Gelsenkirchen. Karies, Übergewicht, Verzögerungen in der Entwicklung: Kinder aus armen Familien leiden vielfach. Was ein Gelsenkirchener Kinderarzt erlebt.

„Ich habe den sozialen Abstieg in Gelsenkirchen hautnah mitbekommen“ – mit diesem Zitat sorgte der Sprecher der Gelsenkirchener Kinderärzte vor einigen Monaten für Aufmerksamkeit. Dr. Christof Rupieper, niedergelassener Kinderarzt im 27. Jahr, schilderte da seine Erfahrungen, Beobachtungen, berichtete von einer Zunahme der Armut und Hilfebedürftigkeit mit den Jahren. Heute sagt er zum Thema Kinderarmut auch: „Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die durch die sozialen Probleme verursachten medizinischen Probleme nicht durch medizinische Maßnahmen „geheilt“ werden.“

Armut in Gelsenkirchen: Das sind die gesundheitlichen Folgen für die Kinder

Die Ansätze, sie müssten also viel tiefer greifen: „Soziale Probleme werden in der Medizin sichtbar, aber durch medizinische Maßnahmen nicht gelöst“, ist Rupieper überzeugt. Man müsse diese Familien verstehen – und es sei nicht damit getan, ihnen Geld in die Hand zu drücken. Sondern: Sie wertschätzen, dabei Wege finden, „dass sie Stolz und Selbstwertgefühl entwickeln.“ Das könne, so Rupieper, durch Sport entstehen, in der Schule, aber auch in anderen Bereichen.

Dr. Christof Rupieper, Sprecher der Gelsenkirchener Kinderärzte, ist, was Kinderarmut betrifft, überzeugt: „Soziale Probleme werden in der Medizin sichtbar, aber durch medizinische Maßnahmen nicht gelöst“.
Dr. Christof Rupieper, Sprecher der Gelsenkirchener Kinderärzte, ist, was Kinderarmut betrifft, überzeugt: „Soziale Probleme werden in der Medizin sichtbar, aber durch medizinische Maßnahmen nicht gelöst“. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Im Praxisalltag diagnostiziert der Kinderarzt gerade bei Kinder aus ärmeren Familien „Wohlstandskrankheiten“, wie er es nennt: Das sind allen voran Karies, Übergewicht, Konzentrationsstörungen und Entwicklungsverzögerungen. Ein konkretes Beispiel: Asthmakranke Kinder aus dieser Gruppe hätten wesentlich häufiger akute Episoden als Kinder aus besser gestellten Familien. Das würde auch daran liegen, dass „häufig die Krankheitseinsicht fehlt und Dauertherapien nicht konsequent durchgeführt werden“.

Er benutzt den Begriff „Vorbildfunktion“, die die Eltern ihren Kindern gegenüber haben: „Der Einfluss der Eltern prägt die Kinder“. Viele Eltern, gerade Alleinerziehende, in finanziell prekären Situationen seien erschöpft, ausgelaugt und hätten ihren Stolz verloren. Sie wollen ihren Kindern alles bieten, fühlen sich oftmals wegen der eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten aber als schlechte Eltern. „Als Ausgleich gibt es dann das ,kleine persönliche Glück’ in Form von Schokoriegel oder Chipstüte“, weiß Rupieper.

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Der Pädiater berichtet auch von Familien, bei denen der Schulbesuch des Kindes der einzige feste Termin am Tag ist – da die Eltern keiner regelmäßigen Tätigkeit nachgehen. Kinder aus solchen Familienverhältnissen haben es Rupiepers Ansicht nach schwer, in ihrer Zukunft in einen geregelten Alltag zu kommen. Da gibt es auch die Eltern, die eine andere Auffassung von Erziehung hätten, die, die die Schwierigkeiten ihrer Kinder nicht wahrnehmen, die, die die Notwendigkeit einer Förderung nicht einsehen, die, die schlicht sprachliche Probleme haben. Die Liste ist lang, die Problemlagen vielfältig.

Kritik übt der Mediziner am „deutschen Bildungswahn“, wie er es nennt. Denn genau dieser Bildungswahn mit dem einzigen Ziel – das Studium – erhöhe den (zeitlichen) Druck. Das sorgt für Probleme: „Die Entwicklung der Kinder verläuft vor allem geschlechtsspezifisch sehr unterschiedlich. Kinder brauchen nicht immer Therapie, sondern meistens Zeit, um sich zu entwickeln“, so Rupieper. Und nennt die drei wichtigsten Dinge, die Kinder zum Aufwachsen brauchen: „Zeit, Zuwendung und Zärtlichkeit“.

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