Gelsenkirchen. Der Forscher Christoph Butterwegge bezeichnet Armut in Deutschland als Langzeitskandal. Er sagt, was nötig ist, um die Abwärtsspirale zu stoppen.
Sich selbst bezeichnet Christoph Butterwegge als Armuts-, Reichtums- und Ungleichheitsforscher. Der langjährige Universitätsdozent nennt Armut in Deutschland einen „Langzeitskandal“ und empfiehlt, privaten Reichtum umzuverteilen.
Herr Professor Butterwege, welche Unterschiede muss man machen, um Armut in Deutschland zu beschreiben?
Prof. Christoph Butterwegge: Man unterscheidet zwischen absoluter und relativer Armut. Absolut arm ist, wer seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, also hungert, durstet, friert oder kein Obdach hat. Relativ arm ist, wer sich vieles von dem nicht leisten kann, was in einer wohlhabenden, wenn nicht reichen Gesellschaft wie unserer als „normal“ gilt. Beides gibt es in Gelsenkirchen: Obdachlose und viel mehr Kinder, die kaum in den Zoo, auf die Kirmes oder in den Zirkus kommen. Von einem Familienurlaub ganz zu schweigen. Armut bedeutet, in fast allen Lebensbereichen diskriminiert zu werden. Dass sich die EU auf Einkommensarmut konzentriert, ist aber verständlich, weil das Geld in unserer Gesellschaft eine Schlüsselrolle spielt.
Worin sehen Sie die Ursachen für Armut?
Es handelt sich um ein strukturelles Problem, das im bestehenden Wirtschaftssystem wurzelt, aber durch unsoziale Reformen noch verschärft worden ist: Während einer kleinen Minderheit die Unternehmen, Banken und Versicherungen gehören, muss sich die große Mehrheit auf einem Arbeitsmarkt behaupten, der die Chancen je nach sozialer und ethnischer Herkunft sehr ungleich verteilt.
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Was kann eine Stadt wie Gelsenkirchen tun, um der Armut effektiv zu begegnen?
Kommunalpolitiker und Stadtverwaltungen haben nur wenig Einflussmöglichkeiten. Sie können aber versuchen, die öffentlichen Investitionen stärker in „abgehängte“ Stadtteile zu lenken, diese zu bevorzugen und aufzuwerten, damit die soziale Abwärtsspirale gestoppt wird.
Ist Bildung der Weg aus der Armut oder was ist der oder sind die Wege aus der Armut nach Ihrer Meinung?
Bildung kann im Einzelfall aus einer prekären Lebenslage herausführen, ist aber keine Wunderwaffe im Kampf gegen die Armut. Denn wenn alle Kinder besser gebildet wären, würden sie womöglich auf einem höheren intellektuellen Niveau um die immer noch fehlenden Ausbildungs- und Arbeitsplätze konkurrieren. Neben einer Verbesserung der Bildungschancen von Kindern sozial benachteiligter Familien ist die Umverteilung des privaten Reichtums nötig. 45 hyperreiche Familien in Deutschen besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung – mehr als 40 Millionen Menschen!
Mit Blick auf die jüngsten Zahlen zur Armut: Wohin steuert Gelsenkirchen, wohin steuert Deutschland?
Kinderarmut ist ein Langzeitskandal. Seit fast 20 Jahren sind die Armutszahlen nahezu konstant hoch. Entweder steuern die politisch Verantwortlichen in Berlin endlich um, oder die Gesellschaft beraubt sich selbst ihrer Zukunft. Vielleicht bewirken die Pandemie und die Not ukrainischer Flüchtlingskinder ein Umdenken. Das angekündigte Rüstungsprogramm und die Schuldenbremse lassen aber befürchten, dass künftig noch weniger Geld für Soziales zur Verfügung steht.
Der Bund will einen Sofortzuschlag für Betroffene auf den Weg bringen, zudem hat die Regierung angekündigt, armutsgefährdeten Familien grundsätzlich besser helfen zu wollen – wie beurteilen Sie diese Vorstöße und wie müssten sie ausgestaltet sein, um tatsächlich Wirkung zu zeigen – Stichwort Preisexplosion?
Der geplante Sofortzuschlag in Höhe von 20 Euro pro bedürftigem Kind ist besser als nichts, reicht aber bei Weitem nicht aus, um das soziale Kardinalproblem der Kinderarmut zu lösen. Geduldete und nicht anerkannte Flüchtlingsfamilien gehen leer aus, obwohl die vorliegenden Daten zeigen, dass gerade Kinder ohne deutschen Pass in extrem hohem Maße von Armut betroffen sind. Die im Koalitionsvertrag der „Ampel“ versprochene Kindergrundsicherung muss so großzügig ausgestaltet sein, dass alle Kinder gesund ernährt, gut gekleidet und bestens ausgebildet werden können.
Lesen Sie hier alle Artikel unseres Schwerpunkts zur Kinderarmut in Gelsenkirchen:
- In keiner Stadt in Deutschland ist neben Bremerhaven mit rund 42 Prozent das Armutsrisiko für Kinder höher als in Gelsenkirchen. Zum Artikel.
- Christoph Butterwegge ist wohl der bekannteste Armuts- und Ungleichheitsforscher der Republik. Was ihm zufolge nötig ist, um Armut aufzubrechen. Zum Artikel.
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