Witten. Weihnachten gilt als Fest der Heiligen Familie. Wie fühlt es sich für die Vashchenkos an? Ohne Putin würden sie wohl in ihrer Heimat Kiew feiern.

Wie viele Familien in Deutschland bereiten sich Valeriia Serheieva (47), ihr Mann Yaroslav Vashchenko (49) sowie ihre Kinder Illiya (19) und Hlib (15) auf Weihnachten vor – auch wenn das Fest in der früheren Sowjetunion offiziell nicht stattfand. Die Familie, die jetzt im dörflichen Herbede lebt, kommt aus der Millionenstadt Kiew. Dem Krieg in der Ukraine ist sie knapp entkommen, vor zweieinhalb Jahren schon. Wie fühlt sich das Leben für die Familie im Ruhrgebiet an? Wie hat sie sich neu gefunden?

Die Vashchenkos müssen die deutsche Version von Weihnachten noch lernen. Doch sie lassen sich bereitwillig darauf ein. Die Deko in ihrer Wohnung in einem denkmalgeschützten Haus in der Nähe des Ruhrufers spricht eine deutliche Sprache. Eine deutliche Sprache spricht auch der Tee, den Valeriia kocht. Sie öffnet eine Plastikbox mit getrockneten Blättern und Blüten, die vom Sommer erzählen, vom Sommer in einem Wald bei Kiew. Die Box verströmt einen süßen Duft. Für die Vashchenkos ist er das Aroma der Heimat, die sie kurz nach Kriegsbeginn verlassen haben.

Die Wittener Nataliya Koshel (links) engagiert sich für Geflüchtete aus der Ukraine. In diesem Sommer hatte sie ihre Eltern Ihor und Svitlana Koshel zu Besuch, die selbst noch in der Ukraine leben (Archiv).
Die Wittener Nataliya Koshel (links) engagiert sich für Geflüchtete aus der Ukraine. In diesem Sommer hatte sie ihre Eltern Ihor und Svitlana Koshel zu Besuch, die selbst noch in der Ukraine leben (Archiv). © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

Raketen, Bomben, Geschosse: Die Bilder der Zerstörung haben sich bei den Vashchenkos eingebrannt. Sie können die Details jederzeit abrufen. Doch der Horror war kein Film, er war echt. Und die damit verbundenen Gefühle sind bei jeder Erinnerung sofort wieder da: das Leid, die Verzweiflung und, ja, auch die Wut auf die Angreifer aus Russland, die Valeriia den Bruder nahmen.

Jobs sind rare Ware

Geflüchtete aus der Ukraine gelten als häufig hochqualifiziert. Dennoch sind Jobs für sie rare Ware.

Im Ennepe-Ruhr-Kreis sind nach aktuellen Angaben der zuständigen Agentur für Arbeit in Hagen 299 Menschen aus der Zielgruppe sozialversicherungspflichtig beschäftigt, 124 von ihnen arbeiten als Helfer, 125 als Kräfte, 25 als Spezialisten und weitere 25 als Experten wie Ärzte.

Eine deutlich größere Gruppe ukrainischer Geflüchteter sucht jedoch Arbeit. Im November waren es knapp 1800 Personen – gut zehn Prozent mehr als vor einem Jahr.

Dennoch überwiegt beim Gespräch am Tisch ein Gefühl des Glücks. Die Vashchenkos – sie sind noch einmal davongekommen. Mehr noch: Die Familie hat übergroßes Glück gehabt. Eine Wittener Freundin von Valeriia, Natalia Zeitz vom Verein „Europa grenzenlos“, hat sie gedrängt, sich im Ruhrgebiet in Sicherheit zu bringen. Sie helfe, versicherte die Freundin, wo sie könne. Und sie konnte viel, sehr viel bewegen – auch dank gelebter Nächstenliebe in der evangelischen Johannisgemeinde.

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Zunächst waren die Vashechenkos in Witten-Heven untergebracht. „Alles war vorbereitet“, sagt Yaroslav voller Dankbarkeit. Und Valeriia ergänzt: „Sogar der Kühlschrank war voll.“ Inzwischen lebt die Familie auf der Südseite der Ruhr, der Unternehmerfamilie Lohmann sei Dank. Sie machte Platz, wo keiner war. Wittens Triathlonverein zog für die Vashchenkos um.

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Doch das war längst nicht alles. Valeriia hat Arbeit gefunden. Die Psychologin kümmert sich als Familientherapeutin um traumatisierte Menschen aus der Ukraine. Marketingfachmann Yaroslav, in Kiew zuletzt Inhaber eines Möbelunternehmens, montiert bei Ostermann Schränke und Kommoden. Die beiden Jungs besuchen die Rudolf-Steiner-Schule.

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Sprache ist der Schlüssel im Alltag, im Job, bei Behörden und nicht zuletzt bei Freunden und Bekannten. Wenig überraschend, sprachen ihre Söhne Illiya und Hlib schon nach kurzer Zeit fast akzentfrei. Sie sind in der Schule gut angekommen. Valeriia und Yaroslav indes erleben die deutsche Sprache noch als Kletterwand, die zu Klimmzügen zwingt. Beim Gespräch hilft Nataliya Koshel vom Wittener Integrationsrat, wo Hände, Füße, Englisch und guter Wille nicht mehr reichen. Doch die Eltern der Jungs senden die Botschaft: Auch wir werden bald Deutsch können. Yaroslav macht gerade einen Angelschein.

Sie schwärmen vom Ruhrtal bei Witten-Herbede

Die Vashchenkos schwärmen vom Ruhrtal. Im Sommer sei es so schön hier. Direkt vor ihrer Wohnung, in einem Obstgarten am Hang, sitzen sie im Sommer beim Picknick zusammen. Yaroslav hat außerdem mit freudiger Verwunderung festgestellt, dass sich das Ruhrtal zum Sportparadies gemausert hat. „Wenn man mithalten will“, sagt er augenzwinkernd, „muss man sich viel bewegen.“

Und die Angehörigen in Kiew? Leichte Melancholie huscht über die Gesicht der Vashchenkos, auch wenn sie sonst viel und gern lachen. Täglich halten sie Kontakt. Whatsapp macht’s möglich. Es gab auch schon Besuche. Bei aller Trauer über die erzwungene Trennung der Familie sagen die Alten in der Heimat zu ihnen: „Hauptsache, Ihr seid in Sicherheit.“

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