Bergedorf. Die alte Vorstadt wird dem Traum von der neuen Zeit geopfert. Hunderte Arbeiterfamilien werden obdachlos. Doch die SPD hat einen Plan.
Wer vom Charme des Gründerzeit-Viertels Bergedorf-Süd schwärmt, hätte noch vielmehr Grund dazu, wären die Stadtplaner nicht einem zerstörerischen Plan verfallen: Kurz nachdem das Gründerzeit-Quartier 1910 fertiggestellt war, opferten sie das Jahrhunderte alte Bergedorf-Süd dem Straßenverkehr – und nannten es auch so: Zwei Durchbruchstraßen wurden mitten durch die Bergedorfer Vorstadt geschlagen und machen Hunderte Arbeiterfamilien obdachlos.
Nach Vorarbeiten im Jahr 1928 und Enteignungsverfahren, die schon 1912 anliefen, rückten die Bagger im Frühjahr 1929 an. Sie vernichteten das bunte, wenn auch einfache Leben in den unzähligen kleinen Katen der Vorstadt. Und auch vor den größeren, moderneren Geschäfts- und Handwerkerhäusern machen sie nicht halt, die längst an Hude, Specken und Pool standen, vor allem aber an der Neuen Straße, der Hauptverbindung in die Vierlande.
Abriss für die Vorstellung einer modernen und autogerechten Stadt
Geopfert wurde das alles für eine angeblich moderne und vor allem autogerechte Stadt – zunächst für die Vierlandenstraße als neue Hauptstraße vom Stadtkern bei der Kirche St. Petri und Pauli ins Landgebiet. Und anschließend die Bergedorfer Straße, die wegen des Zweiten Weltkriegs zwar erst Mitte der 1950er-Jahre fertiggestellt wurde, aber ebenfalls schon 30 Jahre zuvor geplant und in Form von Enteignungen vorbereitet worden war.
Unsere Zeitung feiert dieses zerstörerische Doppelprojekt am 18. März 1929 kurz nach dem Baubeginn als Bergedorfs Zukunft. Schließlich plante die Reichsbahn damals auch die Verlegung der Station Bergedorf an der Linie Hamburg-Berlin an ihren heutigen Standort: „Der in nächster Zeit bevorstehende Neubau des Bahnhofes an der Kampstraße und der in den letzten Jahren in ungeahntem Ausmaße gestiegene Kraftverkehr sowie die immer dringender werdende Sanierung unserer Altstadt zwingen die Stadtverwaltung, beschleunigt an den Ausbau einer zweiten Durchbruchstraße heranzutreten“, schreiben wir über die vorgesehene direkte Verbindung zwischen Mohnhof und Bahnhof als künftige Bergedorfer Straße, die nach der Vierlandenstraße folgen soll.
Motor hinter der Zerstörung der Vorstadt ist die SPD um Bürgermeister Wilhelm Wiesner
Sinn der beiden Durchbruchstraßen ist dabei nicht allein die Verkehrsentlastung des Bergedorfer Stadtkerns rund um das heutige Sachsentor. Der großflächige Abriss dient laut unserer Zeitung vielmehr „der Sanierung der Altstadt“ – als Fortführung der vielen in den 1920er-Jahren realisierten Neubauprojekte bis hin zum 1927 fertiggestellten ersten Bergedorfer Rathauses.
So sahen es auch Bergedorfs Sozialdemokraten um Bürgermeister Wilhelm Wiesner, die seit 1919 in der Stadtvertretung den Ton angaben und maßgeblich für die Realisierung des Kahlschlags verantwortlich waren. „Beseelt von dem Glauben, dass alles Alte dem Besseren der neuen Zeit weichen müsse“, schreibt Dr. Christel Oldenburg in Bergedorfs SPD-Chronik „Unbeugsam und leidenschaftlich“.
Tatsächlich wurden viele der obdachlos gewordenen Arbeiter aus ihren einfachen, oft völlig heruntergekommenen oder gar gesundheitsgefährdenden Behausungen direkt in Neubauten etwa im gerade entstehenden Gojenbergsviertel umgesiedelt. Dort gab es sogar Badezimmer in jeder Wohnung.
Bau der Durchbruchstraßen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme
Zudem wurden beim Bau der Vierlandenstraße Arbeitslose eingesetzt. „Im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms standen sie so wieder in Lohn und Brot. Auch das eine Maßnahme der umfangreichen städtischen Wohlfahrtspolitik in dieser ersten SPD-Ära Bergedorfs“, schreibt Oldenburg. Zuvor war auch der alte Stadtgraben in einem solchen Projekt zugeschüttet worden. Der sogenannte Blickgraben umschloss Bergedorfs alten Kern seit dem Mittelalter vom Schloss aus, kreuzte das Sachsentor neben dem heutigen Optiker Bode und entlang der Straße Hinterm Graben schließlich den Serrahn.
Kritischer geht Denkmalexperte Dr. Geerd Dahms in „Bergedorf – Altes neu entdeckt“ mit dem Aus für die gesamte Vorstadt um – und verweist auf ganz andere Hintergründe: „Die gewachsene Aufteilung der Vorstadt in viele kleine bebaute Grundstücke war für die Stadtplaner ein Widerspruch zur zentrumsnahen und damit lukrativen Lage. So konnte man keine Großinvestoren nach Bergedorf locken.“
Widerstand bei vielen Betroffenen: Doch Stadtbaurat Krüger zieht das Projekt durch
Tatsächlich regte sich Widerstand, besonders bei den vom Abriss betroffenen Handwerkern und Ladenbetreibern, die um ihre Existenz fürchteten. Denn mit dem Beschluss für die Straßen wurde über das gesamte Gebiet ein Verbot für Neu- und Umbauten, ja sogar größere Sanierungen verhängt: „So mancher hatte den Hammer gleich hinter der Tür stehen, um den Behördenvertretern, die bei den Hartnäckigen immer wieder vorsprachen, zu zeigen, was man von ihrer Stadtplanung hielt“, schreibt Dahms.
Doch Stadtbaurat Wilhelm Krüger und sein Team waren in den 1920er-Jahren sehr erfolgreich, sogar schon für die Durchbruchstraße II, wie unsere Zeitung im Frühjahr 1929 verkündet: „Der städtische Ankauf von Grundbesitz in den letzten Jahren im Inneren der Stadt, insbesondere an den Straßen Hude, Specken und Hinterm Graben, ist in Rücksicht auf diese kommende Notwendigkeit erfolgt.“
Riesige Neubauten säumen die neuen Straßen – auch wenn eine längst nicht fertig ist
Und tatsächlich werden gleich schon die massiven, bis zu fünfgeschossigen Wohnkomplexe beschlossen, die die Kreuzung Vierlandenstraße/Bergedorfer Straße bis heute prägen, schreibt die Bergedorfer Zeitung. „Die einheitliche Bebauung an der Durchbruchstraße II und den Anschlussstraßen soll nach Festlegung des der Stadtvertretung vorliegenden Planes gesichert werden wie an der ersten Durchbruchstraße.“ Das gilt auch für den Neubau der Bergedorfer Sparkasse (heute Haspa) im Jahr 1930 an prominenter Stelle direkt gegenüber der Kirche.
Nicht an die Stadt verkaufen wollte dagegen die Kirchengemeinde St. Petri und Pauli, die in Höhe der heutigen Haspa ein Grundstück besaß, ohne das die gesamte Vierlandenstraße gescheitert wäre. Dafür gab es heftige Kritik von der Konkurrenz unserer Zeitung, dem Bergedorf-Sander Volksblatt: Die Kirche würde sich dem Zug der Zeit entgegenstellen, wetterten die Kollegen des SPD-Blattes.
Kirchen St. Petri und Pauli bekommt im Flächentausch das alte Stadtgefängnis
Im April 1929 lenkt St. Petri und Pauli schließlich ein – auf Basis eines beeindruckenden Grundstückstausches: Die Stadt zahlt der Kirche 85.000 Reichsmark und überlässt ihr das Areal des ehemaligen Bergedorfer Gefängnisses an der Schlossstraße. Für das umgehend dort geplante, bis heute stehende Gemeindehaus, gab es sogar noch eine Spezialgenehmigung: „Der Kirche wird das Recht eingeräumt, den Bürgersteig an der Schlossstraße gegenüber St. Petri und Pauli in ganzer Frontlänge und Höhe mit einem Arkadengang zu überbauen“, meldet unsere Zeitung am 10. Mai.
Trotz aller Begeisterung über neue Straßen, sorgt kurz darauf der Plan, den Bergedorfer Markt im Zuge des Sachsentors zum Parkplatz zu machen, für großen Ärger. Zwar rollt dort ohnehin der Durchgangsverkehr zwischen Hamburg und Berlin, doch nun soll ein Beet verschwinden, in dessen Bereich bis kurz vorher noch Bergedorfs Wappenbäume standen, schreibt unsere Zeitung am 15. Mai 1929: „Ein Schandfleck im Stadtbild, wenn der Markt jetzt Abstellplatz für Lastkraftwagen und Privatautos würde.“
Protest der Bergedorfer Zeitung gegen Pflasterung vor ihrem Verlagshaus
Doch es nützt nichts: Direkt vor dem damaligen Sitz der bürgerlichen Bergedorfer Zeitung am Markt 6/7 lässt der SPD-dominierte Stadtrat schon im Juni alles pflastern. Das Grün verschwindet.
Rasant geht es auch mit dem Bau der Vierlandenstraße voran, wie es am 17. August unter der Überschrift „Flotte Arbeit an der Durchbruchstraße“ heißt. Sogar sei „bei den Pflasterarbeiten die Kreuzung der zweiten Durchbruchstraße gleich mit angelegt worden“. Weil hier anschließend auch die Wohngebäude entstanden, die zweite Straße aber noch 25 Jahre auf sich warten ließ, standen sie an einer Kreuzung, deren Querstraße beiderseits nach wenigen Meter zu Ende war.
Hamburg setzt bei Weiterführung der Durchbruchstraße ins Landgebiet Rotstift an
Gleichzeitig gibt es scharfe Kritik an Hamburg, da die Hansestadt die Finanzierung der letzten gut 200 Meter der Vierlandenstraße von der neuen Brücke über die Brookwetterung bis zum Neuen Weg beim Frascatiplatz nur in acht Metern Breite ausführte. Und das obwohl hier kein einziges Haus stand. Die von der Stadt Bergedorf finanzierten und geplanten ersten 400 Meter bis zur Kirche wurden dagegen in 20 Metern Breite durch die alte Vorstadt geschlagen. „Ein Schildbürgerstreich ersten Ranges“, wettert unsere Zeitung am 7. September 1929. „Autobusse und Lastzüge sind bereits zwei Meter breit und könnten nur bei vorsichtiger Fahrt eben aneinander vorbei fahren.“
Doch vorerst ist es bei diesem Flaschenhals auf dem Weg in die Vierlande geblieben, der in der Bevölkerung laut unserer Zeitung „Wurmfortsatz“ genannt wurde. In der Ausgabe vom 21. Oktober können dann endlich die finalen Arbeiten an der Vierlandenstraße angekündigt werden – wenn auch mit einer riesigen Verkehrssperrung mitten in Bergedorf: „Zur endlichen Verbindung der Durchbruchstraße mit der Holstenstraße und damit ihre Einbeziehung in den Verkehr“ fehle nur noch der Anschluss vor St. Petri und Pauli.
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Dafür werde dieser Bereich nun „ab Montag, 28. Oktober, für die Dauer von ungefähr drei Wochen für den durchgehenden Fuhrwerksverkehr gesperrt“, schreiben wir – und verweisen auf zwei offenbar noch immer in die künftige Vierlandenstraße hineinragende Gebäude: „Auch das Möllersche Haus, bis 1884 Sitz unserer Zeitung, wird nun endlich der Spitzhacke zum Opfer fallen, während über den Zeitpunkt des Abbruchs des Stuhlmannschen Hauses noch keine Einigung erzielt werden konnte.“
Tatsächlich ist es Bergedorfs Stadtvätern nie gelungen, das Hotel „Stadt Hamburg“ und heutige Block-House zu erwerben, weshalb die Vierlandenstraße in einer Kurve auf den Kirchenvorplatz von St. Petri und Pauli mündet. Dennoch zieht unsere Stadt schließlich ein positives Fazit: „Man sieht: die ,grüne Stadt an der Bille’ will in den nächsten Jahrzehnten ihr Gesicht von Grund auf ändern.“