Nach fast 48-stündiger Geiselhaft sind zwei deutsche Seeleute und zehn osteuropäische Besatzungsmitglieder wieder frei.

Berlin. Es ist früher Abend gegen 18 Uhr, als das Drama beginnt. Langsam schiebt sich der 122 Meter lange Frachter "BBC Polonia" am Freitag an der nigerianischen Küste entlang - da passiert der Überfall: Eine Gruppe Bewaffneter stürmt das Schiff, schießt und kidnappt die zwölfköpfige Besatzung. Zwei Deutsche gehören dazu, einer von ihnen ist der 71 Jahre alte Kapitän. Die anderen stammen aus Russland, Lettland, Litauen.

Ein ukrainischer Matrose wird angeschossen und verletzt an Bord zurückgelassen. Von den anderen fehlt 48 Stunden lang jede Spur. Bis gestern Abend, als das Auswärtige Amt bestätigte: Die Crew ist frei. Die Männer sind unverletzt. Und auch die beiden Deutschen seien "wohlauf".

Ein Sprecher des nigerianischen Militärs sagte, die Seeleute würden nun nach Bonny unweit der Öl-Metropole Port Harcourt gebracht. Hier liegt bereits die "BBC Polonia", die die Marine nach dem Überfall dorthin transportiert hatte. Das Handelsschiff gehört zur Flotte der deutschen Reederei Briese im niedersächsischen Leer, fährt aber unter der Flagge des Inselstaates Antigua und Barbuda, der in der westlichen Karibik liegt. Der letzte Hafen der "BBC Polonia" war nach Auskunft der Internetseite Marinetraffic.com die Hauptstadt der Insel Gran Canaria, Las Palmas. Von dort aus steuerte das Schiff den Hafen von Onne im Niger-Delta an. Doch bevor es sein Ziel erreichen konnte, geschah der Überfall in den Gewässern des Bundesstaates River State. Mit einem eigens eingerichteten Krisenstab hatte das Auswärtige Amt in Berlin an einem Ende der Geiselnahme gearbeitet. "Wir bemühen uns mit Hochdruck um eine schnelle Freilassung der Entführten und arbeiten eng mit den nigerianischen Behörden zusammen", sagte eine Sprecherin.

Bekannt hat sich zu der Entführung bislang niemand. Unklar ist auch, ob ein Lösegeld gezahlt wurde. Allerdings sind Geiselnahmen gerade an der nigeriaschen Küste keine Seltenheit. Jedes Jahr werden Dutzende Menschen, meist Ausländer, verschleppt und nach Tagen oder manchmal auch Monaten gegen ein Lösegeld wieder freigelassen. Der Grund dafür ist das Erdöl, das tief unter dem Land in großen Feldern lagert und Nigeria zur Schatzkammer Afrikas gemacht hat. Es ist mittlerweile der größte Erdölproduzent des Kontinents und gehört weltweit zu den wichtigsten Versorgern.

Vor allem ausländische Konzerne befördern das Öl an die Erdoberfläche, pumpen es in Pipelines und große Tanker und verkaufen es in die Welt. Gerade in einer Zeit, in der Energie zu einem immer gefragteren Gut wird, macht man damit gute Gewinne. Und die Nigerianer wissen das.

Seit Jahren schon fordern sie deshalb einen höheren Anteil an den Einnahmen der Konzerne. Gerade die Armen unter ihnen haben an den Umweltverschmutzungen durch die Ölförderung zu leiden. Sie können ihre Felder nicht mehr bestellen, die Fische schwimmen tot auf dem Wasser. Etwa 28 der 150 Millionen Einwohner Nigerias leben im Niger-Delta. Den meisten geht es trotz des Ölreichtums wirtschaftlich schlecht. Die Befreiungsbewegung für das Niger-Delta (MEND) führt seit Jahren einen Guerillakrieg, in dem nicht nur die Entführungen als probates Mittel dienen, sondern auch Anschläge auf Ölfördereinrichtungen und Pipelines. Der daraus entstehende wirtschaftliche Schaden ist immens: Nur zwei Drittel der Förderkapazitäten können genutzt werden.

Einen Hoffnungsschimmer gab es im Herbst 2009. Die Regierung bot den Rebellen eine Amnestie an. Und das hieß: Straffreiheit im Tausch gegen Waffen. Mehr als 20 000Kämpfer gingen darauf ein. Versprochen wurden Geld, Arbeit und ein Wiedereingliederungsprogramm - nur langsam aber folgte die Einlösung. Zu langsam für viele Nigerianer, die erst damit drohten, die Kämpfe wieder aufzunehmen und dann zu Beginn des Jahres den Waffenstillstand aufkündigten.

Der Sprecher der nigerianischen Marine verdächtigte gestern diese militanten Gruppen, für den Angriff auf die "BBC Polonia" verantwortlich zu sein.

Die Rebellenbewegung MEND erklärte jedoch, sie sei nicht beteiligt gewesen. Von dem verletzten Seemann, der von den Piraten an Bord zurückgelassen wurde, erhoffen sich die Sicherheitskräfte nähere Informationen.

Piratenangriffe sind sonst vor allem von der ostafrikanischen Küste bekannt - in den Gewässern vor Somalia kommt es immer wieder zu Übergriffen. Jetzt hat die Gefahr offenbar auch den Westen des Kontinents erreicht: Erst wenige Tage vor der Attacke auf die "BBC Polonia" hatten Piraten in den Grenzgewässern zwischen Kamerun und Nigeria ein Passagierschiff angegriffen. Mehr als hundert Menschen waren in der Gewalt der Seeräuber und wurden ausgeraubt. Eine Frau wurde dabei getötet, vier Menschen schwer verletzt.