Neurowissenschaften: Was geschieht unter der Schädeldecke? Wie funktioniert “die komplexeste Materie des Universums“? Diese Fragen beantwortet die siebenteilige Abendblatt-Serie. Heute: Teil 1.
Während Sie diese Buchstaben sehen, arbeitet Ihr Gehirn auf Hochtouren, um zu entscheiden: Lohnt es, weiter zu lesen? Rasant schnell vergleichen Nervenzellen in unterschiedlichen Regionen des Gehirns Erfahrungen und Erwartungen, erhöhen die Konzentration, blenden Störendes aus, während andere Nervenzellen Herzschlag und Atmung im Rhythmus halten. Die Leistungen des Geistes und die Arbeitsweise des Gehirns zählen zu den faszinierendsten Rätseln der Wissenschaft. Die Frage, wie die "komplexeste Materie des Universums" funktioniert, steht im Mittelpunkt der siebenteiligen Abendblatt-Serie "Blicke ins Gehirn", die heute beginnt und am 12. Juli mit dem Gesundheits-Forum "Krankheiten des Gehirns" abschließt. In ihr werden Experten des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zu Wort kommen.
Was geschieht, wenn wir eine Sprache lernen? Aus welchem Hirnwinkel holen wir mathematische Gleichungen wieder hervor? Wieso können wir sprechen, schmecken oder riechen, wo doch alle Nervenzellen gleich aussehen? Wissenschaftlern gelingen überraschende Einblicke in die etwa drei Pfund schwere Steuerzentrale in unseren Köpfen, in der rund hundert Milliarden Nervenzellen arbeiten - mehr als die Sterne in unserer Milchstraße.
Möglich werden die Erkenntnisse durch moderne, bildgebende Verfahren (Kasten). Denn diese Techniken, die auch im "Neuroimage Nord" des UKE genutzt werden, erlauben den Blick unter die Schädeldecke, ohne das Gehirn zu verletzen. Beobachtungen an Hirnkranken und Tierversuche sind Quellen weiterer Erkenntnisse.
Still revolutionieren dabei die Hirnforscher unser Bild des Gehirns. Lange galt, daß jeder Hirnfunktion eine klar umrissene Hirnregion zugeordnet ist. "Heute gehen wir davon aus, daß an jeder Leistung des Gehirns mehrere, teilweise weit voneinander entfernte, aber stets verknüpfte Zellgruppen beteiligt sind. Nur wenn diese zusammenwirken, können wir etwas erkennen, lernen, beurteilen", sagt Prof. Joachim Liepert, Geschäftsführender Direktor der Klinik für Neurologie des UKE.
Statt fester Hirnregionen wirken, so das neue Modell, viele räumlich verteilte Nervenzellen in Verbänden zusammen. Sie verknüpfen sich durch eine Synchronisation ihrer Impulse - sie schwingen miteinander wie gut trainierte Synchronschwimmer, die ein Wasserballett aufführen.
Ad acta gelegt wird damit das Bild vom Gehirn als Telefonzentrale, die den Anruf von Augen, Ohr oder Nase entgegennimmt, umschaltet und Muskeln zur Antwort auffordert. Auch der Vergleich mit Computern ist hinfällig - das Gehirn ist komplexer und leistet mehr, ja völlig anderes. Es kann sich in andere Menschen hineinversetzen, kann ihr Verhalten vorausahnen, komplexe Situationen bewerten und - auch das war überraschend - es ist stets im Umbau begriffen. Zum einen wachsen auch im Gehirn Erwachsener neue Nervenzellen, zum anderen werden die Hirnleistungen je nach Anforderungen verändert. Das Beispiel der Londoner Taxifahrer ist legendär: Die für die Orientierung zuständige Gehirnregion war umso größer, je länger sie Taxi fuhren. Die Konsequenz daraus ist immer noch aktuell: Meiden Sie eingefahrene Bahnen!
Die Wissenschaftler sind sich heute sicher, daß immer detailliertere Bilder und Daten beweisen werden, was Hippokrates vor 2400 Jahren schon annahm: "Die geistigen Fähigkeiten des Menschen haben ihren Sitz an verschiedenen Stellen des Gehirns."