Ein angeklagter Seeräuber behauptet, er sei strafunmündig. Es ist der erste Piratenprozess seit etwa 400 Jahren in Hamburg.
Neustadt. Vor Saal 337 herrscht drangvolle Enge, hinter eisernen Absperrungen wartet eine ganze Phalanx von Kameraleuten, während 50 Berichterstatter aus dem In- und Ausland schon im Raum sitzen. Auf langen Tischreihen stehen Schilder mit den Namen der zehn Angeklagten, die in der Öffentlichkeit "Piraten" heißen oder "Seeräuber" - Begriffe, die einen an pockennarbige, schrundige Kerle mit extrabreitem Kreuz und dicken Bizeps denken lassen.
Justizbeamte führen sie gegen 9.30 Uhr in den Raum. Köpfe drehen sich, Köpfe recken sich, ein Klischee verpufft. So sehen sie also aus: komplett unauffällig. Die meisten sehr jung und von eher schmächtigem Körperbau. Sie tragen Turnhosen, Sweatshirts und violette Kurzarm- über grüne Langarm-T-Shirts. Und die drei jüngsten der zwischen 17 und 48 Jahre alten Angeklagten - Jungs mit Schirmmütze und Kapuzenpullover - kann man sich auf einem Schulhof irgendwo in Hamburg besser vorstellen als bis an die Zähne bewaffnet in einem Schlauchboot. Einer der Angeklagten, der sein Alter mit 13 Jahren angegeben hat, sitzt in der letzten Reihe. Er weint und zittert. Später wird sein Verteidiger Thomas Jung ergänzen: Abdul Kader W. verspüre "Sehnsucht nach seiner Mutter".
Es ist der erste Piratenprozess seit etwa 400 Jahren in Hamburg. Ein Mammutverfahren mit 22 Zeugen, 20 Verteidigern, drei Dolmetschern. Ein Prozess, der auch den Blick richtet auf das Heimatland der zehn: das vom Bürgerkrieg zerrissene, bettelarme Somalia. Einigen drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Mit leiser Stimme verliest die Staatsanwältin die Anklage, sie lautet auf erpresserischen Menschenraub und gefährlichen Eingriff in den Seeverkehr. Am 5. April sollen die zehn mutmaßlichen Piraten das Frachtschiff MS "Taipan" rund 530 Seemeilen östlich der somalischen Küste angegriffen haben. Sie hatten Waffen dabei, fünf vollautomatische Gewehre, Kaliber 7,62 mm. Zwei russische Panzerfäuste und Enterhaken. Gegen die zwei wendigen Motorboote der Piraten hatte die schwerfällige "Taipan" keine Chance.
Als der Kapitän zwei Signalabwehrraketen auf die Boote abfeuerte, beschossen die Piraten den Frachter aus vollen Rohren. Schließlich flüchtete die 15-köpfige Crew in einen Schutzraum unter Deck, kappte vorher noch die Energieversorgung und setzte einen Notruf ab. Soldaten der niederländischen Fregatte "Tromp" konnten die mutmaßlichen Seeräuber nach einem kurzen Schusswechsel widerstandslos festnehmen. Zunächst in die Niederlande überstellt, dann nach Deutschland ausgeliefert, sitzen die Angeklagten - 6000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt - seit Mitte Juni in Untersuchungshaft, die Erwachsenen am Holstenglacis, die zwei Heranwachsenden und der Jugendliche in Hahnöfersand.
+++ Warum ist der Piratenprozess in Hamburg? +++
Über sie ist so gut wie nichts bekannt, Dokumente aus dem chaotischen Land sind rar. Die wenigsten Angeklagten kennen angeblich ihr Geburtsdatum. Ein Manko, das auch der Vorsitzende Richter Bernd Steinmetz spürt, als er gestern die Personalien der Angeklagten mit den Akten abgleicht. Er sei "unter einem Baum" geboren, sagt etwa Abdul Kahlief D., ein anderer: "Ich wurde während der Regenzeit geboren, ich bin 24."
Die entscheidende Frage am ersten Prozesstag: Wie alt ist Abdul Kader W., der nach eigenen Angaben 13-Jährige? Mindestens 15 Jahre, legt ein niederländisches Gutachten nahe. Auf 18 Jahre oder älter schätzen ihn sogar UKE-Mediziner. Sein Verteidiger hingegen verweist auf eine somalische Geburtsurkunde und eine beeidigte Aussage seiner Mutter, deren Wert für die Hamburger Staatsanwaltschaft indes strittig ist. "Mein Mandant ist aufgrund seines Alters strafunmündig", sagt Jung.
Die Expertisen seien "unwissenschaftlich", sie hätten "keinerlei Aussagekraft". Schlimmer noch, die Gutachter seien "mit dem Angeklagten wie mit einem Stück Fleisch umgegangen", sagt Jung. Seine Kollegin stellt auch einen Antrag: Sie will die Öffentlichkeit aus Rücksicht auf die Befindlichkeit von Abdul Kader W. ausschließen lassen. "Das große Medieninteresse verstärkt nur seine Ängste", sagt sie.
Es geht hier um mehr als die juristische Aufklärung eines "überschaubaren" Sachverhalts, es geht um Politik, um Völkerrecht. Vor und im Gebäude verteilen Menschenrechtler Flugblätter, und die Verteidiger wollen vor Gericht, so erklären sie, akribisch die Bedingungen durchleuchten, unter denen die Angeklagten in ihrem Heimatland zu leben und zu leiden hatten - nur so sei ihnen, wenn überhaupt, eine individuelle Schuld nachzuweisen.
Seit Anfang 2009 hat die Staatsanwaltschaft in 60 Fällen gegen Seeräuber ermittelt. In dem aktuellen Prozess sehen die Verteidiger eine Art Fanal für die Hamburger Gerichtsbarkeit. Das Verfahren werde zeigen, ob die Justiz solchen Fällen gewachsen sei. Damit meinen sie wohl auch: künftige Fälle.