Gelsenkirchen. Tausende Kinder leben in Gelsenkirchen in relativer Armut. Wenn Kinderwünsche nur klein sind – das Geld zur Erfüllung aber trotzdem fehlt.

Es ist frisch an diesem grauen Februarnachmittag. Sieben Grad Celsius Außentemperatur zeigt das Thermometer an. Dennoch ist die Heizung in der kleinen Dachgeschosswohnung der Bachs in der Gelsenkirchener Neustadt aus. „Ich versuche, die Heizung möglichst nicht anzumachen, damit sie unser ohnehin knappes Budget nicht belastet“, sagt Nathalie Bach*. Sie ist soeben zusammen mit ihren beiden Söhnen (9 und 10 Jahre alt) nach Hause gekommen.

Die Kinder besuchen nach dem Unterricht die Offene Ganztagsschule (OGS), wo sie ein warmes Mittagessen bekommen und ihre Hausaufgaben machen können. Nathalie arbeitet in der OGS als Hauswirtschaftskraft. Zu Fuß legen sie jeden Tag den etwa 20 Minuten langen Weg bis zur Grundschule zurück. Ein Monatsticket würde für alle drei zusammen mit etwa 120 Euro zu Buche schlagen, rechnet Nathalie Bach vor. Geld, das die Familie nicht hat.

So wie Familie Bach geht es vielen Familien in Gelsenkirchen, wo 41,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Familien leben, die Hartz IV beziehen. Nirgendwo anders in Deutschland ist die Zahl der Kinder, die in relativer Armut leben, höher.

So viel Geld steht der Gelsenkirchener Familie zur Verfügung

Erik und Tim streifen sich, kaum, dass sie die Türschwelle übertreten haben, ihre Jacken ab und stellen ihre Schuhe vor die Wohnungstür. Auf dicken Socken laufen sie über den grauen PVC-Boden in der ungeheizten Wohnung. Die Brüder holen ein altes Smartphone, ein gebrauchtes Tablet und ihren „größten Schatz“ – das Kistchen mit den Pokémon-Karten hervor – , das sie stolz dem Besuch zeigen.

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„Wir haben nicht viel Geld, aber unsere Karten sind super“, sagt der Ältere und taucht gleich wieder in seine Gedankenwelt ab. Tim ist ein introvertierter Junge, Kontakt zu seinem Vater, der ein Alkoholproblem hat, hat er nicht. Nach den Sommerferien wechselt der Zehnjährige an eine weiterführende Schule. An welche Schulform, das stehe noch nicht fest, sagt seine Mutter.

Homeschooling und Lockdown war für Gelsenkirchener Familie die Hölle

Das Lernen sei den beiden Jungs während der Pandemie jedenfalls oft sehr schwergefallen, dem Distanzunterricht versuchten sie über Mamas Handy und das alte Tablet zu folgen. „Ich bin oft an meine Grenzen gestoßen, das war die Hölle“, berichtet Nathalie und ergänzt mit trauriger Stimme: „Die Jungs haben sich in der Zeit sehr verändert.“ Deshalb hat sie beim Jugendamt um Unterstützung gebeten und diese auch bekommen. Seither kommt jede Woche eine Familienhilfe zu den Bachs und greift Nathalie ein wenig unter die Arme.

Erik, der Jüngere, habe immer wieder suizidale Gedanken geäußert und Nervenzusammenbrüche erlebt, oft hätten sich die Brüder gezankt. Die ohnehin nur 64 Quadratmeter große Wohnung, sie kam den Bachs in Zeiten von Lockdown und Homeschooling noch viel kleiner vor. „Außer auf den Spielplatz oder in den Park zu gehen, konnte ich den Jungs ja auch lange nichts bieten“, erinnert sich Nathalie an die „besonders schweren Tage“.

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Ohnehin gilt bei den Bachs, dass Freizeitaktivitäten möglichst kostenlos sein müssen. Ein Besuch im Zoo, ein paar Stunden toben in einer Kletter- und Trampolinhalle – „das ist nur selten möglich“, räumt Mama Nathalie ein und richtet den Blick gen Boden. Gutscheine, mit denen sie beispielsweise bei Sportvereinen mitmachen dürften, nähmen sie zwar immer mal wieder in Anspruch. Bisher aber hätten die Jungs noch nichts gefunden, wozu sie länger als zwei-, dreimal Lust gehabt hätten, berichtet Nathalie achselzuckend.

Die alleinerziehende Mutter verdient zur Zeit rund 1000 Euro im Monat, doppelt so viel wie vor der Pandemie, als es für sie in der OGS weniger zu tun gab. Zusammen mit dem Kindergeld, dem Unterhaltsvorschuss, den das Amt zahlt, weil die Kindesväter nicht genug haben, um selber Unterhalt zu zahlen, und einem kleinen Betrag vom Arbeitsamt stehen der dreiköpfigen Familie etwa 1900 Euro im Monat zur Verfügung. 526 Euro Warmmiete zahlt Nathalie Bach für die Wohnung. Abzüglich weiterer Fixkosten bleiben der Familie etwa 330 Euro pro Person zum Leben.

Schwarze Folie statt Rollos vor dem Fenster

„Ich will gerne wieder in den Urlaub“, platzt es plötzlich aus Erik heraus. „Was Erik mit Urlaub meint, sind ein paar Tage städtische Ferienfreizeit, die das Amt bezahlt“, erklärt Nathalie sogleich. „Richtig im Urlaub waren wir noch nie“, sagt die 33-Jährige und sinkt tiefer in die kleine Couch im Wohnzimmer mit den kargen Wänden ein, an dessen Fenster statt eines Rollos behelfsmäßig eine aufziehbare schwarze Folie befestigt ist.

„Aber wir haben alles, was wir brauchen“, ergänzt Nathalie Bach, die selbst in relativ armen Verhältnissen aufgewachsen ist. Vier Geschwister hat die Gelsenkirchenerin, aber schon lange nur noch ein gutes Verhältnis zu einer ihrer Schwestern und sporadischen Kontakt zu einer weiteren. Mit 18 Jahren wollte sie zu Hause eigentlich schon ausziehen, erinnert sich Nathalie. Es dauerte dann doch länger, ehe sie mit 20 Jahren und ohne Ausbildung auszog.

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Zeit ihres Lebens war sie – mal mehr und mal weniger – auf Sozialleistungen des Staates angewiesen. Für ihre Söhne erhofft sich Nathalie eine bessere Zukunft, traut sich aber auch nicht zu, zu viel vom Leben zu erwarten. Einem Leben in relativer Armut, das sie anders nicht kennt. „Es kann ja immer etwas schiefgehen, sodass man in Hartz IV landet“, sagt sie. Ihr Blick sucht nach Bestätigung im Gesicht ihres Zuhörers. Tim, der Neunjährige, scheint das zu spüren und sagt: „Ich will Lkw-Fahrer werden. Dann habe ich einen guten Job und sehe ganz viel von der Welt.“ Nathalies Mimik entspannt sich, sie streichelt ihrem Sohn über den Kopf.

Inzwischen ist es früher Abend, die Außentemperatur weiter gefallen, doch die Heizung, sie ist noch aus. Tim und Erik spielen mit Tablet und Pokémon-Karten und Nathalie rechnet noch mal durch, ob die drei über den Monat kommen. In der Post lag ein Brief mit Stromnachzahlungskosten in Höhe von 211 Euro. „Das ist viel Geld“, stammelt sie leise, „viel Geld.“

*Alle Namen geändert.

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