Duisburg. In einzelnen Stimmbezirken des Ruhrgebiets haben nur zehn bis zwanzig Prozent gewählt. Was bewegt die Menschen? Eine Spurensuche in Duisburg.
Das Reich der Nichtwähler liegt wie ein Keil im Ruhrgebiet. Die Landmarken reihen sich entlang der A42: Landschaftspark Duisburg-Nord, die Alte Mitte Oberhausens, Schloss Borbeck, Zeche Zollverein, die Schalker Arena, das Herner Schloss Strünkede, dann wieder der Dortmunder Borsigplatz. Überall hier stellten die Nichtwähler bei der Landtagswahl am Sonntag die Mehrheit. Das absolute Schlusslicht in NRW bildet jedoch der Wahlkreis Duisburg III rund um den Landschaftspark: Nur 38,1 Prozent gingen hier wählen. Und je kleinräumiger man schaut, desto dramatischer wird es.
„Vielleicht zehn, zwanzig Prozent“ seien zur Wahl gegangen in seinem Sprengel, schätzt Kioskbesitzer Ercan Kamil – und beweist damit hervorragende Ortskenntnis. In Marxloh (als Teil von Duisburg III) wählten noch 20,28 Prozent. Doch Marxloh ist groß und der Stimmbezirk 0601 rund um Kamils Büdchen an der Weseler Straße bringt es nur auf: 8,99 Prozent. Hier werde so gut wie nie über Politik gesprochen, sagt Kamil. „Höchstens wenn mal ein paar Deutsche kommen. Aber es gibt kaum noch welche hier.“
Wer bleibt, sieht Leben und Politik „gelassen“
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Rumänische und bulgarische Zuwanderer stellen nun die Mehrheit im Karree, doch in der Wahlstatistik tauchen sie nicht auf, es sei denn, sie haben auch einen deutschen Pass. Der Verdrängungseffekt produziert allerdings einen „Brain Drain“. Die meisten Deutschen ebenso wie die wohlhabenderen Türken hätten ihre Häuser verkauft, erklärt Ercan Kamil, und „sind weggezogen nach Walsum, Dinslaken, Oberhausen, wo es ruhiger ist.“ Er selbst wohnt ja in Duisburg-Röttgersbach und kommt nur zur Arbeit her (die ihn auch von der Wahl abgehalten hat). Wer bleibt, der begegne dem Leben „gelassen“, sagt Kamil – geht arbeiten, bleibt zuhause, geht arbeiten. „Die meisten Leute hier wissen nichts von Politik, verstehen sie nicht oder sind enttäuscht.“
Dieser Teil von Marxloh ist sicher extrem, doch der Trend im Nichtwähler-Gürtel ist nicht überraschend. Wahlforscher und Soziologen wissen: Geringe Wahlbeteiligung fällt zusammen mit hoher Arbeitslosigkeit und geringeren Bildungschancen. Arm wählt seltener. Und die A 40 gilt als „Sozialäquator, der vielfach die sozial benachteiligten Viertel im Norden von den begüterten im Süden trennt“, so eine Studie des Zentrums für interdisziplinäre Regionalforschung an der Ruhr-Uni Bochum. „Wo früher viele Arbeiter lebten, leben heute viele Arbeitslose, viele Menschen mit Migrationshintergrund, es stehen viele Wohnungen leer.“
Mit den Flözen sinkt die Wahlbeteiligung
Warum das so ist? Der Bergbau begann im Süden, weil die Kohle hier nah an der Oberfläche lag. Dann arbeitete er sich nach Norden vor, in immer größere Tiefen. Darum ist der Strukturwandel im Süden längst durch und im Norden noch frisch. Selten wird der Zusammenhang zwischen Geologie und Gesellschaft so deutlich wie im Revier: Mit den Flözen sinkt die Wahlbeteiligung.
Ein typischeres Beispiel ist der Stimmbezirk 1103 in Duisburg-Beeck, die Friedrich-Ebert-Straße zwischen der Köpi-Brauerei und einem der letzten Hochöfen Deutschlands. „Es bringt sowieso nichts“, sagen Karin Wen (37) und Dirk Schinhofen (39). Die Verkäuferin und der Radladerfahrer haben das Gefühl, dass die Politik einfach nichts für sie, für ihr Umfeld tut. Was müsste sich ändern? „Die Kriminalität“, sagt Schinhofen. „Gucken Sie sich mein Gesicht an.“ Er hat eine Narbe am linken Auge, von der Bierflasche, mit der er abend an der Trinkhalle überfallen worden sei – „von einem Clan. Und sowas passiert hier ständig.“ Die junge Familie sucht nun eine Wohnung in Paderborn.
Die historisch niedrige Wahlbeteiligung im Land (55,5%) hat vor allem der SPD geschadet, aber alles ist relativ. Zwar hat nicht mal jeder Fünfte in diesem Teil von Beeck gewählt, doch in Prozenten steht bei der SPD eine runde 47, bei der CDU nur eine 18. Die AfD liegt mit fast 13 Prozent vor den Grünen. Das Team Todenhöfer würde (anders als die Linke) mit 7 Prozent in den Landtag einziehen. Selbst unter den verbliebenen Wählern sucht also ein beträchtlicher Teil nach Alternativen.
Die zwei Damen vor der Bäckerei haben AfD gewählt. Frau F. wartet seit 2018 auf die Bewilligung einer altengerechten Wohnung. „Wenn ich noch jünger wäre, wäre ich längst hier weg. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich mal die einzige Deutsche in meinem Haus wäre. Immer das Geschrei und nachts sind die kleinen Kinder noch um halb eins im Park.“
„Was haben die für uns getan?“
Melanie N. kommt aus der Bäckerei: „Ich bin immer wählen gegangen, aber seit zwei Wahlen nicht mehr. Was haben die für uns getan? Die Nato-Soldaten werden in Mali aufgestockt und unsere Rentner können die Heizung nicht mehr bezahlen. Es ist egal, welche Farbe die Scheiße hat, es bleibt Scheiße.“
Mehmet Ceylan (56) ist Wechselwähler, er hat Olaf Scholz gewählt und zuvor die FDP, aber zur Landtagswahl ist er ins Lager der Nichtwähler gewechselt. Zur Landespolitik hat er einfach keinen Bezug, offen gesagt hat er die Plakate auch gar nicht wahrgenommen aus der Fußgängerperspektive. Er hilft nun in der Werkstatt und fährt nicht mehr Laster.
„Auf Tiktok müssten die Werbung machen, im Internet, wo die Leute sind“, sagt Friseur Özkan Türk (35). „Was sagt einem 20-Jährigen denn so ein Plakat mit einem Politikerkopf? Warum soll er den wählen? Früher hatte die SPD hier Stände, die Präsenz fehlt einfach.“ Türk hat trotzdem gewählt, aber viele Freunde sähen den Sinn nicht mehr. Und die Hauptstraße könnte man mal „ein bisschen freundlicher fürs Auge machen“.
Die Tiefgarage ist mal wieder zugeparkt und keiner kümmert sich. Das ist die Perspektive vom Kiosk, hinter dem Ursula Sapendowski (66) mit ihren Bekannten zusammensitzt. Alles Wähler. „Man kann richtig gucken, wie es mit Beeck runtergeht“, sagt sie. „Wir müssen immer weiter weg einkaufen gehen. Es gibt nur noch Kodi und Rewe. Und Döner, Döner, Döner. Wir haben nichts mehr hier. Wenn man hier geboren ist und aus der Haustür kommt, ist man schon bedient.“