Neurowissenschaft: Viele Hirnareale wirken zusammen, damit wir Erlebtes und Erlerntes behalten und eine Identität bekommen
Ein Mensch ohne Gedächtnis könnte nicht sprechen, nicht denken, nicht handeln, er wüßte nicht, wer er ist. "Das Gedächtnis", schrieb Hirnforscher Ewald Hering bereits 1870, "verbindet die zahllosen Einzelphänomene zu einem Ganzen (. . . ) ohne die bindende Macht des Gedächtnisses (zerfiele) unser Bewußtsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt". Wie der Zusammenhalt funktioniert, das erkennen die Gedächtnisforscher erst jetzt. "Wir machen rasante Fortschritte, weil wir mit den bildgebenden Verfahren die Prozesse im Gehirn viel besser beobachten können", sagt Prof. Christian Büchel vom Institut für systemische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE).
Die Ergebnisse dieser Forschung verändern das Bild vom Gedächtnis grundlegend. Es gibt keinen Gedächtnisstoff und kein Gedächtniszentrum, in dem bestimmte Nervenzellen unsere Erinnerung bewahren. Vielmehr werden die Erinnerungen in vielen Mustern neuronaler Verbindungen gespeichert, die über das Gehirn verteilt sind. "Die Bildung des Gedächtnisses ist ein dynamischer Prozeß der Selbstorganisation des Nervensystems. Um sich zu erinnern, müssen unterschiedliche Nervenzellen an unterschiedlichen Orten aktiviert werden", sagt Büchel.
Diese Erkenntnis widerlegt die Vorstellung, daß Erlerntes, Erlebnisse oder Ereignisse im Gehirn wie auf der Festplatte eines Computers gespeichert sind und diese - das richtige Paßwort vorausgesetzt - von dort wieder abrufbar sind. "Das Gedächtnis bildet das Leben um uns herum eben nicht eins zu eins ab. Vielmehr filtert und bewertet es. Dabei können sich die Orte des Gedächtnisses im Gehirn verändern. Denn das Gedächtnis nutzt unterschiedliche Systeme des Einspeicherns, des Aufbewahrens und Abrufens", sagt Büchel. Grundsätzlich sei es so, daß die Areale, die eine Information wahrnehmen, sie auch speichern. Es gibt für diese Nervenleistung keine getrennten Systeme.
Früher hat man nur in Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis unterschieden. Inzwischen betrachten die Forscher das Gedächtnis auch unter dem Aspekt, welche Informationen abgespeichert werden. Der Schläfenlappen, Hippocampus und der für die Gefühle zuständige Mandelkern, tief im Innern des Gehirns, sind die wichtigsten Hirnstrukturen für das Gedächtnis. "Diese Strukturen sind wichtig, um das Erlebte auf Dauer aufzubewahren", sagt Büchel. Der Mandelkern wird besonders bei Abruf autobiographischer Erinnerungen aktiv, die emotional gefärbt sind und das Gemüt erregen. Aber auch der Thalamus und die Basalganglien wirken daran mit, daß Informationen im Gedächtnis landen und wieder abrufbar sind.
"Eine zentrale Funktion hat der Hippocampus, der oft noch als die Gedächtnisstruktur bezeichnet wird. Mittlerweile wissen wir, daß er weniger selbst Informationen speichert, sondern entscheidend dazu beiträgt, daß die Informationen im Gehirn verankert werden", so Büchel. Nach neuesten Studien feuern die Neurone des Hippocampus besonders intensiv in die Region der Hirnrinde, die gerade etwas neues lernen muß. Wird Bewegung oder Sprache erlernt, dann ist der Stirn- oder Frontallappen unter Beschuß. Bei Tastreizen wird der Scheitel- oder Parietallappen aktiviert. Um Sinneseindrücke zu speichern, müssen die Neurone im Hinterhaupts- oder Okzipitallappen dazu lernen. Und Bachs Orgelkonzerte landen dank der Aktivität des Hippocampus im Schläfen- oder Temporallappen. Wenn die Information im Gedächtnis verankert ist, wendet sich der Hippocampus neuen Aufgaben zu.
"Auf diese Art und Weise lernt unser Gehirn neues, speichert es und verknüpft es zugleich. Das Gehirn lernt auf diesem Weg zu assozieren", erläutert Büchel. So entsteht in unserem Kopf unsere Lebensgeschichte, die Quelle des Ich-Bewußtseins.
Bleibt zum Schluß noch eine wichtige Anmerkung: Unser Gedächtnis ist großartig, wenn es die Grundzüge unseres Lebens festhalten soll - doch sehr präzise ist seine Arbeit nicht. Insbesondere wenn Emotionen im Spiel sind. Also wundern Sie sich nicht, wenn zwei Menschen unterschiedliche Erinnerungen an eine Situation haben.