Neurowissenschaft: Ob wir einen Gegenstand ergreifen, schreiben, mit Messer und Gabel essen - ein fein abgestimmtes System in unserem Gehirn sorgt für die Koordination unserer Bewegungen

Sie gehen durch den Raum, setzen sich an einen Tisch und schenken ein Glas Wasser ein - ein Vorgang, der fünfzehn Sekunden dauert und über den wir nicht nachdenken. Doch in dieser kurzen Zeit hat Ihr Gehirn Höchstleistungen vollbracht: Dank eines Netzwerkes unterschiedlicher Hirnregionen ist es möglich, die vielen Bewegungen so zu koordinieren, daß ein flüssiger und zielgerichteter Bewegungsablauf entsteht.

Eine zentrale Rolle spielt dabei das Kleinhirn. "Es sorgt für die feine und zeitliche Abstimmung von Bewegungen und dafür, daß ihre Kraft richtig dosiert wird und daß alle Gliedmaßen sinnvoll zusammenarbeiten", erklärt Prof. Ferdinand Binkofski, Leiter der Arbeitsgruppe Sensomotorische Integration am Universitätsklinikum Eppendorf und Oberarzt der Neurologischen Universitätsklinik in Lübeck.

Wenn das Kleinhirn geschädigt ist, zum Beispiel durch einen Schlaganfall, kommt es zu der sogenannten cerebellären Ataxie: Die Bewegungen sind ruckartig und verzittert. Die Betroffenen können ihre Kraft nicht mehr dosieren und greifen daneben, wenn sie etwas in die Hand nehmen wollen. Das wird noch erschwert durch ein Zittern, das um so stärker wird, je näher der Patient dem angestrebten Ziel kommt. Häufig ist auch der Gang gestört, wird breitbeinig und wacklig.

Für eine gute Koordination brauchen wir all unsere Sinne. "Wir müssen den Raum, der vor uns liegt, planen, genau wissen, wie weit wir gehen wollen, wie der Untergrund beschaffen ist, und ob auf unserem Weg Hindernisse liegen", so Binkofski. Diese Informationen werden blitzschnell über Augen, Ohren und Tastsinn ans Gehirn gesendet.

Von Rezeptoren aus Haut, Muskeln und Gelenken werden Informationen übers Rückenmark in den vorderen Teil des Scheitellappens weitergeleitet und dort verarbeitet. "Diese Tiefensensibilität brauchen wir, um zu wissen, ob wir stehen, sitzen und wie der Körper belastet ist", sagt der Neurowissenschaftler. Wenn dieser Weg durch eine Schädigung unterbrochen ist, hat das schwere Koordinationsstörungen, die sensorische Ataxie, zur Folge. "Dann haben Sie zwar Kraft, wissen aber nicht, wie sie anzuwenden ist. Sie können kein Ei halten, denn Sie zerdrücken es, weil sie die nötige Kraft nicht bemessen können. Sie können mit geschlossenen Augen nicht gehen, weil sie nicht wissen, wie sie im Raum stehen."

Störungen der Koordination können auch komplexe Bewegungen betreffen, wie das Schreiben oder Essen mit Messer und Gabel. "Dafür brauchen wir einen Bewegungsplan, der erlernt wird und dann in Fleisch und Blut übergeht. Wenn bestimmte Hirnregionen ausfallen, kann eine gliedkinetische Apraxie entstehen, bei der gespeicherte Bewegungsabläufe verlorengehen. "Die Bewegungen werden ungeschickt, schlecht koordiniert, fahrig, feinere Bewegungen sind unmöglich", sagt Binkofski.

Wenn im hinteren Scheitellappen Hirngewebe zugrunde geht, kommt es zu komplexen Störungen der Bewegungsausführung, der ideomotorischen oder ideatorischen Apraxie. Typisch für eine ideomotorische Apraxie: Eine Patientin soll in einer Pantomime darstellen, wie sie aus einer Flasche Wasser in ein Glas gießt. Die Patientin wirkt dabei ratlos, führt ausweichende oder inkomplette Bewegungen aus. Die Aufgabe gelingt ihr nur, wenn sie wirklich eine Flasche und ein Glas in den Händen hält.

Schwerer beeinträchtigt sind Menschen mit einer ideatorischen Apraxie. Diese Patientin könnte dann selbst mit den Gegenständen in der Hand kein Wasser eingießen oder wäre nicht in der Lage, mit einer Kaffeemaschine Kaffee zu kochen, weil sie die einzelnen Schritte nicht mehr in der richtigen Reihenfolge ausführen kann.