung“ (2020) und „Gerechte Leistungsbeurteilung. Impulse für den Wandel“ (2021).
Sie ist langjährige Jurorin beim Deutschen Schulpreis, ihre Forschungsschwerpunkte sind Bildungsübergänge, Inklusion und Digitalisierung, Lern- und entwicklungsgerechte Leistungsbeurteilung sowie Schulen ohne Noten.
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