Hamburg. Unsere Serie steuert auf ihr Finale zu: Was uns bis zum Jahr 2000 bewegte – und wie das alles unsere Gegenwart und Zukunft beeinflusst.

Sie feiern sich als Retter des lebendigen Bergedorf, als Verhinderer von „Hochtief-City“. Und das bis heute: Die „Bürgerinitiative Bahnhofsvorplatz Bergedorf“, kurz BBB, stoppte im Jahr 2000 ein 150-Millionen-Mark-Projekt, mit dem der Baukonzern Hochtief im Schulterschluss mit dem Hamburger Senat den Bergedorfern eine „Neue Mitte“ aus Stahlbeton schenken wollte. Die BBB gewann den eigens initiierten ersten Hamburger Bürgerentscheid, der Konzern wurde vertrieben, und zwischen Bahnhof, Bergedorfer Hafen und Stuhlrohr-Quartier blieb alles, wie es war.

Doch genau deshalb ging die Jahrtausendwende auch als Zäsur in die jüngste Geschichte Bergedorfs ein. Denn sie lähmte die Stadtentwicklung für fast ein Jahrzehnt. Wie es von 2000 bis heute weitergeht, beschreibt unsere Serie ab kommender Woche. Es wird das Finale der bisher schon gut 90-teiligen Reihe zum 150-jährigen Jubiläum der Bergedorfer Zeitung. Vor dem Übergang von der Geschichte unseres Bezirks in die Gegenwart erlauben wir uns heute einen Blick auf die vielen Entdeckungen, Erkenntnisse und Einsichten, die unsere seit Weihnachten 2022 an jedem Wochenende erscheinende Serie ans Licht geholt hat.

„Das Bergedorf, wie wir es heute kennen, wäre 2000 beinahe verloren gegangen“

Eine Überzeugung hat zumindest die vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte überdauert: „An der Schwelle zum neuen Jahrtausend wäre das Bergedorf, wie wir es heute kennen, beinahe verloren gegangen. Wie ein Ufo sollte das Hochtief-Projekt vor dem Bergedorfer Bahnhof landen und alles unter sich begraben, einschließlich der Stuhlrohrhallen und dem Bahnhof selbst“, erinnert sich Helmuth Schlingemann heute. Der Architekt, damals zusammen mit BBB-Sprecher Hartmut Falkenberg, Schuhhändler Friedrich Schüttfort und Gewerkschafter Lutz Eilrich Teil des harten Kerns der Bürgerinitiative, ist heute noch schockiert: „Das war alles hinter verschlossenen Türen entworfen worden. Wir Bürger hatten von ‚Hochtief-City‘ nur durch Zufall erfahren. Die Pläne sollen aus Urheberrechtsgründen gar nicht an die Öffentlichkeit.“

BI Bahnhofsvorplatz
Helmuth Schlingemann (li.) und Hartmut Falkenberg von der ehemaligen Bürgerinitiative Bahnhofsvorplatz Bergedorf (BBB) beim Interview mit unserer Zeitung. © bgz | Ulf-Peter Busse

„Klar war nur, dass ein Einzelhandelsgutachten in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre Bergedorfs Untergang als Einkaufsstadt an die Wand malte“, sagt Hartmut Falkenberg beim Interview vor einigen Tagen. „Mindestens 20.000 Quadratmeter zusätzliche Verkaufsfläche mussten her – und weil der alte ZOB samt Bahnhof ohnehin weg sollte, wurde kurzerhand alles überplant.“

Die Aktivisten der Bürgerinitiative Bahnhofvorplatz Bergedorf wurden nicht mehr gegrüßt

Als sich die kaum 20 Mitglieder kleine BBB formierte und für ein so einschneidendes Projekt eine Bürgerbeteiligung einforderte, wurde sie von allen Seiten kritisiert. „Mich haben plötzlich Leute nicht mehr gegrüßt, die ich eigentlich gut kannte“, erinnert sich Falkenberg. „Wir waren wie Aussätzige, bloß weil wir forderten, an Bergedorfs Zukunftsplanung möglichst viele Bergedorfer zu beteiligen.“

Ein Entwurf von Hochtief für das ZOB-Zentrum in Bergedorf.
Ein Entwurf von Hochtief für das ZOB-Zentrum in Bergedorf. © bz | bz

Dabei hatte die Initiative viele gute Ideen, die heute Wirklichkeit sind: Etwa das Serrahn-Ufer als Gastromeile am Bergedorfer Hafen zu entwickeln, ein Bürgerzentrum des Bezirksamts am Bahnhof zu eröffnen oder statt dem Monster „Hochtief-City“ einfach eine Erweiterung des vorhandenen Einkaufszentrums CCB auf dem alten ZOB zuzulassen.

Mit klarem Votum der Bergedorfer die Hinterzimmerpläne „Hochtief-City“ gestoppt

Dass sie sich am Ende durchsetzen konnten, ist eigentlich ein großer Zufall, da sind sich Falkenberg und Schlingemann heute einig: „Nur weil Hamburg 1999 auf direkte Demokratie setzte und die Möglichkeit schuf, per Bürgerentscheid auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen, konnten wir uns Gehör verschaffen. Und am Ende, im Frühling 2000, dank des klaren Votums der Bergedorfer die Hinterzimmerpläne stoppen.“

Bürgerinitiative
Die Vertrauensleute der Bürgerinitiative Bahnhofsvorplatz Bergedorf für den Bürgerentscheid im Frühling 2000: Sprecher Hartmut Falkenberg, Harald Schween (Bergedorfer Bürgerverein) und Gewerkschafter Lutz Eilrich (v. l.). © bz | bz

Die Zukunft der City wurde an einen runden Tisch verlagert, mit breiter Beteiligung von lokaler Wirtschaft über die hiesige Politik bis zu Bergedorfs Gesellschaft. „Das zog sich mit insgesamt 14 Sitzungen des runden Tisches zwar über gut zwei Jahre hin, aber dafür ist am Ende ein Bergedorf für die Bergedorfer herausgekommen“, ist sich Helmuth Schlingemann bis heute sicher.

In diesem Jahr kann Bergedorf sogar 200 Jahre Zeitungsgeschichte feiern

Bruchstellen, an denen sich die Entwicklung Bergedorfs plötzlich in eine vorher nicht absehbare Richtung bewegte, gab es in den vergangenen 150 Jahren einige. Das belegt unsere Serie – und zwar auch für die Bergedorfer Zeitung und ihre Vorgänger, deren Entwicklung Thema der ersten Phase unserer Serie war. Hier förderte die Recherche – in diesem Fall vielleicht besser unsere Forschung – zutage, dass die bz anno 2024 gar nicht 150 geworden ist. Vielmehr ist das Datum eine Erfindung des Verlegers Axel Springer, der 1974 einfach nur die Übernahme jener Zeitung gebührend feiern wollte, bei der er 1932/33 selbst volontiert hatte. Was passte da besser, als der 100. Geburtstag der bz?

Bergedorfer Zeitung
Verleger Axel Springer bei seiner Ansprache zum 100. Geburtstag der Bergedorfer Zeitung im Innenhof des Verlagsgebäudes am Curslacker Neuen Deich im Mai 1974. © bgz | Bergedorfer Zeitung

Wäre damals tatsächlich schon zur Geschichte des Bergedorfer Zeitungswesens geforscht worden, hätten wir heute ein noch bedeutsameres Jubiläum feiern können: Vor 200 Jahren, anno 1824, war es nämlich ein gewisser Christian Andreas Meldau, der in seiner kleinen Buchdruckerei am Kuhberg, dem heutigen Wiebekingweg gleich neben der heutigen Fußgängerzone Sachsentor, „Die Sonntagszeitung“ zum ersten Mal herausbrachte. Es ist der Beginn der ununterbrochenen Zeitungstradition in Bergedorf.

Bergedorfs Selbstbewusstsein: Ein Verdienst „seiner“ Zeitung

Genau diese Kontinuität macht Bergedorf bis heute zu einem Ort, der „seine“ Zeitung trägt. Auch wenn mal ein Verleger scheiterte, die Weltkriege unter den Mitarbeitern ihren Tribut forderten oder die Nazis die bz Ende Februar 1943 angeblich aus Papiermangel einstellten: Als sie am 1. Oktober 1949 wieder auf den Markt kam, gab es diverse begeisterte Leserbriefe, aber natürlich mit der Forderung, sich nun aber bitteschön auch wieder als Sprachrohr Bergedorfs und seiner Bewohner ins Zeug zu legen. Kurz: Das bis heute lebendige Selbstbewusstsein, in einer besonderen Stadt in der Metropole Hamburg zu leben, hat viel mit der langen Tradition der Bergedorfer Zeitung zu tun.

Bergedorfer Zeitung
Titelseite der ersten Ausgabe der Bergedorfer Zeitung nach dem Zweiten Weltkrieg: Am 1. Oktober 1949 erschien das Blatt wieder, nach sechs Jahren und sieben Monaten Zwangspause. © bgz | Bergedorfer Zeitung

Die zweite Phase unserer Serie weitete dann den Blick von der Zeitung auf die Entwicklung Bergedorfs, für das unser fiktives Gründungsdatum 1874 nämlich eine echte Zeitenwende bedeutete: Von diesem Jahr an war das „Städtchen“, wie es bis dahin noch genannt worden war, nämlich zu einer vollwertigen Stadt im Land Hamburg geworden. Es folgte mit der nun einsetzenden Industrialisierung ein so rasanter Aufschwung, dass sich die Einwohnerzahl im heutigen Bezirk Bergedorf mehr als verfünffachte. Alles zusammen sorgte auch für ein rasches Wachstum der Zeitung, die schnell über 50 Mitarbeiter zählte.

Skandale von Bismarcks Tod bis zum Abriss des Bergedorfer Schlosses

Die großen Themen unserer Serie waren jetzt etwa der Teilabriss des Bergedorfer Schlosses 1896-98, der Skandal um Bismarcks Tod 1898 im benachbarten Friedrichsruh, der Bau des Bergedorfer Hafens 1902 und der Umzug der Hamburger Sternwarte auf den Gojenberg in Bergedorf von 1906 bis 1912. Sie stießen auf ein riesiges Interesse, wie nicht zuletzt die Zugriffszahlen im Internet zeigen, wo die Artikel neben ihrer gedruckten Veröffentlichung auf den Zeitungsseiten ja längst auch erscheinen.

Aufbau der Bergedorfer Sternwarte um 1910: Das 1833 am Millerntor in Hamburg gegründete Observatorium zog 1906 bis 1912 auf den Gojenberg nach Bergedorf.
Aufbau der Bergedorfer Sternwarte um 1910: Das 1833 am Millerntor in Hamburg gegründete Observatorium zog 1906 bis 1912 auf den Gojenberg nach Bergedorf. © Wolfgang Thürmer | Archiv Wolfgang Thürmer

Noch turbulenter ging es damals in der Wirklichkeit und heute beim virtuellen Interesse zu, als das Kaiserreich zu Ende ging und die Weimarer Republik ihren Lauf nahm: Die Bergedorfer zogen tatsächlich mit Jubelschreien in den Ersten Weltkrieg – um anschließend traumatisiert, hungernd, ohne die vertraute Monarchie nach Hause zurückzukehren. Und dann in der Hyperinflation von 1923 mit einer täglichen (!) Geldentwertung von 100 Prozent oder mehr endgültig völlig zu verarmen.

Bergedorfer Zeitung als lebendiges Geschichtsbuch: Wie war es in der Weimarer Republik?

Die Bergedorfer Zeitung berichtet über alles das täglich und vermittelt so ein Bild des Alltags vor 100 Jahren, das nachvollziehbar macht, warum unsere Urgroßeltern damals den Demokratiefeinden von rechts und links auf den Leim gingen. Auch wenn in den sogenannten „Goldenen 20er-Jahren“ zum Ende des Jahrzehnts noch mal kräftig gefeiert wurde: Eigentlich war allen klar, dass wegen des verlorenen Ersten Weltkriegs nichts dauerhaft besser werden kann.

Oder mit einem gewissen Adolf Hitler doch? Auch für die Bergedorfer, erschöpft und frustriert durch das schier ewige Chaos der Weimarer Republik, war verlockend, den Nazis auf den Leim zu gehen: Endlich wieder ein starker Mann, der alles regelte – und wie durch ein Wunder tatsächlich die riesige Arbeitslosigkeit der frühen 30er-Jahre in den Griff zu bekommen schien.

Hunderte huldigen Hitler bei seiner Fahrt durch das Sachsentor

Hitlers eher zufällige Fahrt durch Bergedorf wird im Juni 1935 denn auch zur Heldenverehrung. Auch wenn er mit seinem Tross im offenen Mercedes nur auf der Durchreise nach Berlin ist, stehen Hunderte am Straßenrand, sind im Sachsentor riesige Hakenkreuz-Banner gehisst, und die Artikel unserer längst gleichgeschalteten Zeitung gleichen einer einzigen großen Huldigung. Dabei hatte auch hier längst und ganz öffentlich die Judenverfolgung begonnen: mit dem regelmäßigen Boykott ihrer Geschäfte.

Adolf Hitler bei seiner Fahrt durch Bergedorf im Juni 1935.
Adolf Hitler bei seiner Fahrt durch Bergedorf im Juni 1935. © Kultur- & Geschichtskontor | Kultur- & Geschichtskontor

Dass alles zusammen in einen neuen Weltkrieg führen musste, ist heute wissenschaftlich belegt. Und auch vor 90 Jahren dürften das viele geahnt haben. Wichtiger war ihnen aber, erst einmal wieder in Ruhe leben zu können und das Chaos der (Weimarer) Demokratie endlich hinter sich zu lassen. Ein Schelm, der hier Parallelen zu heute zieht...

Drama der Durchbruchstraßen: Rücksichtslose Stadtplanung für das autogerechte Bergedorf

Andere Folgen der wilden Weimarer Republik können in Bergedorf bis heute besichtigt werden. Sie sind Teil der dritten Phase unserer Serie, die sich vom Wiedererscheinen der bz im Oktober 1949 jeden einzelnen Jahrgang bis 2000 in unserem Zeitungsarchiv vorgeknöpft hat. Buchstäblich einschneidend sind hier Bergedorfs Durchbruchstraßen. Schon 1912 vom Rat der Stadt beschlossen, wurde Ende der 20er-Jahre zunächst die Vierlandenstraße auf geradem Weg von der Kirche St. Petri und Pauli mitten durch die Altstadt geschlagen.

Mohnhof
Der Mohnhof im Frühjahr 1958. Kurz zuvor war die Bergedorfer Straße als Durchbruchstraße durch die 300 Jahre alte Vorstadt für den Verkehr freigegeben worden. © Museum für Bergedorf und die Vie | Egon Klebe

Die zweite wurde dann Mitte der 50er-Jahre nachgeholt und zum Symbol rücksichtsloser Stadtplanung im Dienst der autogerechten Stadt der Zukunft: 1955-58 bahnten sich die Abrissbagger ihren Weg vom alten Hafenquartier am Schleusengraben über die Vierlandenstraße und weiter durch die 300 Jahre alte Bergedorfer Vorstadt bis zur neuen Großkreuzung Mohnhof. Am 11. April 1958 wurde die Bergedorfer Straße/B5 wegen der immer heftigeren Protesten schließlich ganz ohne Feier dem Verkehr übergeben. Der Bau einer echten Umgehungsstraße, für die es sogar schon Pläne gab, war schon lange im Vorfeld verworfen worden.

Abrissbagger beseitigen Lohbrügges Zentrum: Es wird zur für Jahre zur Ruinenstadt

„Die Durchbruchstraße zeigt, wie eine schlechte Planung, einmal in Gang gekommen, über Jahrzehnte fortgeführt wird und auch durch schlüssige Alternativen nicht gestoppt werden kann“, fasst das Kultur- & Geschichtskontor später den Irrsinn dieser Stadtplanung zusammen. „Ist erst mal ein Anfang gemacht, werden Sachzwänge produziert, die später als Argumente für ein Festhalten am Geplanten dienen.“

Bergedorfer Zeitung
Geschäftsstelle der Bergedorfer Zeitung Ende der 1960er-Jahre im Iduna-Hochhaus an der Bergedorfer Straße: Nachdem Redaktion, Verlag und Druckerei den Stammsitz der Zeitung am Bergedorfer Markt 1967 verlassen hatten und in den Neubau am Curslacker Neuen Deich gezogen waren, behielt die bz noch für einige Jahre diese Geschäftsstelle im Bergedorfer Zentrum. © bgz | Egon Klebe

Doch auch wenn Bergedorfs historischer Stadtkern so viele Federn lassen muss – oder besser viel Flair verliert: Das benachbarte Ortszentrum Lobrügges lassen die Stadtplaner des Bergedorfer Rathauses Mitte der 60er-Jahre sogar ganz beseitigen und mangels der erhofften Shopping-Zentren bis in die 80er-Jahre sogar teilweise zur Ruinenstadt verkommen und verwildern. Das belegt unsere Serie mit ihren Teilen über die Jahre 1965 bis 1984.

Bergedorfs Jugend: Von der APO über Hausbesetzer bis zu Umweltaktivisten

Auch die Veränderung der Jugendbewegungen über die verschiedenen Jahrzehnte der Bundesrepublik lässt sich in Bergedorf belegen: Angefacht durch die Studentenproteste von 1968 entsteht ein Jahr später die in Bergedorf besonders aktive Außerparlamentarische Opposition, kurz APO. Ideologisch und argumentativ vom jungen linken Volksschullehrer und DKP-Mitglied Alfred Dreckmann geschult, bringen die Aktivisten 1969 selbst den wortgewandte Helmut Schmidt bei seinem Wahlkampf als Bergedorfer Bundestagskandidat in Schwierigkeiten.

Geerd Dahms ist Sprecher der Hausbesetzer, die von 1982 bis zur Räumung 1984 die Speckenhäuser südlich der B5 im Bergedorfer Stadtzentrum retten wollen. Es ist die Geburtsstunde der Initiative zur Erhaltung historischer Bauten, heute Träger des Kultur- & Geschichtskontors.
Geerd Dahms ist Sprecher der Hausbesetzer, die von 1982 bis zur Räumung 1984 die Speckenhäuser südlich der B5 im Bergedorfer Stadtzentrum retten wollen. Es ist die Geburtsstunde der Initiative zur Erhaltung historischer Bauten, heute Träger des Kultur- & Geschichtskontors. © Kultur- & Geschichtskontor | Kultur- & Geschichtskontor

Gut zehn Jahre später geht es den jungen Bergedorfern dann weniger um Ideologie als um die ganz realen Inhalte der Politik. Parallel zur Besetzung der Hafenstraßenhäuser in Hamburg gibt es von 1982 bis 1984 auch in Bergedorf eine aktive Hausbesetzer-Szene. Ihr Ziel: Der noch immer anhaltenden Abrisspolitik im Bezirksamt endlich ein Ende zu setzen und Bergedorfs historische, sein Ortsbild prägende Bausubstanz erhalten.

Dioxin aus Billbrook: Das Boehringer-Werk muss schließen

Und es geht dem Pflanzenschutzmittel-Hersteller Boehringer an den Kragen: Weil sein Werk in Billbrook vor Bergedorfs Toren das tödliche Gift Dioxin mit seinen Abfällen überall verklappt – teils sogar mit behördlicher Genehmigung – tritt die junge grüne Bewegung auf den Plan: Im Juni 1984 muss Boehringer sein Werk an der Andreas-Meyer-Straße dicht machen.

Boehringer
Blockade von Umweltaktivisten 1984 vor dem Werkstor von Boehringer an der Andreas-Meyer-Straße. Der Konzern produzierte hier seit den 50er-Jahren das Pflanzenschutzmittel Lindan. Bei der Herstellung fiel unter anderem das Gift Dioxin an. © bgz | Bergedorfer Zeitung

Auf ganz anderen Wegen ist kurz darauf die Jugend im Stadtteil Lohbrügge-Nord unterwegs: Hier gewinnen die Neonazis immer mehr Anhänger. Mit Ausländerhass gegen Türken und die wachsende Flüchtlingswelle aus Ex-Jugoslawien, immer mehr Gewalttaten, Mordversuchen und Wehrsport-Übungen etwa in den Besenhorster Sandbergen bei Geesthacht wird der Rechtsextremismus im Hamburger Osten ein immer größeres Problem.

Lohbrügger Neonazis schmieden das „Aufbauprogramm Ost“ – und gehen nach Mecklenburg

Am Ende hilft zwar keines der politischen Konzepte, wie die Aufstockung der Sozialpädagogen in den Jugendtreffs von Lohbrügge, sondern der Zufall: Weil es 1989/90 plötzlich zur Deutschen Wiedervereinigung kommt, schmieden die Lohbrügger Neonazis einen „Aufbauplan Ost“. Und seine Urheber, die bis heute aktiven Neonazi-Köpfe Christian Worch und Thomas Wulff aus Lohbrügge sowie der 1991 verstorbene Michael Kühnen siedeln nach Mecklenburg über.

Unheimliche Rückkehr nach Bergedorf: Im Dezember 2014 demonstrieren 19 NPD-Anhänger vor dem Bahnhof Nettelnburg gegen die damals auf dem P+R-Platz neu errichtete Flüchtlingsunterkunft. An ihrer Spitze: Thomas Wulff, der als Neonazi schon in den 80er-Jahren in Lohbrügge aktiv war.
Unheimliche Rückkehr nach Bergedorf: Im Dezember 2014 demonstrieren 19 NPD-Anhänger vor dem Bahnhof Nettelnburg gegen die damals auf dem P+R-Platz neu errichtete Flüchtlingsunterkunft. An ihrer Spitze: Thomas Wulff, der als Neonazi schon in den 80er-Jahren in Lohbrügge aktiv war. © NEWS & ART | Carsten Neff

Die Idee ihres „Aufbauplans Ost“: In der ehemaligen DDR haben die Menschen die sozialistische SED-Diktatur satt. Aber sie kennen sich nicht aus mit Demokratie und sind totalitäre Strukturen gewöhnt. Also bieten Worch & Co. ihnen die Neonazi-Ideologie und ihren politischen Arm an, damals die DVU. Und das Konzept geht auf, in den 90er-Jahren schon in manchen Landgemeinden von Mecklenburg-Vorpommern. Und heute offenbar auch bei den Landtagswahlen.

Flüchtlingskrise nach dem Zweiten Weltkrieg: Wirtschaftsaufschwung verhindert Spaltung

Ein ganz anderer Zufall hat Bergedorf und die ganze junge Bundesrepublik in den 50er-Jahren übrigens vor einem solchen Rechtsruck bewahrt. Auch das findet sich in unserer Serie: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich die Einwohnerzahl Bergedorfs von 35.000 durch Flüchtlinge und ausgebombte Hamburger auf 78.000 mehr als verdoppelt. Es gab Hunger, Armut, eine riesige Wohnungsnot und die große Gefahr, dass die „Fremden“ ausgegrenzt würden, rechte Parteien, die die Rückkehr der Vertriebenen in ihre alte Heimat versprachen, großen Zulauf bekamen.

Die Landsmannschaften der Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Ostgebieten bestimmen den Bergedorfer Alltag und seine Heimatfeste in den 50er-Jahren.
Die Landsmannschaften der Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Ostgebieten bestimmen den Bergedorfer Alltag und seine Heimatfeste in den 50er-Jahren. © BGZ

Doch es kam zu keinem Revanchismus, und auch die Spaltung der Gesellschaft blieb aus. Wie wir im Serienteil zu 1951 berichten, tut der Bezirk alles für die Integration. Vor allem mit seinem riesigen Heimatfest, das ab 1951 stets eine Woche lief und bis 80.000 Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen und Landsmannschaften unter anderem ins junge Billtal-Stadion lockte. Doch die wirkliche Ursache für das Ausbleiben der Probleme lag im Wirtschaftsaufschwung: Schon 1960 war das Heimatfest als Integrations-Institution praktisch überflüssig, beklagt die Bergedorfer Zeitung deutlich schrumpfende Gästezahlen: Den Menschen seien ihr VW Käfer und manche Urlaubsreise mittlerweile wichtiger. Der in allen Bevölkerungsgruppen wachsende Wohlstand ließ Gedanken an Ausgrenzung oder gar Vertreibung verblassen.

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Auch die Bergedorfer City verlor so ihre Bedeutung als zentraler Ort für das gesellschaftliche Miteinander, etwa in Form der großen Aufmärsche der Landsmannschaften der Heimatvertriebenen, von Wochen- oder Jahrmärkten. Jetzt ging es um den Einkaufsbummel. 1971 wird das Sachsentor zur Fußgängerzone, 1973 eröffnet das Einkaufszenrum CCB, und 1984 bekommt auch Lohbrügge dann seine Einkaufsstraße.

Doch die Pläne von 1999/2000 für die riesige „Hochtief-City“ vor dem Bergedorfer Bahnhof überdrehten diese Entwicklung zur Shoppingstadt Bergedorf. Findet jedenfalls Hartmut Falkenberg von der damaligen Bürgerinitiative BBB: „Zum Glück konnten wir das stoppen und für die Planung der City die beste Institution nutzen, die Bergedorf hat: Die Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt in der Metropole Hamburg. Denn die Bergedorfer sind bereit, sind für ihr Bergedorf zu engagieren. Und das gilt bis heute.“