Witten. Ob sie froh sind, in Witten zu sein? Bei dieser Frage umarmt die Mutter von Nataliya Koshel (40) ihre Tochter. So viele Gefühle beim Wiedersehen.

Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, haben wir mit Nataliya Koshel die erste Geschichte dazu gemacht. Die damalige Vorsitzende des Wittener Integrationsrats und heutige Vorsitzende des Kulturvereins „Wolja“ war in großer Sorge um ihre Heimat und ihre Familie, die in der Nähe der westlich gelegenen Großstadt Lwiw (Lemberg) lebt.

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Heute, zweieinhalb Jahre später, blicken wir auf viele WAZ-Geschichten zurück: über den Krieg, über die gut 1000 Ukraine-Flüchtlinge in Witten und deren Schicksal, über die Hilfsbereitschaft der Ruhrstädter. Nun haben wir wieder mit Nataliya Koshel gesprochen - und vor allem mit ihren Eltern Svitlana (64) und Ihor (69), die weiterhin in der Ukraine leben und nun erstmals gemeinsam ihre Tochter zu deren 40. Geburtstag in Witten besuchen. Ein Gespräch über Leben und Tod, Heimat und Hoffnung, Katzen und Tomaten.

Wie sicher fühlen Sie sich momentan in der Ukraine, haben Sie Angst?

Ihor Koshel: Wir haben wirklich Angst. Vor zwei Monaten sind zwei historische Museen in Lwiw beschossen worden, und zwar sehr präzise. Mit zwei weiteren Raketen ist ein Uni-Gebäude zerstört worden, an der Universität, wo meine Tochter und ich studiert haben. Die Mutter sagt: Es ist ständig eine innere Unruhe da. Viele Bekannte und Freunde sind an der Front. Mindestens zweimal am Tag hört man in Lwiw die Sirene. Der Vater: Oder der Strom fällt für zwölf Stunden aus. Das laute Geräusch der Generatoren in Wohnungen und Geschäften ist für mich das Geräusch dieses Krieges. Wir besuchen sehr oft Beerdigungen von Gefallenen. Einerseits ist der Schmerz sehr groß. Andererseits sind wir sehr stolz auf die Menschen, die unsere Heimat verteidigen.

Wie sehr hat der Krieg Ihr Leben persönlich verändert?

Svitlana und Ihor Koshel: Anfangs haben wir zuhause viele Binnenflüchtlinge aufgenommen. In unserem Ort Horodok in der Mitte zwischen Lwiw und der polnischen Grenze leben normalerweise 18.000 Einwohner. Jetzt kommen 3000 Flüchtlinge dazu. Das ist eine große Herausforderung. Die einen kommen weit aus dem Osten, die anderen weit aus dem Westen. Wir haben auch den Menschen geholfen, die nur Russisch sprechen, und Unternehmen, die mit immer neuen Leuten anfangen müssen.

Warum sind Sie nicht selbst geflüchtet? Es wäre für Sie ja ein Leichtes gewesen mit einer Tochter, die schon so lange in Deutschland lebt.

Ich (der Vater spricht) kann nicht auswandern und anderen Flüchtlingen einen Platz wegnehmen, deren Städte es nicht mehr gibt und die alles verloren haben. Außerdem (lachend) habe ich noch ein Jagdgewehr und will meinen Ort verteidigen. Wir sind nur zehn Tage in Witten. Zuhause wartet die Katze, und wir müssen die Tomaten ernten.

Die Koshels berichten in der Wittener City-Wohnung ihrer Tochter Nataliya über die Situation in der Ukraine.
Die Koshels berichten in der Wittener City-Wohnung ihrer Tochter Nataliya über die Situation in der Ukraine. © Jürgen Augsteiwn | Jürgen Augstein

Wann hört der Krieg auf?

Mutter Svitlana: Das wissen wir nicht, wann der Krieg zu Ende ist. Wir hören aber nicht auf daran zu glauben, dass wir ihn gewinnen. Das schaffen wir aber nicht ohne Hilfe von außen. Kapitulation ist keine Option. Dafür haben wir schon einen zu hohen Preis bezahlt.

Wie ist die Stimmung in Ihrer Stadt, in Ihrem Land?

Ihor Koshel: Die Menschen glauben fest daran, dass wir gewinnen, das Land dann wieder aufbauen und Mitglied der EU werden. Ein kleiner Teil der Bevölkerung ist dafür, (von Russen besetzte) Gebiete wie Luhansk im Osten und die Krim abzugeben. Das ist aber kein Trend.

Wie bewerten Sie die Hilfe Deutschlands für die Ukraine?

Deutschland hilft langsam, aber sehr konstant. Die Patriots (Flugabwehrraketensystem) sorgen subjektiv für ein Gefühl der Sicherheit.

Wie groß ist Ihre Freude, Ihre Tochter, Ihren achtjährigen Enkel und Ihren Schwiegersohn jetzt in Witten zu sehen?

Svitlana Koshel steht bei dieser Frage wortlos auf und umarmt ihre Tochter Nataliya. Die sagt: Wir skypen und telefonieren oft. Aber mein Papa ist zum ersten Mal hier. Dabei lebe ich schon 15 Jahre in Deutschland. Sie haben in Horodok ein Haus, einen Riesengarten und sind sehr gebunden.

Wie fühlt es sich an, sich vorübergehend in einem sicheren Land wie Deutschland aufzuhalten?

Vater Ihor: Ich habe 65 Jahre ein normales Leben geführt und lebe nun seit zweieinhalb Jahren unter diesen Umständen. Es ist also normal für mich. Das andere, der Krieg, ist die Ausnahme. Aber es ist ein schönes Gefühl, hier zu sein.