Duisburg. Der Anteil der Nichtwähler steigt in Duisburg stetig. Politikwissenschaftler haben nachgeforscht. Es gibt überraschende und bittere Ergebnisse.

In der Nichtwähler-Hochburg Duisburg folgte in den vergangenen Jahren ein Negativ-Rekord auf den nächsten. Den historischen demokratischen Tiefpunkt – eine Wahlbeteiligung von nur 39,15 Prozent bei den Kommunalwahlen 2020 (NRW-Schnitt: 51,9 %) – nahm Stadtdirektor und Kreiswahlleiter Martin Murrack zum Anlass, eine Studie bei der Uni Duisburg-Essen (UDE) zu beauftragen. Nun hat Politologin Julia Schwanholz die spannenden, aber auch ernüchternden Ergebnisse zum „Wahlabsentismus bei der Kommunalwahl 2020“ vorgestellt.

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Murrack und Oberbürgermeister Sören Link hatten zur Präsentation alle Ratsleute und Bezirksvertreter eingeladen, nur etwa 20 waren am Dienstagabend der Einladung ins Rathaus gefolgt. Dennoch entwickelte sich ein überraschend ergiebiger Austausch auch darüber, wie man der „abnehmenden demokratischen Legitimation“ (Sören Link) entgegenwirken will (zum Bericht).

Wahlabsentismus in Duisburg: je größer die soziale Spreizung, desto geringer die Wahlbeteiligung

Politikwissenschaftler Martin Florack erläuterte zunächst allgemein belegte statistische Zusammenhänge („Korrelationen“), die in Duisburg besonders wirkmächtig sein dürften. Etwa: je geringer das Einkommen und je niedriger das Bildungsniveau, desto geringer ist das Interesse an Politik.

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Florack verwies zwar darauf, dass „Korrelationen keine Erklärungen“ sind („Wir wissen zu wenig über die Gründe dahinter“), betonte aber auch diese mutmaßlich „wichtige Stellgröße für Duisburg“: „Je größer die soziale Spreizung, desto stärker wird die Wahlbeteiligung gedrückt“. In Duisburg sei die „soziale Spreizung einfach irre groß“, schon in Oberhausen gebe es eine „geringere Abweichung zwischen armen und reichen Vierteln“, bescheinigte Florack, der seit Mai für die Nachbarstadt arbeitet.

Politikwissenschaftler Martin Florack (ehemals NRW School of Governance an der Uni Duisburg-Essen, jetzt Stadt Oberhausen) stellte in Duisburg Erklärungsansätze für sinkende Wahlbeteiligung vor. Julia Schwanholz (NRW School of Governance) präsentierte die Ergebnisse einer Fokusgruppen-Studie im Auftrag der Stadt Duisburg zu „Wahlabsentismus bei der Kommunalwahl 2020“.
Politikwissenschaftler Martin Florack (ehemals NRW School of Governance an der Uni Duisburg-Essen, jetzt Stadt Oberhausen) stellte in Duisburg Erklärungsansätze für sinkende Wahlbeteiligung vor. Julia Schwanholz (NRW School of Governance) präsentierte die Ergebnisse einer Fokusgruppen-Studie im Auftrag der Stadt Duisburg zu „Wahlabsentismus bei der Kommunalwahl 2020“. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Die „soziale Schieflage der Stadt“ berge zudem die Gefahr von „Ansteckungseffekten“ in prekären sozio-ökonomischen Lagen. Diese erklärte Florack so: „Wenn in einem Mehrfamilienhaus 70 Prozent der Menschen als Ausländer kein Wahlrecht haben und sich mit Politik gar nicht beschäftigen, kann das auch einen negativen Einfluss auf das politische Interesse der anderen 30 Prozent haben.“ Die „Entpolitisierung ganzer Milieus“ führe dazu, „dass Politik gar keine Rolle mehr im Leben vieler Menschen spielt“.

Zudem schlage die bundesweit „abnehmende Bindungswirkung der Parteien“ in ehemaligen Parteihochburgen wie im jahrzehntelang von der SPD dominierten Duisburg stärker durch: „Viele ehemalige SPD-Wähler entscheiden sich für die Nichtwahl.“ Einen weiteren Revier-spezifischen „Treiber“ der Wahlabstinenz nennt Florack die „begrenzte Output-Qualität der Kommunalpolitik“: „Kommunen wie Duisburg konnten wegen ihrer hohen Verschuldung seit 20 Jahren nicht gestalten. Wir reden seit 50 Jahren vom Strukturwandel, aber es geht nicht allen gleich gut. Wir haben stattdessen verfestigte Armut.“

Parteien- und Politikerverdrossenheit – keine Politikverdrossenheit

Julia Schwanholz, Julia Rakers und Oliver Hamann von der „NRW School of Governance“ der UDE hatten sich dagegen vor Ort auf die Suche nach individuellen Gründen für die Nicht-Wahl gemacht. Die von der Stadt beauftragte Forschung hat thematisch wie methodisch durchaus Seltenheitswert: Für die „Fokusgruppenstudie“ hatten die Forscher 27 nach Quotenmerkmalen ausgewählte Nichtwählerinnen und Nichtwähler aus Duisburg gefunden, die sich zwischen Juli 2021 und Januar 2022 in fünf Gesprächsrunden über das Leben in Duisburg und die Politik unterhalten haben. Die Politikwissenschaftler haben vor allem zugehört. Und folgende – nicht repräsentative – Ergebnisse herausgefiltert:

Die 27 Nicht-Wähler „fühlten sich keineswegs abgehängt“, auch eine generelle Politikverdrossenheit sei nicht festzustellen gewesen, eher eine Politiker- und Parteienverdrossenheit, so Schwanholz. Dennoch sei Politik für sie alle in einem „politikfernen Lebensalltag“ ein „generell schwieriges Frust-Thema“. Ein Befund speziell zur Lokalpolitik: „Diese Menschen glauben nicht, dass Kommunalpolitik ihre Probleme lösen kann.“

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Große Lücken in politischer Bildung

Eine weitere Gemeinsamkeit in den Gesprächsrunden: Die Teilnehmer engagieren sich kaum zivilgesellschaftlich, etwa in Vereinen. Eine wichtige Erkenntnis: „Über alle Bildungsabschlüsse hinweg haben wir große Lücken in der kommunalpolitischen Bildung gesehen – teils völlige Leerstellen“, bilanziert Schwanholz. Dies sei „ein hochgradiges Problem, das über alle Schichten und Altersgruppen hinweg greift.“ Wahlprogramme etwa überforderten große Teile der Bevölkerung.

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Zudem verstärke die „Verstecktheit politischer Informationen“, auch im Internet, die Effekte. Zumal die Gesprächspartner „nicht einsehen, dass man sich selbst über Politik informieren sollte“. Stadtdirektor Murrack berichtete aus der Praxis, auch als Corona-Krisenstabsleiter: „Wir erreichen mit unseren Informationen sehr viele Menschen nicht mehr. Nicht über die klassischen Medien wie die Zeitung, aber auch nicht mehr übers Internet, nicht mal über soziale Medien.“

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Schwanholz empfiehlt darum dringend, das Defizit an Demokratiekenntnis an die Bildungspolitik zu adressieren. Zumal es in den Schulen in NRW neuerdings weniger Zeit für „Demokratieunterricht“ gibt. Die schwarz-gelbe Landesregierung hatte das dafür vorgesehene Fach Sozialwissenschaften durch „Wirtschaft/Politik“ ersetzt – es gibt seither viel weniger Zeit für politische Bildung im Unterricht. Dabei förderten gerade politische Planspiele in Schulen nachgewiesen „die Bereitschaft, sich zu beteiligen“, so Schwanholz. Die erste von vier Handlungsempfehlungen (zum Artikel) der Wissenschaftler lautet denn auch: „Demokratie muss erlernt werden!“

>> TRADITION DES NICHTWÄHLENS & SPRACHDEFIZITE

  • Noch nie beteiligten sich bei einer Landtagswahl weniger Duisburger als bei der im Mai 2022 (46,82 %; NRW: 55,5 %). In keinem der 128 NRW-Wahlkreise stimmten weniger Bürger ab als im Wahlkreis Duisburg III, dem die Stadtbezirke Hamborn und Meiderich/Beeck angehören (38,1 %).
  • Bei der Europawahl 2019 (50,1 %) und bei der Kommunalwahl 2020 (39,1 %) hatte Duisburg die landesweit niedrigste Beteiligung. Selbst bei der Bundestagswahl 2021 waren die Nichtwähler in Duisburg mit 31,09 Prozent mit Abstand die größte Gruppe.
  • Die Forscher wollten auch gezielt Menschen mit rumänischer und bulgarischer Staatsangehörigkeit für die Fokusgespräche gewinnen. Sie kontaktierten diese auf Wochenmärkten, konnten sie aber nicht befragen, so Schwanholz: „Die Deutschkenntnisse waren derart unterentwickelt, dass ein Gespräch über Politik gar nicht möglich war.“ Als EU-Bürger dürfen Rumänen und Bulgaren an den Kommunal- und Europawahlen teilnehmen, nicht aber bei Landes- und Bundestagswahlen.