Duisburg. Im Duisburger Norden war die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2021 die deutschlandweit niedrigste. Warum? Menschen in Marxloh nennen viele Gründe.
Kreiswahlleiter Martin Murrack hofft, dass sich an der Bundestagswahl in Duisburg mehr Menschen als 2021 beteiligen. Damals waren die Nichtwähler in Duisburg die größte Gruppe. Im Wahlkreis II im Norden gab es mit 63,3 Prozent die deutschlandweit niedrigste Wahlbeteiligung. In dieser Nichtwähler-Hochburg stellte Marxloh zuletzt den Negativrekord auf: Dort gingen nur 28,77 Prozent derjenigen wählen, die als deutsche Staatsangehörige bei der Europawahl mit abstimmen durften. Die AfD erhielt die Mehrheit, benötigte dafür nur 266 Stimmen. Im Stadtteil leben über 22.000 Menschen, aber nur etwa 5000 sind am Sonntag wahlberechtigt. Warum nutzen von ihnen so wenige ihr Recht?
Eine Antwort gibt Birol Kalkan wie aus der Pistole geschossen: „Die Leute hier werden von der Politik schlecht behandelt. Politiker haben kein Interesse an Marxloh. Die kommen hier nicht hin. Die wissen nicht, wie wir hier leben müssen.“ Kalkan lebt seit 25 Jahren in Marxloh, hat vor sieben Jahren den Schlüsseldienst im Marxloh-Center übernommen.

Was für seinen Eindruck spricht: Die einzige Podiumsdiskussion mit Bundestagskandidaten, die vor der Bundestagswahl in Marxloh geplant war, wurde abgesagt – wegen einer Demo gegen rechts im Zentrum der Stadt, in der so viel mehr als die Ruhr den Norden vom Süden trennt.
Birol Kalkan selbst gehört zur großen Mehrheit der Marxloher, die sich an der Bundestagswahl nicht beteiligen dürfen, weil sie nicht deutsche Staatsangehörige sind. Er ärgert sich: „Ich habe ein Haus gekauft, ich habe ein Geschäft. Meine drei Kinder sind hier geboren, aber eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung habe ich immer noch nicht.“
Menschen in Duisburg-Marxloh werden „in vielen kleinen Dingen jeden Tag benachteiligt“
Die Marxloher, meint er, würden „in vielen kleinen Dingen jeden Tag benachteiligt. Die kümmern sich hier um gar nichts. Hier gibt es keine Bäume, keine Bänke für die alten Leute, keine Toilette“, redet er sich in Rage.
Die Stadt will den August-Bebel-Platz mit Geld aus dem 50 Millionen-Euro-Förderprogramm „Stark im Norden“ umbauen. Viele Parkplätze sollen wegfallen – was Kalkan nur auf das nächste Beispiel bringt: „Ich zahle mit meinen Steuern für die Straßen, aber parken kann ich hier nicht. Meine Kinder kommen abends von der Arbeit und können vor lauter Autos nicht parken. Was soll das?“ Es gebe zu wenige Parkplätze, zu viele Autos mit bulgarischen und rumänischen Kennzeichen.
Burak Yilmaz: „Kaum Plakate, keine Bürgerdialoge und Parteistände“

„Kaum Plakate, keine Bürgerdialoge und Parteistände – Marxloh ist der Politik völlig egal“, kritisiert Burak Yilmaz. Der in Obermarxloh aufgewachsene Autor und Podcaster scherzt auf Instagram bitter: „Hier ist der Wahlkampf so sichtbar wie ein freundlicher Mitarbeiter beim Jobcenter.“ Wahlplakate gebe es anders als in der Stadtmitte und im Duisburger Süden in den Nebenstraßen Marxlohs kaum, ähnlich viele nur auf der Einkaufsstraße und vor der Merkez-Moschee.
Auch auf dem August-Bebel-Markt hängen ein paar. Auf dem Wochenmarkt hier sucht man einen Stand mit Lebensmitteln vergebens. Verkauft werden vor allem Billigkleidung und Schmuck. „Das kann man nicht essen“, schimpft Ilona Elsner, 61. „Wer lebt hier schon gerne? Es gibt keine Einkaufsmöglichkeiten mehr, keinen Bäcker, keinen Metzger, gar nichts mehr für Deutsche. Der Aldi war das beste und einzige.“ Der Discounter schloss Ende 2023, für frisches Obst und Gemüse fehlt vielen Marxlohern das Geld.
Ihre Enkelkinder könne sie nicht mehr allein vor die Tür lassen, meint Elsner: „Die werden bedroht. An jeder Ecke werden Drogen verkauft, bei uns im Hinterhof liegen die Spritzen.“ Ob sie wählt? „Früher hab‘ ich SPD oder CDU gewählt, aber die machen ja nichts für uns Deutsche. Also müssen wir jetzt die wählen, die hier hoffentlich aufräumen.“
Kazim (42): „Nach den Anschlägen werfen viele Deutsche alle Muslime in einen Topf“
Die AfD steht auch bei türkeistämmigen Wählern hoch im Kurs, die in Teilen rechtsextreme Partei bemüht sich zum Beispiel auf TikTok gezielt um sie. Lkw-Fahrer Kazim, 42, türkischer Staatsangehöriger, berichtet: „Viele Bekannte und Freunde wählen AfD.“ Warum? Sie seien „verzweifelt. Meiner Meinung greift die deutsche Politik nicht hart genug durch. Aber es muss was passieren.“
Seit der Flüchtlingskrise 2015 sei „alles nur schlimmer geworden“, findet er. Nach den Anschlägen von Solingen und Magdeburg habe er sich mit seinen Kindern nicht mal auf den Weihnachtsmarkt getraut. Was ihn ebenfalls besorgt: „Nach den Anschlägen werfen viele Deutsche alle Muslime in einen Topf.“
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Nahostkonflikt: „Viele Muslime sind sehr enttäuscht von Regierung, Parteien und Medien“
Das bedrückt auch eine 54 Jahre alte Geschäftsfrau. Sie arbeitet auf der „Brautmodenmeile“, der Weseler Straße. Ihren Namen möchte sie wie so viele Gesprächspartner an diesem Tag lieber nicht nennen. Sie fürchte negative Konsequenzen für ihr Geschäft. Die Frau, die seit ihrem achten Lebensjahr in Deutschland lebt, sagt, sie sei wie so viele Muslime „sehr enttäuscht von der deutschen Regierung, von den Parteien und den Medien“.
Ihnen wirft sie zum Krieg zwischen Israel und der radikal-islamistischen Hamas „Doppelmoral“ vor: „Da werden Zehntausende abgeschlachtet, und Deutschland reagiert nicht. Das ganze Geld geht in die Kriege, und die fleißigen Arbeitenden werden bestraft. Darum sind wir alle unzufrieden.“ Sie schaue deshalb seit einem Jahr kein deutsches Fernsehen mehr, „und zum ersten Mal seit 30 Jahren weiß ich nicht, wen ich wählen soll“. Die AfD sicher nicht, die mache ihr Angst.
Die 54-Jährige hat im Geschäft mit Menschen aller Herkunftsländer zu tun, mit besser und schlechter gebildeten, armen und wohlhabenden. Welche Erklärung sie für die niedrige Wahlbeteiligung hat? „Weil Politiker nicht machen, was sie sagen. Weil sich viele hier ungerecht behandelt fühlen.“ Andere Gruppen lebten „in ihrem eigenen Kosmos. Sie verstehen kaum Deutsch, schauen kein Fernsehen, lesen nicht die Medien. Die kennen nicht mal die Parteien.“
Taxifahrer: „Wir haben kaputte Schulen und Straßen, aber von unserem Geld wurde die DDR wieder aufgebaut“
Die türkeistämmigen Taxifahrer vom August-Bebel-Platz kennen die deutschen Parteien. Sie erinnern sich gut an den Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Marxloh. 2015 war das. Schon damals wurde bundesweit über Marxloh berichtet, über die angebliche „No-go-Area“, kriminelle Schlepper, die Konflikte mit neu zugewanderten Sinti und Roma aus Bulgarien und Rumänien.
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„Frau Merkel hat gesagt, sie nimmt unsere Sorgen mit nach Berlin, aber es ist alles noch schlimmer geworden“, meint ein 56-Jähriger. „Wir haben kaputte Schulen, kaputte Straßen, aber von unserem Geld wurde lieber die DDR wieder aufgebaut.“ Er lebe seit 55 Jahren in Marxloh: „Leider ist das hier ein Ghetto geworden. Hier leben nur Ausländer und sozial schwache Deutsche.“ Die Wohlhabenderen seien längst weggezogen.
Zur Armut der Verbliebenen sagt der Mann, auch seine Existenz sei wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten in Gefahr: „Zwei Jobs reichen nicht mehr, um über die Runden zu kommen.“ Die Existenzangst der Befragten scheint sich inflationsbedingt in Panik zu verwandeln. „Ein kleines Stück Butter kostet 2,50 Euro!“ „Sparen? Wo sollen wir denn noch sparen!?“

Er habe 40 Jahre für einen „Hundelohn“ auf dem Bau geackert, berichtet ein 57-Jähriger. „Jetzt ist mein Rücken kaputt, aber von meiner Rente kann ich nicht leben.“ Die Bundesregierung solle „Geld nicht in andere Länder und die Ukraine schicken. Die sollen sich um die Leute kümmern, die das Land aufgebaut haben.“
Politikwissenschaftler: Je größer die soziale Spreizung, desto geringer die Wahlbeteiligung
Je geringer das Einkommen und je niedriger das Bildungsniveau, desto geringer ist das Interesse an Politik, lautet eine Erkenntnis der empirischen Politikwissenschaft. Wegen der abnehmenden politischen Legitimation hatte die Stadt eine Studie bei der Uni Duisburg-Essen beauftragt. „Je größer die soziale Spreizung, desto stärker wird die Wahlbeteiligung gedrückt“, erklärte bei der Vorstellung der Ergebnisse 2022 Politologe Martin Florack. In Duisburg sei die „soziale Spreizung einfach irre groß“.
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
Die soziale Schieflage der Stadt, so Florack, berge die Gefahr von „Ansteckungseffekten“ in prekären sozio-ökonomischen Lagen: „Wenn in einem Mehrfamilienhaus 70 Prozent der Menschen als Ausländer kein Wahlrecht haben und sich mit Politik gar nicht beschäftigen, kann das einen negativen Einfluss auf das politische Interesse der anderen 30 Prozent haben.“ Die „Entpolitisierung ganzer Milieus“ führe dazu, „dass Politik gar keine Rolle mehr im Leben vieler Menschen spielt“.
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