Duisburg. Warum wählen im Duisburger Norden so viele Menschen die AfD? Wir haben sie gefragt. So ist die Stimmung in einem der umkämpftesten Wahlkreise Deutschlands.
Es ist Markttag in Duisburg-Neumühl. Auf dem Wochenmarkt werben Lebensmittelhändler um Kunden und Wahlkämpfer um Stimmen. In den Straßen um den Hohenzollernplatz hängen drei Wochen vor der Bundestagswahl an jedem zweiten Laternenmast Wahlplakate der AfD. Am Rande des Wochenmarktes steht AfD-Direktkandidat Sascha Lensing mit einigen Helfern, ein paar Meter weiter CDU-Kandidat Björn Pollmer. Für die SPD werben unweit entfernt Genossinnen und Genossen, auch das Bündnis Sahra Wagenknecht hat sich positioniert. Den größten Andrang verzeichnet aber der AfD-Stand. Lensing frohlockt: „So viel Zuspruch haben wir noch nie erlebt.“
Der Wahlkreis Duisburg II, der den Stadtnorden und den Nordwesten umfasst, ist einer der am stärksten umkämpften Wahlkreise in NRW. Seit 1961 haben hier zwar Sozialdemokraten das Direktmandat gewonnen, aber seit einigen Jahren wachsen der Anteil der Nichtwähler und der Stimmenanteil der AfD im Duisburger Norden rasant.
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Bei den Europawahlen im Vorjahr war Neumühl die Duisburger Hochburg der in Teilen rechtsextremen Partei: Hier holte sie 30,64 Prozent der Stimmen – etwa 8,1 Prozentpunkte mehr als die zweitplatzierte CDU. Ein Blick auf die übergeordneten sieben Duisburger Stadtbezirke verdeutlicht den Rechtsruck im Norden: Bei der Europawahl gewann die AfD in den Bezirken Hamborn (mit Stadtteilen wie Marxloh und Neumühl) und Meiderich/Beeck deutlich mehr Stimmen als SPD und CDU. Im bürgerlichen Bezirk Walsum hatten CDU und SPD nur noch knapp die Nase vorn.
Zuspruch für die AfD in Duisburg: „Ich fühle mich von der SPD nicht mehr vertreten“
Kundinnen und Kunden auf dem Neumühler Wochenmarkt verwundert der große Zuspruch für die AfD nicht. „Das liegt daran, dass der Ausländeranteil so groß ist, dass wir hier verdrängt werden“, meint ein 74-Jähriger. „Die Leute sind es leid. Sie haben Angst.“ Er nennt als Beispiel die Schießerei zwischen migrantischen Mitgliedern der Hells Angels und Angehörigen einer libanesisch-türkischen Großfamilie 2022 auf dem Hamborner Altmarkt.
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Er selbst sei „aus Hamborn geflüchtet“, sagt der Elektrotechnikermeister. „In jede leere Wohnung ziehen Migranten. Da gibt’s kein Geschäft mehr, in dem wir einkaufen können, nur noch Imbisse, Cafés, Teestuben und Friseure.“ Der Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, war nach eigenen Angaben 40 Jahre SPD-Mitglied. Bis 2024. „Ich fühle mich von der SPD nicht mehr vertreten. Menschen in Not muss man helfen, aber hier wird das Asylrecht derart missbraucht, dass es außer Kontrolle gerät.“
Ein 73-Jähriger, er war Maler und Lackierer, sieht es ähnlich: „Unser Brauchtum wird verdrängt. Ich bin es satt, was hier passiert. Man kann das auch nicht kritisieren, ohne dass man beschimpft wird. Aber hier denken viele Deutsche so.“ Seine Frau, 71, ergänzt: „Viele Freunde und Bekannte sind weggezogen. Meine Enkelin ist das einzige deutsche Kind in der Klasse.“
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AfD-Hochburgen haben viele Gemeinsamkeiten
Auf der umstrittenen Wahlkreiskarte, für die Insa die aktuelle Sonntagsfrage ohne Vor-Ort-Befragungen auf Wahlkreisebene herunterrechnet, sind Anfang Februar zwei westdeutsche Wahlkreise blau eingezeichnet: Die AfD soll demnach in den Wahlkreisen Gelsenkirchen und Duisburg-Nord vorn liegen (siehe Textende). Die beiden Wahlkreise haben einige Gemeinsamkeiten: Bei der Kaufkraft sind sie im Bundesvergleich weit abgehängt, viele Erwachsene und Kinder leben in Armut oder sind davon bedroht. Gelsenkirchen und Duisburg verzeichnen die höchsten Arbeitslosenquoten im Ruhrgebiet, hier sind in der Industrie zehntausende Arbeitsplätze weggefallen.
Und beide Städte überfordert der Zuzug von Bulgaren und Rumänen seit Jahren, Kommunalpolitiker beklagen fehlende Unterstützung aus Berlin und Brüssel. Neumühl ist einer der Stadtteile, in denen das Klima von Konflikten zwischen diesen EU-Ausländern und anderen Bewohnern geprägt ist.
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Der Eigentümer eines verwahrlosten Wohnkomplexes soll seit Sommer 2024 keine Mietverträge mehr abgeschlossen haben, trotzdem beobachten Anwohner, dass meist nachts immer wieder Menschen an die Otto-Hahn-Straße gebracht werden, die weitere Wohnungen illegal besetzen. Nachbarn beklagen Vermüllung, Bedrohungen, Diebstähle (wir berichteten).
Rentner beklagt: „Viele kämpfen, um über die Runden zu kommen“
Um die Ecke wohnt Karl-Heinz Schenk, er geht gerade mit seinem Hund Gassi. Er ist hier aufgewachsen, war Maschinenschlosser bei RWE. „So sah es hier noch nie aus“, sagt der 73-Jährige. „Die Leute haben Angst, trauen sich nicht mehr raus, die sind sauer. Wir reden seit Jahren über die Probleme, aber die Politik ändert nichts. Hier geht’s den Bach runter, und in der Politik gibt‘s nur Uneinigkeit. Die Leute haben die Schnauze voll.“
Er auch. Er sei dreimal bedroht worden. Zuletzt hätten ihn junge Männer angegriffen und zu Boden gestoßen. „Meine Knie waren blutig.“ Warum? Er habe sie aufgefordert, mit dem E-Roller auf dem Radweg statt auf dem Gehweg zu fahren. „‚Bist du Polizist, du scheiß Deutscher!‘, haben sie gesagt“, erzählt Schenk. Mit seinen türkischen Nachbarn habe er solchen Ärger nie gehabt. „Wir verstehen uns gut.“
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„Wer Hilfe braucht, soll sie bekommen. Aber die Neuen, die sind nur wegen des Geldes hier“, glaubt der Rentner. „Und für uns wird alles teurer, das Benzin, das Essen, die Grundsteuer – das Leben. Viele kämpfen, um über die Runden zu kommen. Hier sind alle unzufrieden ohne Ende.“ Er werde seine Konsequenzen ziehen. „Ich hab immer SPD gewählt, aber da passiert ja nichts.“ Er werde sein Kreuz diesmal wohl bei der AfD machen.
„Die sind nicht blöde, die fühlen sich komplett im Stich gelassen“
Frust, Angst und Wut seien in Neumühl weit verbreitet. Das berichtet eine Verkäuferin: „Der ganze Müll, die Kriminalität, das ist schlimm. Viele Rentner müssen Flaschen sammeln gehen.“ Ihre Kollegin meint: „Ich kenne viele, die AfD wählen, weil sie die Hoffnung haben, dass hier Ruhe und Ordnung einkehren.“ Trump sei für viele „ein Vorbild, weil der aufräumt“.
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Einen 66-jährigen Passanten lässt dieser Glaube an einfache Lösungen verzweifeln. „Der Stadtteil ist zermürbt. Die Leute wählen aus Hilflosigkeit AfD, obwohl es keinen Sinn macht.“ Er habe mit vielen geredet und sie überzeugen wollen, nicht ausgerechnet die Partei zu wählen, die Politik gegen die kleinen Leute mache. „Ich erreiche sie aber nicht mehr. Die sind nicht blöde oder böse. Die fühlen sich nicht gehört, komplett im Stich gelassen.“
Vom 50 Millionen Euro schweren Förderprogramm „Stark im Norden“ etwa, mit dem die Stadtteilzentren von Marxloh und Alt-Hamborn umgebaut werden, bekommt in Neumühl oder Meiderich kaum jemand etwas mit.
Auch Menschen mit Migrationsgeschichte wählen AfD
Bei der Bundestagswahl 2021 hatte der Wahlkreis Duisburg II die deutschlandweit niedrigste Wahlbeteiligung (63,3 %), auch davon profitiert die AfD. Allerdings konnten die Rechten in Duisburg auch dort punkten, wo die Beteiligung nicht am Boden ist, etwa in Vierteln, in denen viele Russlanddeutsche und Türkeistämmige leben. Björn Pollmer, dem CDU-Kandidaten im Norden, bereitet dies große Sorgen. Er habe mit Menschen aus muslimischen Gemeinden gesprochen, „die sagen, sie wählen die AfD, weil hier viele Leute unberechtigt Transferleistungen bekommen. Die trauen Parteien der Mitte keine Lösungen mehr zu.“ Pollmer spricht von einem „Riesen-Dilemma“.
Auf dem Wochenmarkt in Neumühl berichtet eine 82 Jahre alte Deutsch-Polin, die seit über 30 Jahren in Deutschland lebt, auch in ihrem Bekanntenkreis setzten viele Aussiedler Hoffnungen in die AfD: „Aber mir macht die AfD Angst. Wer weiß, wen die alle in die Wüste schicken wollen, vielleicht auch uns?“
AfD-Kandidat Sascha Lensing und seine freiwilligen Wahlkämpfer werben auch in migrantisch geprägten Nachbarschaften auf der Straße um Stimmen. Was die Menschen bewegt? „Migration, Migration, Migration und Kriminalität. Dann Thyssenkrupp, die Wirtschaft.“ Viele Menschen mit Migrationshintergrund, so Lensing, hätten keine Berührungsängste mehr: „Die wollen auch wissen, was wir unter ‚Remigration‘ verstehen und fragen, ob wir wollen, dass sie selbst rausmüssen.“ Was er antwortet? „Natürlich nicht. Gut integrierte, anständige Menschen sind uns willkommen.“
Lensing wird sicher Abgeordneter im neuen Bundestag, er wird über den Listenplatz 6 einziehen. Beflügelt vom Bundestrend und vom Zuspruch auf der Straße sagt der AfD-Kandidat aber auch: „Ich will das Direktmandat holen.“
>> Wahlkreis Duisburg II / Wahlkreis-Prognosen
- 2021 gewann im Wahlkreis Mahmut Özdemir (SPD) mit 39,4 Prozent der Erststimmen, der CDU-Kandidat erhielt 20, der AfD-Bewerber 13,8 Prozent der Stimmen. Wie Özdemir, Pollmer (CDU) und Lensing (AfD) zählt auch der Grünen-Vorsitzende Felix Banaszak zu den neun Direktkandidaten im Wahlkreis Duisburg II (2021: 10,4 %).
- Meinungsforscher und Statistiker versuchen den Ausgang der Wahl in Wahlkreisen aus Bundestrends abzuleiten – also ohne vor Ort repräsentative Befragungen durchzuführen. Darum sind die Schlüsse und Prognosen mit großer Vorsicht zu betrachten.
- Die Meinungsforscher von Insa, die auch die Bild-Zeitung beliefern, berechneten Ende Januar für den Wahlkreis Duisburg II „eine wahrscheinliche Wahlkreismehrheit mit mehr als 3%-Punkten Vorsprung für die AfD“. Die Seiten Wahlkreisprognose und Election.de dagegen sehen die SPD knapp vorn.