Duisburg. Nichtwähler waren bei der Landtagswahl in Duisburg erstmals in der Mehrheit. Wie man der massiven Wahlverdrossenheit zukünftig begegnen kann.
Dass die Auszählung der Stimmzettel in Duisburg diesmal bereits vor 22 Uhr beendet war, ließ für die Landtagswahl 2022 Böses erahnen: Die Helfer hatten mancherorts schlicht nicht viele Zettel in den Wahlurnen. In Duisburg ist die Wahlbeteiligung auf einen historisch schlechten Wert eingebrochen: auf 46,82 Prozent (2017: 58,67 %; 2012: 53 %; 2010: 54,42 %). Andersherum: Die Nichtwähler sind mit 53,18 Prozent erstmals bei einer Landtagswahl die absolute Mehrheit. Aber wie kann das sein, dass immer weniger Menschen von ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen? Wir begeben uns – auch nach dieser Wahl – auf eine Spurensuche.
Zur Einordnung vorab: Die Wahlbeteiligung ist in NRW insgesamt auf einen historischen Tiefstwert von 55,5 Prozent gesunken (2017: 65,2 %; 2000: 56,7 %). Unter Politikwissenschaftlern ist umstritten, ob und ab welchem Wert eine niedrige Wahlbeteiligung Demokratien schaden kann. Im von Strukturwandel, Migration und Armut geprägten Duisburg jedenfalls sinkt diese Form der politischen Beteiligung seit Jahren – auf einem im NRW-Vergleich auffallend niedrigen Niveau. Fest steht: Je niedriger die Wahlbeteiligung, desto stärker sind Wahlen – und in der Folge oft politische Prozesse – sozial verzerrt: Denn unter den Nichtwählern sind Bürger mit niedrigem Bildungsniveau und geringerem sozio-ökonomischem Status nachweislich überrepräsentiert.
Wahlkreis Duisburg III auf Rang 128: Nirgends in NRW wählten weniger
Zu dieser in der Forschung unstrittigen Erkenntnis passen die gravierenden Unterschiede im Duisburger Stadtgebiet: Der Wahlkreis mit der landesweit niedrigsten Wahlbeteiligung ist Duisburg III, dem die Bezirke Hamborn, Meiderich/Beeck und einige Mitte-Stadtteile angehören. 38,1 Prozent Wahlbeteiligung – das ist Rang 128 im NRW-Ranking. Duisburg II (Westen und Bezirk Walsum) kommt mit 47,8 Prozent auf Rang 118, Duisburg I mit 54,1 Prozent auf Rang 78. Zum Vergleich: Den Höchstwert hält Köln II mit 68,8 Prozent.
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Das innerstädtische Gefälle ist gleichwohl noch ausgeprägter, wie ein Blick auf die 36 Kommunalwahlbezirke verdeutlicht: In Marxloh haben von 4650 Wahlberechtigten nur 943 ihre Kreuzchen gemacht (20,28 %). Von den sechs Kommunalwahlbezirken mit weniger als 35 Prozent Beteiligung liegen fünf im Norden, einer im Bezirk Mitte: Dellviertel-West/Hochfeld-Nord mit 33,22 Prozent (siehe Stadtkarte auf lokaler Seite 5). Der Duisburger Höchstwert wurde dagegen im äußersten, wohlhabenden Stadtsüden registriert: 64,41 Prozent in Großenbaum/Rahm.
Politikforscherin: Programme der Parteien waren kaum zu unterscheiden
Forscher haben einige Gründe für die schwindende Beteiligung ausgemacht. Die Politologin Dr. Julia Schwanholz von der Universität Duisburg-Essen sieht sie sowohl auf Landesebene als auch in Duisburg selbst. Tatsächlich sind die Forscher eher überrascht, dass die Wahlbeteiligung so gering ist, denn die Mobilitätsthese besagt, dass Menschen vor allem dann gehen, wenn es besonders knapp ist und sie das Gefühl haben, mit ihrer Stimme etwas bewegen zu können. „Das hat trotz des Kopf-an-Kopf-Rennens zwischen Wüst und Kutschaty nicht funktioniert“, konstatiert Schwanholz.
Hinzu komme die schlechte Unterscheidbarkeit der Programme, die sich besonders deutlich in den TV-Duellen gezeigt habe. Auf die Frage, welche Zitate in welchem Wahlprogramm zu finden seien, lagen selbst die Spitzenkandidaten falsch. „Viele Bürgerinnen und Bürger sind überfordert mit den Inhalten, finden es anstrengend, herauszuarbeiten, welche Partei wofür steht“, sagt Schwanholz. Wenn die Inhalte dann auch noch medial ungeschickt transportiert werden, lockt man keinen an die Urne.
Zu wenig Zeit für den Straßenwahlkampf
Dass durch die Osterferien die Zeit des Straßenwahlkampfs begrenzt war, sei ein weiterer Grund: Der persönlichen Begegnung auf Märkten oder an der Haustür komme eine „enorme Bedeutung“ zu. Diese Menschen würden zu Multiplikatoren in ihren Peer-Groups.
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Insgesamt sei die Gruppe der Nichtwähler sehr heterogen. Es gebe einen kleinen Teil, der gegen demokratische Prozesse ist, bei manchen gebe es technische Gründe. Manche Menschen leben sehr zurückgezogen und haben kaum Berührungspunkte mit der Politik. Wer vor Corona schon nicht in Vereinen oder im Ehrenamt aktiv war, hat es nun noch schwerer.
„Nichtwählen ist vererbbar“
Außerdem: „Nichtwählen ist vererbbar“, sagt Schwanholz. Wer mit dem Thema nicht aufwächst, findet als Erwachsener nur schwer hinein. Die Politologin betont, dass es außerdem eine Parteienverdrossenheit gibt – nicht zu verwechseln mit der Politikverdrossenheit. Die Menschen nehmen nicht mal die Plakate in ihrem Viertel wahr, kennen ihre Abgeordneten nicht und den Namen Bärbel Bas nur, weil er bundespolitisch bedeutsam sei.
Der Migrationshintergrund spiele abgesehen von Sprachproblemen eher keine Rolle. Vielmehr gehe es losgelöst von sozialen Schichten selbst bei gut Gebildeten mit hohem Einkommen darum, dass das Wissen um politische Zusammenhänge defizitär ist und viele die Abläufe nicht kennen oder wissen, wo welche Entscheidungen getroffen werden. Da weniger Zeitung gelesen werde, sei auch das schon ein intellektuelles Medium.
Um diese Abwärtsspirale aus mangelnder Teilhabe aller Bevölkerungsschichten aufzuhalten, brauche es Demokratie als Schulfach. Nur mehr Wissen führe langfristig zu mehr Beteiligung, ist die 41-Jährige sicher. Und nimmt in Kauf, dass Politik den Kindern in manchen Schulfächern „zum Halse raushängt“.
Stadtdirektor Martin Murrack: Politik-Erziehung schon in der Kita
Ähnlich sieht das Stadtdirektor Martin Murrack, der als Kreiswahlleiter nach der schlechten Beteiligung bei der Kommunalwahl 2020 eine Studie in Auftrag gab, die er in den kommenden Wochen vorstellen will und an der Julia Schwanholz beteiligt war.
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Er glaubt, dass Verwaltung und Politik künftig mit einfacheren Botschaften arbeiten müssten. „Die Verwaltung ist teilweise sehr verkopft, wir müssen einfacher in der Sprache werden, nahbarer sein“, sagt Murrack. Die Politik-Erziehung müsse spielerisch schon im Kindergarten anfangen. Und ähnlich wie bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie, wo das gut gelungen sei, brauche es Verbündete in den Kulturvereinen und Religionsgemeinschaften, Initiativen des Kommunalen Integrationszentrums, Multiplikatoren eben. Die Weitsicht, dass mit Wahlen auch die eigene Situation verbessert werden kann, haben nicht alle, bedauert der Stadtdirektor.
Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass Großstädte wie Duisburg mit großen sozioökonomischen Unterschieden in der Bevölkerung „nie eine Wahlbeteiligung wie in Delmenhorst haben werden“.
Rumänen und Bulgaren durften bei der Landtagswahl nicht wählen
Zuwanderer etwa aus Rumänien oder Bulgarien können für die geringe Wahlbeteiligung nicht verantwortlich gemacht werden. Als EU-Bürger dürfen sie nur an den Kommunal- und Europawahlen teilnehmen, nicht aber bei Landes- und Bundestagswahlen. Eine Ausnahme gilt nur für jene, die eine doppelte Staatsbürgerschaft haben.
Grundsätzlich wahlberechtigt ist, wer am Wahltag Deutscher im Sinne des Artikels 116, Absatz 1 des Grundgesetzes ist, das 18. Lebensjahr vollendet hat und mindestens seit dem 16. Tag vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen seine Wohnung, bei mehreren Wohnungen seine Hauptwohnung hat oder sich sonst gewöhnlich hier aufhält und keine Wohnung außerhalb des Landes hat, sagt Stadtsprecher Peter Hilbrands.
Insgesamt durften 317.217 Menschen ihre Stimme abgeben, genutzt haben dies 148.519, weniger als die Hälfte.
>> SO WAR DIE WAHLBETEILIGUNG BEI DEN LETZTEN WAHLEN
- Bei den Kommunalwahlen 2020 haben nur 39,2 Prozent ihre Stimme abgegeben. In den Nord-Bezirken Hamborn und Meiderich/Beeck nahmen jeweils weniger als 30 Prozent der Wahlberechtigten teil, ebenso in den beiden Hochfelder Wahlbezirken.
- Bei der Bundestagswahl 2021 ist die Wahlbeteiligung trotz Rekord-Briefwahl und Hochspannung erneut gesunken – besonders stark im Norden. Nur 68,08 Prozent der final 318.659 Stimmberechtigten machten ihre Kreuzchen (2017: 68,66 %). Zum Vergleich: NRW-weit lag die Wahlbeteiligung bei 76,4 Prozent. Im Nord-Wahlkreis betrug sie sogar nur noch 63,34 Prozent und gehörte damit erneut zu den bundesweit niedrigsten.
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