Bergedorf. Täglich steigen die Preise um Tausende Prozent: Die Inflation von 1923 frisst alle Ersparnisse, sorgt für Hunger und blutige Proteste.

Das Chaos bricht um 15.30 Uhr los: Nach einer Versammlung des kommunistischen „Aktionsbündnisses“ im Lokal Colosseum nahe dem Frascatiplatz zieht „eine große Menschenmenge“ durch Bergedorfs Stadtzentrum, berichtet die Bergedorfer Zeitung über den Nachmittag des 24. Oktober 1923. „Eine größere Anzahl vorwiegend jugendlicher Personen drang in die Waffenläden von Carl Sievers und Heinrich Burgdorf in der großen Straße ein (heute Sachsentor) und begann, die vorhandenen Waffenvorräte – Gewehre, Revolver, Messer usw. – zu plündern.“

Es soll Tote geben an jenem Mittwoch auf Bergedorfs Straßen, als der Hamburger Aufstand der KPD in Form blutiger Proteste nach Bergedorf überschwappt. „Kommunistische Elemente“, wie die Bergedorfer Zeitung schreibt, wollen nach einem „offenbar sorgfältig ausgearbeiteten Plan die Polizei entwaffnen und die Gewalt an sich ziehen“. Tatsächlich ist es der Versuch, die mörderische Inflation vom Herbst 1923 mit täglichen Teuerungsraten im Milliardenbereich zum politischen Umsturz zu nutzen.

Angst vor völliger Verarmung greift um sich – Hungerwinter beginnt

Wie real die Angst weiter Teile der Bevölkerung vor völliger Verarmung ist, samt der mit dem bevorstehenden Winter bereits einsetzenden Hungersnot, schreibt unsere Zeitung in jenen Wochen fast täglich. So heißt es am 19. Oktober: „Der Ladenpreis für das Pfund Meiereibutter ist auf 3 Milliarden Mark, der Milchpreis ab heute für einen Liter Vollmilch auf 388 Millionen Mark festgesetzt worden.“

Mitarbeiter eines großen Betriebs holen während der Inflation 1923 das für die Löhne benötigte Geld in Waschkörben von der Bank.
Mitarbeiter eines großen Betriebs holen während der Inflation 1923 das für die Löhne benötigte Geld in Waschkörben von der Bank. © picture-alliance / dpa | ullstein

Die Folgen der Hyperinflation sind dramatisch: Die Lebensmittelpreise werden unbezahlbar, die Löhne steigen zwar, reichen aber nur morgens noch, um das Nötigste zu kaufen. Alle Ersparnisse sind vernichtet, die Mieten galoppieren, die Immobilienpreise befinden sich im freien Fall. „Ältere Leute konnten sich in diese Verhältnisse gar nicht hereinfinden“, wird aus dem Tagebuch des Bergedorfers Georg Schlüter im jüngsten Lichtwark-Heft des Kultur- & Geschichtskontors zitiert: „Das Rechnen mit den großen Zahlen wurde immer schwierigen. Man verlor sich in dem furchtbaren Nullergetümmel.“

Anfang November 1923: Es gibt nichts mehr für Preise unter einer Milliarde Mark

Welche Dimensionen der Wertverlust erreicht, zeigt der Wechselkurs zum Dollar: Vor dem Ersten Weltkrieg kostete ein Dollar vier Mark. Im Januar 1923 waren es 66 Milliarden, anschließend brach der Wechselkurs ganz zusammen.

Berge von Geld in Milliardenhöhe: Abrechnung der Tageseinnahmen eines Bäckermeisters in der Hyperinflation 1923. Foto.
Berge von Geld in Milliardenhöhe: Abrechnung der Tageseinnahmen eines Bäckermeisters in der Hyperinflation 1923. Foto. © akg-images | akg-images

„Anfang November 1923 konnte man unter einer Milliarde fast nichts mehr bekommen“, schreibt Georg Schlüter in seinem Tagebuch. „Gleich nach den Gehalts- und Lohnzahlungen begann ein Laufen und Treiben durch die Straßen der Stadt. Jeder rannte bereits vormittags mit seinem Papiergeld zum nächsten Geschäft, um die nötigen Lebensmittel einzukaufen. Denn man musste befürchten, wenn man nachmittags die Einkäufe besorgte, waren die Waren wieder um 200 bis 400 Milliarden gestiegen.“

Nur die Schulden schmelzen: Die Kosten des Ersten Weltkriegs zahlen jetzt Bürger

Nur wer Schulden hat, kann jetzt aufatmen. Und das gilt insbesondere für den Staat. So schmelzen die Kriegsschulden des einstigen Deutschen Reiches von damals unvorstellbaren 164 Milliarden Mark auf eine Winzigkeit, die bei der Währungsumstellung von Mark auf Rentenmark am 15. November 1923 nur noch 16,4 Pfennig sind.

Das Nachsehen haben die Bürger, die über Kriegsanleihen nämlich die Gläubiger des Staates sind. Sie hatten vertraut in den Werterhalt dieser angeblich mündelsicheren Anlageform für ihre Ersparnisse. Doch sie sind Opfer der gigantischen Geldvernichtung geworden, die nichts anderes ist als die nachträgliche Verlagerung fast sämtlicher Kriegskosten auf die Schultern der Bevölkerung.

Ab 1921 potenzieren die Reparationsforderung der Siegermächte die Geldentwertung

Die Geldpolitik treibt unglaubliche Blüten – und zwar schon vom Beginn des Ersten Weltkriegs an. Im Juli 1914 konnte sich das Kaiserreich nämlich eigentlich nur zwei Tage der Kriegsführung leisten können. Alles weitere wurde über neue Schulden finanziert, in der Hoffnung auf den Sieg und damit das Ausplündern der besiegten Staaten.

Sofort setzte eine Inflation ein, weil immer mehr Geld gedruckt wurde und es keinen Gegenwert in Form staatlicher Goldreserven mehr brauchte. Bis 1918 schrumpfte der Wert der Mark so auf ein Fünftel, was zwar erheblich war, aber im Vergleich zu 1923 fast überschaubar wirkt. Ab 1921 potenzierten nämlich die Reparationsforderungen der Siegermächte die Inflation, während die deutsche Wirtschaft weiter tief in der Krise steckte und sogar noch durch immer wieder aufflammender Streikwellen erschüttert wurde.

Um finanzielle Engpässe auszuräumen, druckt der Staat immer mehr Geld

Die Antwort der Weimarer Finanzpolitik und ihrer Reichsbank bestand allein darin, immer mehr und immer schneller Geld zu drucken. Bis Mitte 1922 war der 1000-Mark-Schein das höchste Zahlungsmittel, dann katapultierte sich das Papiergeld in immer atemberaubendere Höhen. Der buchstäblich größte Geldschein hatte im November 1923 den Wert von 100 Billionen Mark, in Zahlen sind das 100.000.000.000.000 Mark.

Berge bedruckten Papiers:Kinder spielen mit den wertlos gewordenen Geldscheinen. Foto; digital koloriert.
Berge bedruckten Papiers:Kinder spielen mit den wertlos gewordenen Geldscheinen. Foto; digital koloriert. © akg-images | akg-images

Und weil täglich neue und stets noch größere Scheine benötigt wurden, liefen neben den Druckereien der Reichsbank schließlich 1783 Gelddruckmaschinen in 133 Fremdfirmen rund um die Uhr. Selbst sie konnten am Ende den Bedarf nicht mehr decken, weshalb 5800 Städte, Gemeinden und Firmen auch noch eigene Notgeldscheine druckten, um Löhne und Sozialleistungen bezahlen zu können.

Hochster Preis aller Zeiten: Eine Woche Bergedorfer Zeitung für 840 Milliarden Mark

Die Bevölkerung nahm schließlich alles an, was halbwegs wertbeständig aussah und hoffentlich irgendwie das Überleben des Tages ermöglichte. Insgesamt sind 1,24 Trilliarden Mark ausgegeben worden: 1.240.000.000.000.000.000.000 Mark.

Der höchste jemals verlangte Preis für das Wochen-Abonnement der Bergedorfer Zeitung: Für die sechs Ausgaben in Woche vom 19. bis 24. November 1923 werden 840 Milliarden Mark verlangt – alternativ kosten wir 1,30 Goldmark, die als erstes Übergangsgeld zur Rentenmark gerade in Umlauf gekommen ist.
Der höchste jemals verlangte Preis für das Wochen-Abonnement der Bergedorfer Zeitung: Für die sechs Ausgaben in Woche vom 19. bis 24. November 1923 werden 840 Milliarden Mark verlangt – alternativ kosten wir 1,30 Goldmark, die als erstes Übergangsgeld zur Rentenmark gerade in Umlauf gekommen ist. © BGZ | Ulf-Peter Busse

Unsere Zeitung erhöht den Preis des Abonnements für die Woche 27. Oktober bis 3. November 1923 auf fünf Milliarden Mark. Und dann geht es weiter drastisch nach oben: „Der feste Bezugspreis der Bergedorfer Zeitung für die Woche vom 4. bis 10. November beträgt 32 Milliarden Mark, zuzüglich 2 Milliarden Nachzahlung für die abgelaufene Woche“, heißt es in einem Artikel mit der Überschrift „An unsere Leser“ vom Sonnabend, 3. November 1923. Der nächste Preissprung ab 12. November geht auf 240 Milliarden Mark, eine Woche später erreicht der Preis für das Sieben-Tage-Abo dann den höchsten Wert aller Zeiten: 840 Milliarden Mark.

Hitlers Putsch in München macht auch Bergedorfs „Hakenkreuzler“ aktiv

Reichlich Futter also für Umsturzfantasien von linken wie rechten Kräften. So versucht es auch Adolf Hitler bereits am 8. November mit einem Militärputsch in München, den Freistaat Bayern zu übernehmen. Doch er scheitert, wird zu fünf Jahre Festungshaft verurteilt, von denen er aber nur neun Monate absitzen muss.

Hitler im Gefängnis: Nach dem gescheiterten Münchner Putsch vom November 1923 saß er für neun Monate in der Festung Landsberg.
Hitler im Gefängnis: Nach dem gescheiterten Münchner Putsch vom November 1923 saß er für neun Monate in der Festung Landsberg. © picture-alliance / Mary Evans Pi | dpa

Den gescheiterten Putsch, der später zum Gründungsmythos der NSDAP hochstilisiert wird, beschreibt die rechts-konservative Bergedorfer Zeitung zwar kritisch: „Hitler entkommen“, heißt es am 10. November 1923. Aber dass es auch in Bergedorf im Herbst 1923 immer wieder zu Aktionen der „Hakenkreuzler“ kommt, wird verschwiegen. Tatsächlich bleibt es vermutlich auch beim Verteilen von Flugblättern, war die NSDAP doch Ende 1922 in Hamburg verboten worden und hier „bis Ende 1929 eine eher unbedeutende Politsekte“, wie Ex-Museumschef Alfred Dreckmann in seinem Buch „In Bergedorf war alles genauso“ schreibt.

„Die Nervosität in allen Bevölkerungsteilen ist aufs Höchste gestiegen“

Bedrohliche Ausmaße nimmt hier dagegen der Kommunisten-Marsch vom 24. Oktober an, den unsere Zeitung schon zu ahnen schien: „Dunkles Gewölk ballt sich drohend über dem deutschen Vaterland“, schreiben wir am 23. Oktober unter Hinweis auf den „täglich fortschreitenden, geradezu wahnsinnigen Wertverfall der Mark. Kein Wunder, dass die Nervosität in allen Bevölkerungsteilen aufs Höchste gestiegen ist. Kein Mensch weiß, was der nächste Tag bringen wird, verzweifelt steht der Einzelne der verhängnisvollen Entwicklung der Dinge gegenüber.“

Die Pulverfabrik Köln-Rottweil mit Sitz in Düneberg bei Geesthacht annonciert Ende Oktober in der Bergedorfer Zeitung: Sie bittet, ihr Notgeld als wertbeständig anzunehmen.
Die Pulverfabrik Köln-Rottweil mit Sitz in Düneberg bei Geesthacht annonciert Ende Oktober in der Bergedorfer Zeitung: Sie bittet, ihr Notgeld als wertbeständig anzunehmen. © BGZ | Ulf-Peter Busse

Wie angespannt die Lage ist, zeigt ein Blick auf die Lebensmittelgeschäfte im gleichen Artikel: „Am gestrigen Montag haben die Hausfrauen in Erwartung astronomischer Preise versucht, sich noch einzudecken. Es fand ein wahrer Sturmlauf auf die Brotläden statt. Vor einigen ausverkauften Bäckerläden bildeten sich kleine Versammlungen, da man der Meinung war, es werde Brot zurückgehalten. Es bedurfte hier und da erst der Mitteilung eines negativen Ergebnisses einer polizeilichen Durchsuchung, um die Käufer zum Rückzug zu veranlassen.“

Zwei Arbeiter werden beim Bergedorfer „Kommunisten-Krawall“ getötet

Genau in diese Stimmungslage platzt der „Kommunisten-Krawall“, wie die Überschrift zum ausführlichen Artikel über die Ereignisse jenes Mittwochs lautet. Dem Marsch schließen sich neben einem harten, nach dem Plündern der Geschäfte bewaffneten KPD-Kern offenbar Hunderte Arbeiter aus den überwiegend bestreikten Bergedorfer und Lohbrügger Fabriken an. Denn die beiden Toten sind laut unserer Zeitung der 42 Jahre alte Arbeiter Richard Möller und der Arbeiter Christian Breitenbach aus Bergedorf.

Auf dem Weg zum Schloss kommt es in den Straßen anscheinend zu Kämpfen mit Bergedorfs Ordnungskräften: „Ehe die Plünderer die Läden verlassen konnten, unternahm die Bergedorfer Polizei von der Wache in der Schloßstraße einen mit großem Schneid durchgeführten Angriff mit der flachen Klinge und mit Gummiknüppeln“, schreibt die Bergdorfer Zeitung, woraufhin „die Menge sofort fluchtartig auseinanderstob“. Alle Geschäfte sind von der Polizei geschlossen worden. Die Bürger werden aufgefordert, Fenster und Türen zu schließen, es gibt zahlreiche Hausdurchsuchungen.

Aufständische versuchen, das Bergedorfer Schloss zu stürmen

Doch so schnell geben die kommunistischen Kader nicht auf: „Nachdem die Polizei die Große Straße gesäubert hatte, fanden bald darauf – trotz des heftigen Gewitterregens – in der Gegend der Kirche abermals große Ansammlungen statt. Und die Anführer unternahmen erneut den Versuch, das Schloss zu besetzten.“

Um 17.30 Uhr bekommt die Polizei Verstärkung aus Hamburg durch Marinesoldaten und einen Zug Ordnungspolizei „in in zwei Lastkraftwagen und einem Panzerauto“. Als der Konvoi auf seiner Anreise Lohbrügge durchquert, wird er beschossen, ebenso beim Überqueren der Brücke der Alten Holstenstraße über das Serrahnwehr, schreibt die Bergedorfer Zeitung.

Polizei startet „Säuberungsaktionen“ fast in der gesamten Innenstadt

Von der Bergedorfer Polizeistation neben der Kirche St. Petri und Pauli aus gibt es nun „Säuberungsaktionen in fast sämtlichen Straßen der inneren Stadt“. Weil sich vor allem am Mohnhof und am Brink immer wieder größere Ansammlungen von Menschen bilden, wird nicht nur in die Luft geschossen: „Sieben Personen, zum Teil auch Unschuldige, die sich zufällig auf der Straße befanden, wurden teils leichter, teils schwerer verletzt“, heißt es im Bericht unserer Zeitung. „Die Säuberungsaktion wurde bis in die Abendstunden hinein fortgesetzt.“

Es gibt zahlreiche Festnahmen, die „mit erhobenen Händen den Weg in den Schlosshof antreten mussten, wo sie auf Waffen durchsucht wurden. Zahlreiche Waffen wurden dabei beschlagnahmt. Gegen 19 Uhr war die Ruhe vollständig wiederhergestellt und in den Abendstunden konnte die Hamburger Polizei wieder abrücken“, schreibt unsere Zeitung. Die Verstärkung nimmt eine „größere Anzahl Gefangener“ mit.

Versammlungsverbot für Bergedorf wird notfalls mit Waffengewalt durchgesetzt

Wie labil die Lage in Bergedorf bleibt, belegt der Bericht „Nachklänge zum Kommunisten-Putsch“ vom Freitag, 26. Oktober 1923. Er endet mit den Worten: „Im Übrigen sei jedermann eindringlich gewarnt, sich an etwaigen Ansammlungen zu beteiligen, da die Polizei strickten Auftrag hat, jede Ansammlung rücksichtslos, gegebenenfalls unter Anwendung von Waffengewalt, zu zerstreuen.“

Tatsächlich sollte es der einzige Sturm auf das Bergedorfer Schloss bleiben, auch wenn die Hyperinflation den Menschen nach dem verlorenen Krieg und seiner riesigen Not endgültig sämtliches Vertrauen in die Zukunft der Weimarer Republik und damit der Demokratie raubte. Immerhin wurde die Geldentwertung aber durch die Einführung der Rentenmark am 15. November 1923 und der Reichsmark knapp ein Jahr später sowie verschiedene fiskalische Maßnahmen und auch das Einlenken der Siegermächte bei den Reparationsforderungen beendet. Aber die Armut der breiten Massen blieb.

Für den österreichischen Schriftsteller und Pazifisten Stefan Zweig († 1942) sind denn auch die Erfahrungen in der Hyperinflation die wahre Grundlage für Hitlers späteren Erfolg: „Der Tag, an dem die deutsche Inflation beendet war, hätte ein Wendepunkt in der Geschichte werden können. Doch die Nation empfand sich durch sie einzig als beschmutzt und erniedrigt.“ Das sei weit schlimmer gewesen als der kurz zuvor verlorene Erste Weltkrieg.

Eine ganze Generation habe der deutschen Republik diese Jahre der wirtschaftliche Ohnmacht nicht vergessen können, fasst der Bergedorfer Historiker Bernhard Nette in seinem gerade erschienen Buch „1918/19: Eine deutsche Revolution und ihre Folgen“ zusammen. Und lässt wieder Stefan Zweig zu Wort kommen: „Nichts hat das deutsche Volk – dies muss immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht, wie die Inflation.“