Norbert Leygraf hält Reemtsma-Entführer Thomas Drach für voll schuldfähig. Er zeige ein unreif-pubertäres Verhalten gepaart mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung.

Hamburg. Der psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf hält den Reemtsma-Entführer Thomas Drach für voll schuldfähig. "Es gibt nichts, was für eine Beeinträchtigung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit sprechen würde“, sagte Leygraf im Prozess gegen Drach am Montag vor dem Hamburger Landgericht. Eine psychische Erkrankung liege nicht vor. Drach zeige ein unreif-pubertäres Verhalten gepaart mit einer gewissen Impulsivität und einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Schon in früher Kindheit hätte es Anzeichen dafür gegeben, dass sich Drach einen gehobenen Lebensstil mit kriminellen Handlungen erwerben wollen würde.

Seine Taten habe Drach nicht im Affekt begangen, sondern akribisch geplant. "Er entspricht unter psychologischer Betrachtung dem Typ eines Berufskriminellen“, sagte Leygraf. Er habe einen "eingeschliffenen Hang", sein Leben ohne Rücksicht auf die Rechte anderer Menschen mit "erheblichen Straftaten" zu finanzieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werde Drach dies auch in Freiheit weiter fortführen.

Die Drohungen, die Drach nach dem ersten Prozesstag gegen einen Beamten aussprach ( "Besorge mir eine Kalaschnikow" ) seien laut Leygraf weniger ernstzunehmen. Dennoch sei Drach als anhaltend gefährlich einzustufen.

Der 51-Jährige hatte sich bislang geweigert, mit dem Gutachter zu sprechen. Das ist seiner Ansicht nach überflüssig. Dass das Gutachten gegen ihn verwendet werden könnte, befürchtet der noch immer als Schwerverbrecher eingestufte Angeklagte offenbar nicht. "Ich gehe ganz klar von Freispruch aus, alles andere wäre Rechtsbruch."

Drach gibt Bruder und Komplizen die Schuld

Der vierte Verhandlungstag im Prozess gegen Drach wegen räuberischer Erpressung hatte am Morgen mit einem zweieinhalbstündigen Vortrag des Reemtsma-Entführers begonnen. Demnach ist Drach der Ansicht, dass sein Bruder ihn ins Gefängnis gebracht hat. "Ich wäre nicht geschnappt worden“, sagte Drach vor dem Hamburger Landgericht. "Hätten die nicht gequatscht, wäre ich jetzt noch in Uruguay“, sagte er über seinen Bruder Lutz Drach und Komplize Bernd Dieter Kramer, der ebenfalls einen Teil des Reemtsma-Lösegeldes gewaschen haben soll.

Die beiden hätten "konspirative Telefone hochgehen lassen“. Erst dadurch sei er 1998 geschnappt worden. Lutz Drach und Kramer waren 2006 beziehungsweise 2008 wegen der Geldwäsche verurteilt worden. Seit Mai 2009 ist Lutz Drach auf freiem Fuß - mit unbekannten Aufenthaltsort. Wenige Monate zuvor soll Thomas Drach einem Freund und seiner Mutter Briefe geschrieben haben, in denen er laut nun jüngster Anklage versucht hat, zur Erpressung anzustiften. Dabei sollte der Freund nach den Planungen des Angeklagten binnen sechs Monaten 30 Millionen Euro von Lutz Drach erpressen. Zu der Tat kam es nicht, weil Justizbeamte die Briefe abfingen.

Mithilfe der ihm nun zur Last gelegten Briefe habe er wissen wollen, was aus dem Lösegeld geworden sei. Schließlich habe sich sein Bruder nicht an Absprachen gehalten. Deshalb schulde ihm sein Bruder Geld. "Ich verlange 15 Millionen Euro Schmerzensgeld für die 14 Jahre Gefängnis und 15 Millionen Euro Verdienstausfall“, sagte der Angeklagte. "Das könnte ich sogar einklagen." Lutz Drach hatte für seinen Bruder sechs Millionen Franken in der Schweiz gewaschen. Wo sich dieses Geld befinde, wisse er nicht, sagte Drach am Montag. Er sei sich jedoch sicher, dass sein Bruder das Geld nicht mehr habe.

Die Parabel vom Pudel und Schäferhund

Die geäußerten Ansprüche gegenüber seinem Bruder hält Drach zwar für "familieninterne Angelegenheiten" ("Selbst wenn wir uns mit Panzern beschießen, geht Sie das nichts an“, sagte er zu der Vorsitzenden Richterin Ulrike Taeubner), ließ es sich aber dennoch nicht nehmen, weitere Einblicke in die Geschwisterbeziehung Thomas und Lutz Drach zu gewähren. Dazu gab der 51-Jährige eine verquere parabel vom "Pudel und dem Schäferhund" zum Besten. Drach erzählte der Vorsitzenden Richterin, sein Bruder sei ein Pudel, so wie 90 Prozent der Menschen. Diese Menschen würden niemals eine Million Euro auf einem Haufen sehen. Die anderen 10 Prozent seien Schäferhunde. "Man kann den Pudel frisieren wie man will, er wird nie ein Schäferhund.“ Welcher Hunderasse sich Drach selbst zugehörig sieht, ließ er offen.

Drach hatte 1996 gemeinsam mit Komplizen den Hamburger Millionär Jan Philipp Reemtsma entführt. Nach 33 Tagen Gefangenschaft kam Reemtsma gegen ein Millionen-Lösegeld frei. Der Schwerkriminelle war als Strippenzieher der Entführung des Hamburger Multimillionärs im März 2001 wegen erpresserischen Menschenraubes zu 14 Jahren und sechs Monaten verurteilt worden.

Im neuen Prozess ist Drach wegen versuchter Anstiftung zur räuberischen Erpressung angeklagt. Ihm wird vorgeworfen, aus dem Gefängnis heraus versucht zu haben, einen Freund zur Erpressung seines Bruders Lutz Drach nzustiften. Die Staatsanwaltschaft vermutet, dass der 51-Jährige damit seinen Anteil am Lösegeld aus der Reemtsma-Entführung sichern wollte. Drach bestreitet dies. Wird Drach im neuen Prozess nicht verurteilt, könnte er frühestens am 21. Juli 2012 ein freier Mann sein. Was er in diesem Fall als erstes zu tun gedenkt, verriet Drach am Montag vor dem Landgericht. Dann wolle er nach Uruguay, um seinen Führerschein zu machen. Dort sei er "sauber und ohne Straftat“.

Im bisherigen Prozessverlauf hatten bereits die frühere Leiterin der Sicherungsstation im Gefängnis Billwerder , in dem Drach einsitzt, ein LKA-Beamter und zuletzt die Mutter des 51-Jährigen ausgesagt. Der Schwerverbrecher gilt nach wie vor als hochgefährlich, es gibt daher massive Sicherheitsvorkehrungen im Gericht.

Chronologie der Reemtsma-Entführung:

Juni 1995: Thomas Drach und sein Komplize Wolfgang Koszics beginnen, Jan Philipp Reemtsma zu observieren. Koszics mietet in Garlstedt bei Bremen ein Haus, das später als Geiselversteck dient.

25. März 1996: Reemtsma wird von seinem Grundstück in Hamburg-Blankenese entführt. Die Kidnapper hinterlassen eine Lösegeldforderung über 20 Millionen D-Mark.

27. März 1996: Die Erpresser melden sich mit einem Brief, dem ein Foto Reemtsmas beiliegt. Nachdem die ersten Lösegeldübergaben scheitern, erhöhen die Entführer ihre Forderung auf 30 Millionen in D-Mark und Schweizer Franken.

24. April 1996: In Krefeld gelingt der dritte Versuch zur Geldübergabe. Die Entführer entkommen mit den Millionen.

26. April 1996: Reemtsma wird nach 33 Tagen Geiselhaft in der Nähe von Hamburg freigelassen.

24. Mai 1996: In einem Haus in der Nähe von Bremen wird das Kellerverlies entdeckt, in dem Reemtsma festgehalten wurde. Als Tatverdächtige werden Peter Richter aus Leverkusen, Wolfgang Koszics aus Krefeld und Thomas Drach aus Köln gesucht.

26. Mai 1996: Koszics wird in Südspanien verhaftet.

29. Mai 1996: Richter wird in Malaga festgenommen.

14. Februar 1997: Koszics und Richter werden in Hamburg zu zehneinhalb beziehungsweise fünf Jahren Haft verurteilt.

28. März 1998: Drach wird in einem Hotel in Buenos Aires festgenommen.

12. Juni 1998: Ein Gericht in Buenos Aires ordnet zunächst an, dass sich Drach in Argentinien wegen Urkundenfälschung bzw. Passfälschung verantworten muss.

16. März 1999: Der letzte noch flüchtige mutmaßliche Täter, Piotr Laskowski, stellt sich der Polizei. Er wird am 2. September zu sechs Jahren Haft verurteilt.

24. September 1999: Richter wird auf Bewährung entlassen.

19. Juli 2000: Argentiniens Staatspräsident Fernando de la Rua stimmt der Auslieferung Drachs nach Deutschland zu.

29. Juli 2000: Drach trifft in Hamburg ein und wird kurz darauf in die Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis überstellt.

30. August 2000: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage vor der Großen Strafkammer des Hamburger Landgerichts. Die Anklage gegen Drach lautet etwa auf erpresserischen Menschenraub. Die mögliche Höchststrafe dafür beträgt 15 Jahre Haft.

13. Dezember 2000: Vor dem Hamburger Landgericht beginnt der Prozess gegen Drach als Kopf der Entführerbande. Drach gesteht seine Beteiligung an Reemtsmas Verschleppung.

8. März 2001: Nach 14 Hauptverhandlungstagen wird Drach zu 14 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Fast das gesamte Lösegeld bleibt bis heute verschwunden.

Dezember 2002: Der mit internationalem Haftbefehl gesuchte Lutz Drach, Bruder von Thomas Drach, wird von spanischen Sicherheitskräften in Madrid verhaftet. Er soll seinem Bruder beim Verstecken der Beute und der Geldwäsche behilflich gewesen sein.

15. September 2003: Lutz Drach wird nach Deutschland ausgeliefert und kommt in Aachen in Untersuchungshaft.

14. April 2004: Thomas Drach wird wegen Widerstands gegen einen Vollstreckungsbeamten zu einer zusätzlichen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, womit sich seine Haftstrafe verlängert.

28. Oktober 2004: Lutz Drach wird vor dem Landgericht Aachen wegen Geldwäsche zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.

23. Februar 2006: Thomas Drach muss sich wegen Widerstands gegen Justizbeamte und versuchter Nötigung erneut vor dem Hamburger Landgericht verantworten und wird noch am selben Tag zu einer zusätzlichen Haftstrafe von drei Monaten und zwei Wochen verurteilt.

25. April 2006: Lutz Drach wird im neu aufgerollten Geldwäsche-Prozess vor dem Aachener Landgericht zu einer höheren Freiheitsstrafe von nun sechseinhalb Jahren verurteilt.

Mai 2009: Lutz Drach wird aus dem Gefängnis entlassen.

13. Oktober 2011: Thomas Drach muss sich wegen versuchter Anstiftung zur räuberischen Erpressung erneut vor dem Hamburger Landgericht verantworten.

Mit Material von dpa und dapd