Wentorf/Bergedorf. 1994 ziehen die Soldaten ab und die Gemeinde erfindet sich neu. Bergedorf hat andere Sorgen: Wer stoppt den Verfall seiner Wahrzeichen?

Die Deutsche Einheit ist nicht einmal vier Jahre alt, der Zusammenbruch der Sowjetunion nur einen Hauch der Geschichte entfernt – und dennoch ist der Glaube an den dauerhaften Frieden in Europa so groß, dass sich Deutschland von einer starken Bundeswehr verabschiedet. Durch die weltweite Abrüstung hat sie nach der damaligen Überzeugung ihren Sinn verloren — mit fundamentalen Folgen für Wentorf und die ganze Region. Hier werden bis zum Jahresende 1994 die Bismarck-Kaserne sowie die Bose-Bergmann-Kaserne aufgelöst. Die Doppelkaserne prägte über Jahrzehnte Ortsbild und Sozialleben Wentorfs.

„In Wentorf stirbt man langsam“, sagt Oberstleutnant Gerhard Harrendorf, Kommandeur des Panzergrenadierbataillons 162 der Bismarck-Kaserne in Wentorf, anlässlich ihrer Auflösung Ende September 1994. Seit zwei Jahren wurde auf diesen Tag hingearbeitet. Im Dezember werden die Tore der Kaserne endgültig geschlossen, 34 Jahre haben hier Wehrpflichtige, Zeit- und Berufssoldaten der Bundeswehr ihren Dienst getan. Vorher waren die 1936 bis 1938 errichteten Backsteinbauten erst Heimat von Hitlers Wehrmacht, nach dem Krieg dann Flüchtlingsheim und ab 1960 schließlich wieder Militärstandort.

Serie 150 Jahre bz: 1994 werden die Bundeswehrkasernen in Wentorf geschlossen

Zum letzten Mal tritt an diesem Tag das Wentorfer Hausbataillon an, um im Beisein von Bürgern, Politikern und Freunden aus Wentorf und Umgebung die Dienstflagge einzuholen und den Namenszug der Bismarck-Kaserne abzunehmen. Den nimmt Carl Eduard Graf von Bismarck in Empfang, dessen Großvater ihn einst Anfang der 1960er-Jahre gestiftet hatte, als die Bundeswehr nach ihrer Gründung 1954 auch in Wentorf zu Zeiten des Kalten Kriegs ihren Dienst aufnahm. Bis zu 4200 Soldaten stehen Ende der 80er-Jahre direkt an der Hamburger Landesgrenze unter Waffen — in der Doppelkaserne und der Sachsenwald-Kaserne in Elmenhorst, die ebenfalls Teil der Panzergrenadierbrigade 16 ist.

Parade auf dem Exerzierplatz: Soldaten der Panzergrenadierbrigade 16 in Wentorf.
Parade auf dem Exerzierplatz: Soldaten der Panzergrenadierbrigade 16 in Wentorf. © bz | bz

Ihr Auftrag: das südliche Schleswig-Holstein gegen Angriffe des Warschauer-Pakts über den Elbe-Lübeck-Kanal zu schützen. „Das Ziel ist ohne Schuss erreicht worden“, sagt Panzergrenadiergeneral Eckart Fischer beim letzten Zapfenstreich am 5. Mai in Wentorf. Wieder sind Tausende Bürger gekommen, um ihre Soldaten bei „feierlicher Stimmung und mit einer Spur von Traurigkeit zu verabschieden“, schreibt die bz. Wentorf und die Bundeswehr, das sei mehr als drei Jahrzehnte ein gutes Gespann gewesen.

Russlands Präsident Boris Jelzin will „Krieg“ aus seinem Wortschatz streichen

Doch trotz Wehmut, der Anlass für die Schließung der Kasernen in Wentorf und Elmenhorst ist ein erfreulicher: Die Bedrohungslage gibt es nach Einschätzung aller Experten nicht mehr, der Kalte Krieg scheint überwunden, das Wort Abrüstung ist in aller Munde, die Nationen rücken zusammen. Auf seinem zweitägigen Deutschlandbesuch kündigt Russlands Präsident Boris Jelzin im Mai an, das Wort „Krieg“ aus seinem Wortschatz zu streichen. Zudem plant er den Bau einer Autobahn zwischen Berlin und Moskau sowie einer Hochgeschwindigkeitszugstrecke von Moskau nach Paris über Berlin. Die Euphorie ist groß.

Nach dem Abzug der Soldaten beginnt der Abriss fast aller typischen Backsteinbauten der Bose-Bergmann- und der Bismarck-Kaserne.
Nach dem Abzug der Soldaten beginnt der Abriss fast aller typischen Backsteinbauten der Bose-Bergmann- und der Bismarck-Kaserne. © bertram | bertram/bürgerverein wentorf

Mit der Auflösung der Verbände steht Wentorf vor der Frage, was mit den leergezogenen Kasernengebäuden passieren soll. Die Backsteinbauten hat 1937/38 die Wehrmacht gebaut. Nach 1945 sind sie Durchgangslager für zurückgeführte osteuropäische Zwangsarbeiter, später Flüchtlingsdurchgangslager. 1961 zieht die Bundeswehr hier ein. Zunächst sind in der Bose-Bergmann-Kaserne eine Luftwaffenausbildungseinheit, eine Marinestammabteilung und ein Fernmeldebataillon stationiert. Es folgen ab 1970 der Stab der Panzergrenadierbrigade 16. In der Bismarck-Kaserne sind ab 1963 Panzergrenadiere und Jäger der Brigade 16 stationiert.

Auch Schwarzenbek verabschiedet 1994 im nahen Elmenhorst „seine“ Soldaten

Auch die Sachsenwald-Kaserne in Elmenhorst dient als militärische Anlage der Panzergrenadiere. Die 48 Hektar umfassende Kaserne wird 1994 ebenfalls aufgegeben. Vier der hier stationierten Panzer des Typs Leopard II werden nach Schweden verkauft, viele andere eingemottet.

„Eine Ära geht zu Ende“, schreibt die Bergedorfer Zeitung Ende September 1994. Auch die Sachsenwald-Kaserne in Elmenhorst ist aufgelöst. „Nach wenigen Minuten ist alles vorbei. Heute verlassen die letzten 35 von einst 1000 Heeressoldaten die Anlage in Elmenhorst. Das ist der endgültige Auszug der Kampftruppen aus dem Kreis.“ Zu dem Zeitpunkt ist die Zukunft des Truppenübungsplatzes ungewiss. Die Gemeinde, die Stadt Schwarzenbek und der Kreis verfolgen das Ziel, hier Gewerbe anzusiedeln. So kommt es auch.

Wentorf nutzt die Chance und plant auf Kasernengelände neuen Ortsteil

Die Gemeinde Wentorf ist da schon einen großen Schritt weiter. Schon bevor die Flagge eingeholt und das Schild abgenommen ist, schreibt die bz bereits im Januar 1994 über die „Zukunft mit Stadtpark und Offizierskasino“ und stellt erste Pläne vor. Die Gemeinde hat die einmalige Chance, ein Großteil seiner Gemeindefläche neu zu denken und zu überplanen. Neuer Wohnraum für mehr als 3000 Menschen soll geschaffen werden, Kitas, Freizeit- und Kultureinrichtungen, Parks, Spielplätze, ein Einkaufszentrum werden angepasst. Die Wentorfer Bürger dürfen bei der Überplanung der rund 50 Hektar großen Fläche mitreden.

Bild vom letzten Teil des Kasernen-Abrisses am 23. Juli 2000.
Bild vom letzten Teil des Kasernen-Abrisses am 23. Juli 2000. © bz | bz

Ganz verschwinden sollen die Spuren der militärischen Vergangenheit aber nicht: Im Februar 1994 gründet sich der Traditionsverband der Panzergrenadierbrigade 16 „Herzogtum Lauenburg“. Dieser verschreibt sich der Pflege der Erinnerung an die militärische Geschichte und baut ein Archiv auf, das in dem einzigen auf dem einstigen Kasernengelände erhaltenen Bauernhaus unterkommen soll. Die reetgedeckte Immobilie erwirbt der Deutsche Bundeswehrverband für einen guten Preis aus dem Vermögen der Offiziers- und Unteroffiziersheimgesellschaften und stellt es dem Traditionsverband zur Nutzung zur Verfügung. Ein richtiger Schritt, denn so wächst dessen Mitgliederzahl innerhalb weniger Wochen auf mehr als 1530. Der Truppenübungsplatz aber, schon von den Nazis in der Wentorfer und Wohltorfer Lohe angelegt, bleibt auch nach dem Abzug Sperrgebiet. Spaziergänger sind hier illegal, es drohen hohe Haftstrafen.

Tauziehen um Lohbrügges Wahrzeichen, den Wasserturm Sander Dickkopp

Während die Wentorfer ihre Zukunft planen, kämpfen die Lohbrügger und Bergedorfer Anfang 1994 abermals für den Erhalt eines ihrer Wahrzeichen: den Sander Dickkopp. Der Wasserturm mitten im Waldgebiet Sander Tannen oberhalb der B5 ist in keinem guten Zustand, bröckelt seit Jahren vor sich hin und müsste dringend saniert werden. Die Kosten scheut die Stadt. Der Bezirk will den Turm gern loswerden.

Mitglieder der Kulturgenossenschaft Lohbrügge Ende der 80er-Jahre bei der Sanierung ihres Wasserturms. Sie bauten den Sander Dickkopp zur Kulturkneipe aus.
Mitglieder der Kulturgenossenschaft Lohbrügge Ende der 80er-Jahre bei der Sanierung ihres Wasserturms. Sie bauten den Sander Dickkopp zur Kulturkneipe aus. © Kultur- & Geschichtskontor | Kultur- & Geschichtskontor

Nach einigem Tauziehen mit der Kulturgenossenschaft Lohbrügge, die den Turm zur erfolgreichen Kulturkneipe gemacht hat, zaubert Bezirksamtsleiterin Christine Steinert plötzlich einen Käufer aus dem Hut: Peter Schwalm, Autohändler aus Börnsen, soll sich hier seinen Traum vom Wohnen realisieren dürfen. Die Kneipe im Erdgeschoss soll bleiben, der langjährige Mieter, die Kulturgenossenschaft, muss aber ausziehen. Nicht nur das, auch die „Privatisierung des öffentlichen Kulturguts“ finden die Mitglieder alles andere als gut.

Tausende Lohbrügger protestieren gegen den Verkauf des Wasserturms

Es gründet sich die Initiative „Rettet den Wasserturm“, die von einer breiten Bevölkerung getragen wird. Sie will den Verkauf und den zunehmenden Verfall des Turms verhindern und sammelt eiligst Spenden, Geld und 6000 Unterschriften. Buttons mit der Aufschrift „Rettet den Sander Dickkopp. Der Turm muss leben“ werden aufgelegt und finden in Bergedorf und Lohbrügge reißenden Absatz. Zudem werden Genossenschaftsanteile für 100 Mark vergeben. Nur wenige Wochen später, Ende März, am Tag, als die Kündigungsfrist ausläuft, verkündet der Initiative „Rettet den Wasserturm“, dass sie das erforderliche Geld zum Bau eines Vordaches als Schutz vor herabfallenden Trümmern, beisammen hat.

Mitglieder der Lohbrügger Kulturgenossenschaft winken vom Dach des Sander Dickkopps.
Mitglieder der Lohbrügger Kulturgenossenschaft winken vom Dach des Sander Dickkopps. © Kultur- & Geschichtskontor | Michael Zapf

Doch allen Bemühungen zum Trotz entscheidet sich das Bezirksamt am Ende gegen die Turmretter und für den privaten Käufer. „Als einen dicken Hund“, bezeichnet Geerd Dahms, Sprecher der Initiative, die Entscheidung. Als Anfang August die Räumungsklage ins Haus flattert, weigern sich die Mieter zunächst, den Dickkopp zu verlassen. Stattdessen lädt die Kulturgenossenschaft zu einem Solidaritätskonzert rund um den Turm. „Tausende Unterstützer feiern trotzig beim Solidaritätskonzert gegen Rausschmiss“, berichtet die BZ.

Peter Schwalm kann es kaum erwarten, endlich in den Turmkopf einzuziehen

Doch Anfang September erlischt der letzte Hoffnungsschimmer: „Finanzbehörde nickt. Käufer nimmt letzte Hürde“ titelt die bz, die Hansestadt verkauft den Turm an den Autohändler Schwalm: „Ich freue mich“, wird der Gewinner zitiert. Peter Schwalm kann es kaum erwarten, nach der Sanierung in den Turmkopf einzuziehen. Die Kulturgenossen geben auf, sie räumen den Dickkopp. Gerettet wurde der Sander Dickkopp durch den neuen Eigentümer allerdings nicht. Das von ihm am Turmkopf angebrachte stählerne Sicherungsgerippe sollte viele Jahre lang sein Aussehen prägen.

Im Herbst 1994 rückt schweres Gerät am Lohbrügger Wasserturm an, wie dieses Foto der Bergedorfer Zeitung zeigt. Der neue Eigentümer Peter Schwalm lässt den maroden Turmkopf mit einem Gerüst aus Stahlträgern sichern.
Im Herbst 1994 rückt schweres Gerät am Lohbrügger Wasserturm an, wie dieses Foto der Bergedorfer Zeitung zeigt. Der neue Eigentümer Peter Schwalm lässt den maroden Turmkopf mit einem Gerüst aus Stahlträgern sichern. © bgz | Bergedorfer Zeitung

Derweil soll das ebenfalls traurige Dahinsiechen eines anderen Wahrzeichens der Region ab 1994 tatsächlich bald ein Ende haben. Das Zollenspieker Fährhaus steht seit Jahren leer und verfällt zusehends. Die Keller im denkmalgeschützten Haus am Deich sind feucht, das Dach morsch. Der Anblick ist so traurig, dass 500 Vier- und Marschländer für den Erhalt demonstrieren. Im Oktober gibt es dann endlich Licht am Ende des Tunnels: „Zukunft des Fährhauses ist gesichert“, schreibt die Bergedorfer Zeitung.

Zollenspieker Fährhaus: Sanierung kostet fünf Millionen Mark

Der Vierländer Ingenieur Bodo Sellhorn wird zum Retter des Fährhauses und will es zu einem beliebten Ausflugslokal samt neuen Hotelanbau machen. Nach mehr als drei Jahren Verhandlung kündigt Sellhorn an, eine Verwaltungsgesellschaft gründen zu wollen, die sich um den Erhalt und die viele Millionen Mark teure Sanierung des Gebäudes sowie den Anbau eines Hoteltraktes kümmert. Parallel dazu soll ein Förderverein das Fährhaus zu einem Zentrum für den Erhalt der niederdeutschen Sprache machen. Der Zeitplan ist straff, die Bauarbeiten sollen 1995 beginnen. Aufatmen in den Vier- und Marschlanden.

Trotzig direkt an der Elbe gelegen: Das Hotel und Restaurant Zollenspieker Fährhaus thront nach seiner Renovierung auf einer mächtigen Steinmauer oberhalb des Stroms.
Trotzig direkt an der Elbe gelegen: Das Hotel und Restaurant Zollenspieker Fährhaus thront nach seiner Renovierung auf einer mächtigen Steinmauer oberhalb des Stroms. © HA / Klaus Bodig | Klaus Bodig

Angst macht sich hingegen bei den Lohbrüggern breit, angesichts einer nicht enden wollenden Brandanschlagsserie auf Schulen. In der Silvesternacht legen Unbekannte ein Feuer in einer Sporthalle der Schule Leuschnerstraße. Es ist der vierte Brandanschlag innerhalb weniger Monate. Die drei Brände zuvor legten Unbekannte in der Gesamtschule Lohbrügge, ein Pavillon brennt aus, die Raumnot ist groß.

Serie von Brandanschlägen auf Turnhallen und Schulen in Lohbrügge

Das frustriert Schüler und Lehrer gleichermaßen. Sie tun ihrem Unmut kund und ziehen mit Megaphon „Schützt die GLS“ rufend durchs Sachsentor. Doch das scheint die Brandstifter kein bisschen zu beeindrucken. Nur einen Tag später brennt die zweite Turnhalle der Schule Leuschnerstraße aus und verschärft den ohnehin großen Mangel an Hallenraum in der Region. Viele Vereine wissen nicht mehr, wo sie im Winter trainieren können.

Die TSV Reinbek geht den Mangel an und baut eine neue Mehrzweckhalle an der Theodor-Storm-Straße. Anfang Mai ist Spatenstich. Der TSV Glinde feiert Richtfest der neuen Tanzsporthalle, zu der auch ein Hotel mit 78 Zimmern gehört. Von Beginn an ist die Kritik an dem 7,5 Millionen Mark teuren Prestigeprojekt groß. Wie sich am Ende herausstellen wird, berechtigt. Der Bau gerät zum Desaster und hätte beinahe in den Konkurs des Vereins geführt.

Polizei fasst Feuerteufel: Es waren ausschließlich Kinder und Jugendliche

Die Bergedorfer Kripo ermittelt in Sachen Brandstiftung derweil unter Hochdruck und nimmt Ende Januar zwei Kinder (13 und 14 Jahre) fest, die in Verdacht stehen, die beiden Turnhallen an der Leuschnerstraße angezündet zu haben. Wenig später sind auch die Brandstifter der Brände an der Gesamtschule gefasst. Sie gehen auf das Konto von drei Kindern und vier Jugendlichen im Alter von elf bis 15 Jahren.

Totale Verwüstung in der Kita am Kurt-Adamsplatz: Nach der Brandstiftung berichtet die Bergedorfer Zeitung mit diesem Artikel vom 28. Dezember 1994.
Totale Verwüstung in der Kita am Kurt-Adamsplatz: Nach der Brandstiftung berichtet die Bergedorfer Zeitung mit diesem Artikel vom 28. Dezember 1994. © bgz | Bergedorfer Zeitung

Beendet ist die Brandanschlagsserie damit aber nicht: Anfang April legen Brandstifter Feuer im „Max Bahr“-Baumarkt an der Kampchausee, Kübel und Möbel werden abgefackelt. Anfang Juni stecken Brandstifter einen Pavillon des Bürger- und Jugendhauses an der Leuschnerstraße, den Musikraum der Grundschule Leuschnerstraße sowie ein Baustellenfahrzeug auf dem Schulparkplatz am Binnenfeldredder in Brand. In den Weihnachtsferien legen Unbekannte das Kindertagesheim für 182 Kinder am Kurt-Adams-Platz durch Brandstiftung in Schutt und Asche.

Laut Polizei kommen gerade beim letzten Feuer von der Körpergröße eher kleine Täter in Betracht, weil nur die durch das Fenster passen, durch das die Brandstifter ins Kindertagesheim gelangten. Politisch motiviert sind die Taten offenbar nicht.

Blutiger Streit zwischen verfeindeten Türken erschüttert Geesthacht

Ganz im Gegensatz zu dem Brandanschlag im benachbarten Geesthacht, der im Dezember auf eine Teestube am Buntenskamp verübt wird. Unbekannte werfen in der Nacht Molotowcocktails in die Stube, die völlig ausbrennt. Die 22 Bewohner, vier türkische und zwei deutsche Familien, die in den Wohnungen über der Stube wohnen, werden in letzter Sekunde aus den Flammen gerettet. Dabei wird der Italiener Salvatore Borelli schwer verletzt. Der Nachbar hilft bei der Evakuierung.

Die Betroffenheit über die Tat ist in Geesthacht groß. Bürgermeister Peter Walter warnt vor einer „Spirale der Gewalt“. Wie sich wenig später herausstellt, sind die Täter selbst Türken des linken Spektrums. Sie zündeten die Stube an, weil sich hier Anhänger der Grauen Wölfe treffen. Die Gruppierung wird als rechtsextrem eingestuft. Nicht die erste politisch motivierte Tat unter türkischen Gruppen: Zuvor endet ein Streit vor der Kneipe Atlanta in der Geesthachter Hafenstraße in einer Schießerei.

In Bergedorf-West fliegen Molotow-Cocktails in einen Kulturverein

Ein Problem, das keineswegs auf Geesthacht beschränkt bleibt. Ein Treffen des türkisch-islamischen Kulturvereins, dem ebenfalls Verbindungen zu den Grauen Wölfen nachgesagt wird, sorgt im Mai in Bergedorf-West für schwere Krawalle. Vor dem „Hit House“ prallen linke und rechte Türken aufeinander, Steine und Flaschen fliegen. Die Polizei rückt mit einem Großaufgebot samt Wasserwerfern und Schlagstöcken an. Drei Demonstranten und ein Polizist werden verletzt.

Die Krawalle setzen sich in derselben Nacht in Hamburg fort: In St. Pauli fliegen Molotowcocktails in die Räume eines türkischen Kulturvereins, in Wilhelmsburg in ein gut besuchtes türkisches Lokal. Zwei Gäste werden von den Flammen erfasst, einer kommt schwer verletzt ins Krankenhaus.

Im Superwahljahr 1994 greift die CDU das Thema „kriminelle Ausländer“ auf

Sofort werden die Stimmen der CDU im Superwahljahr 1994 laut, „kriminelle Ausländer“ schneller abzuschieben. Gerhard Schröder wird Wahlsieger in Niedersachsen, hier regiert die SPD fortan allein. Bei der Kommunalwahl in Schleswig-Holstein legen die Grünen kräftig zu, die 10,3 Prozent der Stimmen holen können. Den Wählern werden grüne Themen wichtiger, das größer werdende Ozonloch, die Abholzung des Regenwaldes und der CO2-Ausstoß bewegen die Menschen.

Gerhard Schröder (l.) als Ministerpräsident von Niedersachsen bei einem Besuch in Hamburg mit Bürgermeister Henning Voscherau (beide SPD).
Gerhard Schröder (l.) als Ministerpräsident von Niedersachsen bei einem Besuch in Hamburg mit Bürgermeister Henning Voscherau (beide SPD). © MELDE | Marco Urban/MELDE PRESS

Groß ist der Aufschrei unter Umweltschützern, als am 10. Mai 200.000 Liter Superbenzin in die Elbe fließen und die Naturschutzgebiete am Zollenspieker, am Kiebitzbrack und im niedersächsischen Laßrönne die Zerstörung droht. Im dichten Nebel kommt es am Kraueler Bogen zu einem Schiffsunglück. Während eines Überholmanövers rammt ein Tanker einen anderen und reißt ein Loch in die Schiffswanne. Umweltschützer sorgen sich um Pflanzen und Tiere im Umkreis des Unglücks. Hier brüten viele Störche. Der Vogel des Jahres 1994 sucht Nahrung auf den Wiesen des Elbvorlandes, das mit jeder Flutwelle erneut von benzinverseuchtem Wasser überflutet wird.

Hoch „Ewald“ sorgt für einen Supersommer 1994 mit „Backofenklima“

Das Schiffsunglück bietet viel Anlass für Gesprächsstoff, genauso wie das Wetter, das 1994 so manche Kapriolen schlägt. Das Jahr beginnt ungewöhnlich feucht. Auf den Feldern steht das Wasser und bringt 50 Stiefmütterchen-Züchtern aus den Vier- und Marschlanden um ihre komplette Ernte.

Ende Juni kommt der Sommer mit großer Wucht. Sieben Wochen lang scheint die Sonne Dank Hoch „Ewald“ ununterbrochen und unnachgiebig vom Himmel. Mit „Backofenklima“ beschreibt die bz die Hitze, die immer „mehr Menschen mit Kreislaufzusammenbrüchen niederstreckt“. Es wird ein Jahrhundertsommer und der heißeste Juli seit mehr als 100 Jahren.

Die Bismarck-Quellen in Aumühle arbeiten rund um die Uhr

Die Produktionsanlagen der Bismarck-Quellen in Aumühle laufen an sechs Tagen quasi rund um die Uhr, und die Menschen suchen Abkühlung an den Seen. Das Tonteichbad stellt mit 4561 Gästen an einem Tag einen neuen Rekord auf und muss in diesem Sommer einen Badetoten beklagen: Ein 25-Jähriger rutscht auf der Plattform aus, stößt dabei mit dem Kopf gegen Holzplanken und kann nur leblos aus dem Wasser geborgen werden.

Blick in die Produktionsanlagen der Bismarck-Quellen in Aumühle.
Blick in die Produktionsanlagen der Bismarck-Quellen in Aumühle. © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Dabei ist noch vor Saisonbeginn fraglich, ob das Freibad überhaupt pünktlich öffnet. Denn bei Stegbauarbeiten ist ein 20 Tonnen schwerer Bagger samt Baggerführer in den Teich gefallen, weil Schwimmpontons auseinander gebrochen sind. 200 Liter Öl und 50 Liter Diesel sind dabei in das Wasser geflossen.

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Sieben Wochen nach dem Sieberschläfertag ist die große Hitze vorbei, der lang ersehnte Regen setzt ein, und mit ihm kommt die Abkühlung. Zeit, sich der neuen Herbstmode zu widmen. Die kommt 1994 in erdigen Tönen und in Form von langen Parkas oder Lederjacken mit weißem Fellkragen daher und wird beim bz-Mode-Theater im Haus im Park von den Bergedorfer Modehäusern Lünstedt, Schramm und Willhoeft präsentiert.

Wer im Herbst 1994 durch das Sachsentor bummelt, kann sich nicht nur an der neuen Herbstmode erfreuen, sondern auch an „Deutschlands größtem Graffiti“. Das schmückt seit Ende September auf 32 Metern Länge die vorher trostlose Hertie-Fassade. Ein legales Kunstprojekt, gefertigt von neun jungen Sprühern und mit Politikprominenz eingeweiht.