Gelsenkirchen. Trauriger Negativ-Rekord: In keiner deutschen Stadt neben Bremerhaven ist mit rund 42 Prozent das Kinder-Armutsrisiko höher als in Gelsenkirchen.
- Bei der Kinderarmutsstatistik belegt Gelsenkirchen eine traurige Spitzenposition.
- Ein trauriger Negativ-Rekord: In keiner anderen Stadt in Deutschland neben Bremerhaven ist das Kinder-Armutsrisiko so groß wie in Gelsenkirchen.
- Insgesamt sind in Deutschland 20,2 Prozent der Unter-18-Jährigen armutsgefährdet. In Gelsenkirchen sind es rund 42 Prozent.
In Deutschland droht nach wie vor jedem fünften Kind die Armut. Im Jahr 2020 waren 20,2 Prozent der Unter-18-Jährigen armutsgefährdet. Das geht aus dem jüngsten Bericht des Bundessozialministeriums hervor. Und: In keiner Stadt in Deutschland ist neben Bremerhaven mit rund 42 Prozent das Armutsrisiko für Kinder höher als in Gelsenkirchen.
Als armutsgefährdet gelten in der Europäischen Union Menschen, die bedarfsgewichtet über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens ihres Landes verfügen. Das waren zuletzt 1.126 Euro für Singles, 1.463 Euro für Alleinerziehende mit einem kleinen Kind und 2.364 Euro für einen Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern.
Mehr als 40 Prozent der unter 15-Jährigen in Gelsenkirchen bekommen Sozialgeld
Noch weniger Geld haben Menschen zur Verfügung, die Sozialleistungen (SGB II) beziehen. Nach Angaben der Gelsenkirchener Verwaltung lag die SGB-II-Quote von Kindern unter 18 Jahren in Gelsenkirchen (Stand: Oktober 2021) bei 39,5 Prozent, „das sind 18.309 leistungsberechtigte Kinder“, wie Stadtsprecher Martin Schulmann erklärt.
Die Quote fällt noch höher aus, wenn man die Gruppe der Kinder unter 15 Jahren betrachtet. Hier beträgt die Sozialgeldquote (Stand: 31. Dezember 2020) 41,08 Prozent, das sind 16.618 Kinder. 8550 (29,37 Prozent) Kinder sind Deutsche, 8068 (71,19 Prozent) sind Nichtdeutsche.
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Deutschlands bekanntester Armuts- und Ungleichheitsforscher, der Kölner Professor Christoph Butterwegge, hält diese Zahlen noch nicht für ausreichend, um ein genaues Bild zu zeichnen. Der renommierte Politikwissenschaftler sieht es als maßgeblich an, die SGB-II-Quoten nach Altersklassen und Stadtteilen kleinräumiger aufzuschlüsseln. „Indikatoren für Kinderarmut sind zudem Haushalte, die Jugendhilfeleistungen beziehen, die Wohnungsgrößen oder auch die Zahl der Kinderärzte in den einzelnen Stadtteilen.“
Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen Lippe bezeichnete die kinderärztliche Versorgung als „im Moment gut“. Sie nach Stadtteilen aufzuteilen, sei ihr aber nicht möglich, teilte die KVWL mit. Der kinderärztliche Versorgungsgrad für Gelsenkirchen betrage aktuell 110,3 Prozent. Statistisch betrachtet sind demnach hier 19 Kinderärzte und Kinderärztinnen tätig.
Kinderarmut Gelsenkirchen: Hohe Sozialgeldquoten durchweg in allen Altersklassen
Kinderarmut ist ein Problem, das nicht erst heute entstanden ist. Es handelt sich dabei um eine Abwärtsspirale, die sich über viele Jahre dreht. Das zeigen Daten des Bremer Instituts für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe. Das Institut hat die SGB-II-Quoten bundesweit umfangreich aufgeschlüsselt. Butterwegge hat diese Daten (Stand: August 2019) für diesen Bericht zur Verfügung gestellt. Demnach entfielen in Gelsenkirchen auf die Altersklasse bis drei Jahre 42,6 Prozent, bei den Drei- bis Sechsjährigen waren es 44,7 Prozent, bei den Sechs- bis 15-Jährigen 42,3 Prozent und bei den 15- bis 18-Jährigen 34,3 Prozent.
Acht der 15 Kreise (ausschließlich kreisfreie Städte) mit den höchsten SGB-II-Quoten U18 waren Städte in Nordrhein-Westfalen, darunter viele Ruhrgebietskommunen wie neben Gelsenkirchen noch Duisburg, Essen, Herne, Hagen und Dortmund. Butterwegge bezeichnet das Ruhrgebiet, in dem er selbst aufgewachsen ist, daher „als das Armenhaus der Republik“.
Stadtbezirke Mitte und Süd: „Armut vielfach Normalität“
Einen Eindruck davon vermittelt auch der Teilhabeatlas der Stadt für Gelsenkirchener Kinder. Die negativsten Werte im Index Wirtschaftliche Lage verzeichnen dabei Neustadt, der westliche Teil von Bulmke-Hüllen, Altstadt, Schalke-Nord, Schalke-Ost, Ückendorf-Nord und Rotthausen-West mit Sozialgeldquoten von wenigstens 54 bis zu 62 Prozent. Alle diese Quartiere befinden sich in den Stadtbezirken Mitte und Süd. „Armut und die Abhängigkeit von Transferleistung sind hier vielfach Normalität“, heißt es im Bericht.
Die mit Abstand höchsten Teilhabe-Chancen erfahren Kinder hingegen in Buer-Ost. Die wirtschaftliche Lage ist für Kinder hier in der Summe vergleichsweise sehr positiv. Lediglich 9,9 Prozent der Kinder unter 15 Jahren und 8,6 Prozent der unter Siebenjährigen beziehen Sozialgeld. Auf Rang zwei und drei liegen Beckhausen-Nordwest und Buer-Zentrum. Allerdings finden sich hier bereits bis zu doppelt so hohe Sozialgeldquoten wie in Buer-Ost.
Sehr geringe Teilhabe-Chancen für Kinder bestehen dazu demnach in der Neustadt, Schalke-West und Schalke-Nord. Geringe Teilhabe-Chancen haben die Kinder in Bulmke-Hüllen-Nord, Bulmke-Hüllen-Süd, Ückendorf-Nord, Rotthausen-Ost, Rotthausen-West und Schalke-Ost. Wie auch im Bericht davor aus dem Jahr 2015, verzeichnet die Neustadt die negativsten Indexwerte im Bereich Gesundheitsbedingungen, was sich in „Spitzenwerten“ bei allen drei Indikatoren zeigt: 20 Prozent übergewichtige/adipöse Kinder, 2,8 Prozent karies-erfahrene Zähne und nur 81 Prozent Teilnahmequote bei der U8-/U9-Untersuchungen. In den gut bewerteten Vierteln liegen die Quoten da bei über 90 Prozent.
Sehr hohe Teilhabe-Chancen für Kinder im Bereich Gesundheitsbedingungen bestehen in Buer-Ost, Buer-Nord, Buer-Zentrum, Resser Mark, Beckhausen-Nordwest und Beckhausen-Ost.
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