Witten. Ukrainische Kinder müssen ganz von vorn anfangen. In Witten kümmert sich um sie eine Frau, die ihr Land verlassen hat, um zu helfen.
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Der kleine Nazar sitzt mit anderen Kindern aus der Ukraine am Tisch und malt. Doch die Umrisse eines Autos wollen und wollen ihm nicht gelingen. Da zerreißt er das Papier, bis nur noch Fetzen übrig sind. Das Ganze wiederholt sich beim zweiten Versuch. Ein anderer Junge schaut derweil gedankenverloren zum Fenster hinaus. Als Irina Dokiienko ihn anspricht, dauert es einen Moment, bis er überhaupt reagiert.
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Die 30-jährige ist von Beruf Psychologin, betreut in der Flüchtlingsunterkunft von Annen, im deutsch-ukrainischen Hilfsverein Wolja, beim Help-Kiosk und der Awo Mädchen und Jungen, die mit ihren Müttern vor dem Krieg geflohen sind. „Die allermeisten fühlen sich vollkommen fremd in ihrem neuen Zuhause, vermissen ihre vertraute Welt und allen voran ihren Vater“, erklärt die junge Frau. Dadurch staut sich Frust auf, der in Wut und Aggression umschlägt oder auch zum Abschotten führen kann.
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Psychologin kam auf Umwegen nach Witten
Szenen wie an diesem Morgen gehören für die Psychologin zum Alltag. Sie versucht, die Kinder aufzufangen, so gut es geht – ob durch Musik, Spiele oder Gespräche darüber, was den Kleinen gerade durch den Kopf geht.
Irina hat bis zum Frühjahr vergangenen Jahres in Nikolajew gelebt, 40 Kilometer von der Front entfernt,. Nach ihrem Studium arbeitete sie in der Ukraine für ein Inklusionsprojekt. Als es eines Tages hieß, die Geflüchteten benötigten psychologische Hilfe, ging sie erst nach Warschau, das einen großen Tross Ukrainer aufgenommen hatte. Schließlich kam sie auf Umwegen nach Witten.
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Kinder spüren die Ängste ihrer Mütter
Die Sätze, die Irina von den Kindern zu hören bekommt, sind ihr inzwischen schon vertraut. Die Kleinen erzählen, wie sie Freundinnen und Freunde vermissen oder auch ihr Spielzeug, das sie zurücklassen mussten. Und überhaupt sei ihnen nicht nur die Sprache, sondern doch alles fremd.. Das fängt schon bei Kleinigkeiten an, die es für die Kinder aber nun mal nicht sind.
„Bei uns in der Ukraine ist alles sehr bunt, beispielsweise auch die Wände in einer Wohnung“, sagt die Psychologin. „Hier sind sie meist kahl und weiß.“ Auch die Essgewohnheiten seien unterschiedlich. „Die Kinder erleben, dass Fastfood und Pizza in Deutschland sehr beliebt sind. In der Ukraine gehört Suppe zu fast jeder Mahlzeit, Mehlspeisen sind sehr beliebt.“ Irina versucht zu erklären, zu vermitteln und erzählt von der Hilfe, die Deutschland für die Flüchtlinge leistet.
Zudem spüren die Kinder, wie es ihren Müttern ergeht, sagt die Psychologin. Die leben in ständiger Angst um ihre Männer und müssen sich ebenfalls in einer neuen Umgebung zurechtfinden, eine ganz neue Sprache lernen.
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Mitunter werden sowohl die Kinder als auch die Eltern die Bilder vom Krieg nicht mehr los, haben das Sirenengeheul vom Luftalarm noch in den Ohren und Bombenabwürfe vor Augen. „Viele Kinder aus meiner Gruppe werden nachts wach, von Albträumen geplagt.“
Manchmal gerät Irina an ihre eigenen Grenzen. Dann schaltet sie Spezialisten ein, „die mit passenden Therapien beginnen“. Fachliche Hilfe nimmt die Ukrainerin auch selbst in Anspruch, um die Erlebnisse, die tagtäglich auf sie einprasseln, zu verarbeiten. Von Belastung will sie ganz bewusst nicht sprechen. Dafür liegt ihr die Sorge um die Kinder viel zu sehr am Herzen.
Sie ist sehr froh, dass Vereine wie Wolja Gemeinschaftsabende anbieten, bei denen ukrainische Familien zusammenkommen. Mal wieder unter sich zu sein, empfinden die Kinder als äußerst wohltuend, die Erwachsenen allerdings ebenso.
Solche Treffen sind auch für die Psychologin ein wichtiger Ankerplatz. Der enge Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen ihres Fachs, die wie sie aus der Ukraine stammen, ist für sie ebenfalls ein starker Rückhalt. Den braucht sie auch aus familiären Gründen.
Ukrainerin in großer Sorge um ihren Bruder
Ihr Bruder kämpft an der Front und das schon seit kurz nach Kriegsbeginn. Der plötzliche Wintereinbruch mit Eis und Schnee brachte ihn noch zusätzlich in Lebensgefahr, hatte er doch Erfrierungen an den Beinen und Füßen. Doch die Ärzte konnten den Bruder retten, der gleich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zur Front zurückkehrte.
Die quälende Ungewissheit, wie es ihm gerade geht, aber auch die Sorge um ihre Eltern machen Irina sehr zu schaffen. Mama und Papa würde sie gern nach Deutschland holen, doch die lehnen das ab. Sich damit abzufinden, fällt ihr schwer, aber sie will hier bleiben. Die Kinder, betont sie, brauchen ihre Hilfe.