Gelsenkirchen. Bei Kinderarmut geht es nicht nur um Geld. Lehrkräfte von fünf Gelsenkirchener Schulen erklären, wie Armut Kinder beim Lernen ausbremsen kann.

  • Nicht jeder Schüler hat im (wegen des Lüftens) eiskalten Klassenzimmer eine warme Jacke
  • Armut an kultureller Teilhabe außerschulischer Aktivitäten bremst Kinder aus
  • Kindern aus bildungsfernen Familien wird oft weniger zugetraut

Wie zeigt sich Kinderarmut im Schulalltag, wie sehr wirkt sie sich auf das Lernen und die Leistungen der Kinder aus? Was kann Schule tun, um die Chancen auf eine gute Bildung so fair wie möglich zu verteilen? Wir sprachen darüber mit fünf Pädagogen mit sehr unterschiedlicher Schülerschaft in Bezug auf Alter, Zusammensetzung und familiärem Hintergrund.

Christel Kraska, Leiterin der Don-Bosco-Grundschule in der Feldmark (Sozialindex Stufe drei von neun möglichen, die in Gelsenkirchen aber allein die Hauptschule Grillostraße zugesprochen bekam), Achim Elvert, dem Leiter der Gesamtschule Ückendorf (Sozialindex 6), Antje Bröhl, der Leiterin der Gertrud-Bäumer-Realschule (Sozialindex 3), Mittelstufenkoordinatorin Birgit Köhnsen, die am Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium (Sozialindex 1) in Buer unterrichtet, sowie dem Leiter des Ricarda-Huch-Gymnasiums (Sozialindex 3), Michael Frey. [Zum Thema Sozialindex:Nur eine Schule hoch belastet?]

Wie wahrnehmbar ist Kinderarmut in der Schule äußerlich?

Achim Elvert leitet die Gesamtschule Ückdendorf. Eine echte soziale Durchmischung gibt es hier fast ausschließlich in der Oberstufe. Fehlende kulturelle Teilnahme ist nach seiner Einschätzung ein sehr wesentlicher Aspekt der Kinderarmut.
Achim Elvert leitet die Gesamtschule Ückdendorf. Eine echte soziale Durchmischung gibt es hier fast ausschließlich in der Oberstufe. Fehlende kulturelle Teilnahme ist nach seiner Einschätzung ein sehr wesentlicher Aspekt der Kinderarmut. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Achim Elvert: Kleidung ist bei uns kein so großes Thema. Klar, es gibt Kinder, da kenne ich beide T-Shirts, die sie besitzen. Es geht bei uns weniger um Marken, als vielmehr um eine Auswahl. Da gibt es im Winter häufig etwa zu dünne Kleidung, das ist eher ein Problem. Da hat das Thema Lüften im Winter den einen härter getroffen als andere.

Christel Kraska: Marken sind bei uns auch nicht wichtig. Was wir aber auch sehen, ist wenig angemessene Kleidung. Dünne Turnschuhe im Winter oder nur ein T-Shirt. Manche haben im Winter wegen des Lüftens eine zweite Winterjacke zum Überhängen dabei, andere haben nicht einmal eine richtig dicke Jacke. Aber alle, egal wie arm sie sind, legen großen Wert auf Sauberkeit.

Antje Bröhl: Bei der Kleidung ist Armut nur in Einzelfällen erkennbar, etwa wenn Teile länger getragen werden oder sehr selten etwas Neues hinzukommt. Der großen Mehrheit ist die Armut nicht anzusehen.

Birgit Köhnsen: Bei uns ist es schon so, dass mal schief geguckt wird, wenn jemand nicht das Handy hat, das gerade angesagt ist. Ob das mit dem Preis zusammenhängt, kann ich schwer einschätzen. Es geht mehr darum, wie oft jemand etwas Neues hat. Marken spielen da weniger eine Rolle.

Michael Frey leitet das Ricarda Huch Gymnasium in Gelsenkirchen.
Michael Frey leitet das Ricarda Huch Gymnasium in Gelsenkirchen. © RHG | Isabell Asmus-Werner

Michael Frey: Die Struktur eines Gymnasiums in Buer und in Gelsenkirchen ist sicher jeweils eine andere, dennoch kann ich mich den Beobachtungen von Frau Köhnsen anschließen. Die Handys, glaube ich, spielen an allen Gymnasien eine große Rolle als Statussymbol. Allerdings sind es da nicht immer die Kinder wohlhabender Familien, die die kostspieligsten besitzen.

Wo spiegelt sich Armut außerdem in Schulen wider?

Achim Elvert: Es gibt ja nicht nur die finanzielle Armut. Erkennbar ist auch eine gewisse Armut an kultureller Teilhabe. Kinder aus ärmeren Familien machen viele außerschulische Erfahrungen gar nicht, die für andere selbstverständlich sind. In den Zoo gehen mit der Familie, ins Theater, Reisen...

Christel Kraska: Wir merken es etwa in Situationen wie im Erzählkreis, wenn Kinder vom Wochenende oder den Ferien berichten. Da sieht man, welche Kinder Aktivitäten erleben, Ausflüge oder Urlaube machen, und welche nicht. Die Teilhabe an Schulaktivitäten hemmt allerdings weniger die Leistungsempfänger, für die das Amt ja die Kosten übernimmt bei Fahrten. Das betrifft mehr jene an der Grenze zum Leistungsbezug. Familien, deren Verdienst relativ knapp über der Zuschussgrenze liegt, und für die solche Extraausgaben schwer zu stemmen sind.

Antje Bröhl leitet die Gertrud-Bäumer Realschule in der Altstadt. Ihre Schülerschaft ist sehr gemischt.
Antje Bröhl leitet die Gertrud-Bäumer Realschule in der Altstadt. Ihre Schülerschaft ist sehr gemischt. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Antje Bröhl: Emotionale Armut ist das große Problem. Wenn Kinder wenig Unterstützung daheim erfahren, allein gelassen werden. Wir haben viele Leistungsempfänger, aber das ist kein Problem dank der Bildungsgutscheine. Und es gibt Mittagessen für alle: Das mancher Leistungsempfänger, der es umsonst bekommt, gar nicht wahrnimmt – vielleicht, weil es umsonst ist. Schwer ist es für diejenigen, deren Eltern hart an der Grenze zur Leistungsberechtigung leben, trotz Arbeit. Diesen Familien fällt die Teilhabe bei Aktivitäten besonders schwer. Da hilft bei uns zum Glück oft der Förderverein. [Zum Thema:Für diese Schulen bewarben sich die meisten]

Birgit Köhnsen: Wir merken es etwa, wenn jemand Besonderes aus den Sommerferien zu erzählen hat. Aber wir versuchen, da keine Vergleichssituationen aufkommen zu lassen, sondern etwas Wertschätzendes an den Schilderungen der weniger spektakulären Erzählungen herauszuheben, gegenzusteuern.

Wie sieht es mit der Materialbeschaffung aus?

Birgit Köhnsen: Das ist bei uns kein Problem.

Christel Kraska: Vor allem anGrundschulen in Brennpunkten herrscht beim Material oft Mangel an allem, bis hin zum Bleistift. Zum Teil besorgen Lehrer Hefte, damit Kinder überhaupt arbeitsfähig sind. Bei uns ist das aktuell seltener der Fall. Aber auch wir würden nie – wie es leider mancherorts passiert – bestimmte, kostspielige Marken etwa bei Wachsmalstiften auf die Materialliste schreiben, damit auch Kinder aus ärmeren Familien mit ihren Wachsmalstiften vom Discounter nicht auffallen.

Merken Sie, wenn es für Kinder schwierig ist, zu Hause zu lernen?

Köhnsen: Ja. Aber das ist nicht unbedingt eine Frage der Armut. Gründe können auch die berufliche Einbindung der Eltern, eine schwierige familiäre Situation sein. Im Distanzunterricht haben wir deshalb auch eine Arbeitsmöglichkeit und Betreuung in der Schule angeboten.

Frey: Da wir Ganztagsschule sind, wird fehlende Hilfe durch die Eltern in unserem System ja aufgefangen. In der Pandemie ging es oft mehr um die Frage der Betreuung. Wenn Kinder allein zu Hause sind, kann die Playstation verlockender sein als das Lernen. Deshalb haben wir Betreuung in der Schule angeboten. Zum Thema: Warum das Schulorchester Mut zum Lernen macht

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Bröhl: Wir arbeiten auch mit Ganztag, da ist es leichter.

Elvert: Wir merken das als Ganztagsschule in der Sekundarstufe weniger als in der Oberstufe. Da bleiben viele nach Schulschluss länger, weil sie hier besser lernen können als zu Hause.

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Wie viele schaffen das Abitur mit wenig Geld und wenig Hilfe daheim?

Köhnsen: Ich glaube nicht, dass das am Ende einen großen Unterschied macht. Die Frage ist, wie viele wir auf der Strecke zum Abitur verlieren. Und das sind sicher mehr als unter denen mit Akademiker-Eltern. Zum Thema: Warum so viele nach Klasse 6 ihre Schule verlassen müssen

Christel Kraska leitet die Don-Bosco-Grundschule in der Feldmark.
Christel Kraska leitet die Don-Bosco-Grundschule in der Feldmark. © CK | Kraska

Kraska: Konkret von unserer Schule gehen viele aufs Gymnasium, die daheim Hilfe bekommen. Aber ich kenne auch viele mit weniger guten Bedingungen, die sich gut durchgebissen haben bis zur Fachhochschulreife. Ich begleite zum Teil auch Familien weiter und habe gute Erfahrungen mit der GSÜ gemacht.

Elvert: Die wenigen Akademiker-Eltern, die wir hier haben, sind eher in der Oberstufe zu finden, also später zu uns gekommen. Bildungswege sind schwer verfolgbar, aber es scheint schon klar, dass sozio-ökonomische Armut in Deutschland nicht aufgefangen wird. Wir haben viele Abiturienten, teilweise ganze Klassen, die nie eine Gymnasialempfehlung hatten. Es gibt Studien, die den Schluss nahelegen, dass Kinder ohne entsprechenden Hintergrund daheim auch weniger Gymnasialempfehlungen bekommen. Ob die sich wirklich erst so spät entwickeln, ist die Frage. Aber es gibt noch einen anderen wichtigen Aspekt: Wie weit wird überhaupt eine Bildungskarriere angestrebt, wenn man in einem Umfeld aufwächst, in dem Bildung keine Rolle spielt, soziale Armut und Bildungsferne seit Jahrzehnten tradiert sind. Und dieser Aspekt spielt erneut eine Rolle beim Wechsel von der Schule in den Beruf bei jenen, die es bis zu einem Abschluss geschafft haben.

Lesen Sie hier alle Artikel unseres Schwerpunkts zur Kinderarmut in Gelsenkirchen:

  • In keiner Stadt in Deutschland ist neben Bremerhaven mit rund 42 Prozent das Armutsrisiko für Kinder höher als in Gelsenkirchen. Zum Artikel.
  • Christoph Butterwegge ist wohl der bekannteste Armuts- und Ungleichheitsforscher der Republik. Was ihm zufolge nötig ist, um Armut aufzubrechen. Zum Artikel.
  • Lehrkräfte von fünf Gelsenkirchener Schulen erklären, welche Rolle Kinderarmut beim Lernen spielt. Und warum es um mehr als fehlendes Geld geht. Zum Artikel.
  • Für die einen heißt Armut zu wenig Geld für Essen, für andere zu wenig für Airpods. Gelsenkirchener Schülerinnen und Schüler sprechen über Armut. Zum Artikel.
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