Bergedorf. Die Judenverfolgung erzählt am Beispiel einer Bergedorfer Kaufmannsfamilie. Und die Bergedorfer Zeitung bejubelt den Nazi-Terror...
Als der Terror der Nazis gegen die Juden beginnt, nehmen Hugo und Hertha Rosendorff alles noch auf die leichte Schulter. Zwar wird ihre Drogerie Germania gleich neben dem Herrenausstatter Willhoeft im Sachsentor 75 schon am 11. März 1933, nur sechs Tage nach der Machtübernahme der NSDAP in Bergedorf, als jüdisches Geschäft von der SA „bewacht“ und so für alle „Arier“ kenntlich gemacht. Auch knapp drei Wochen später ist es eines der Geschäfte, in denen das Aktionskomitee der hiesigen NSDAP mit Unterstützung von SS und Hamburger Polizei den reichsweiten Boykottaufruf umsetzt.
Doch der Sonnabend der Zwangsschließung an jenem 1. April 1933 lässt bei den Rosendorffs und ihren drei Kindern wie auch bei allen anderen knapp 50 jüdischen Bergedorfern keine Angst vor einer aufziehenden systematischen Judenverfolgung aufkommen. Im Gegenteil: „Der aufkeimende Nationalsozialismus wurde eher als eine vorübergehende Randerscheinung der Wirtschaftskrise gesehen. Und auch der gerade erfolgten Machtübernahme maß niemand die heute bekannte Bedeutung zu“, schreibt Geerd Dahms im Buch „Bergedorf im Gleichschritt“.
Boykott der jüdischen Geschäfte folgt schon 1933 einem perfiden Plan der Nazis
Hugo Rosendorff, selbst hochdekorierter Veteran des Ersten Weltkriegs, ahnt nicht, dass seine Familie schon drei Jahre später auseinandergerissen, dass die 1933 noch gut laufende Drogerie in quasi gesetzlich verordnete wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten und fast alle schließlich völlig verarmt ins KZ deportiert werden. Ein Schicksal, das vermutlich mehr als die Hälfte der rund 50 Bergedorfer Juden trifft, die 1933 in der knapp 20.000 Einwohner zählenden Stadt Bergedorf leben.
Dass hinter dem ersten Boykott der jüdischen Geschäfte schon 1933 ein ebenso perfider wie genau festgelegter Plan steckt, belegen die Berichte der Bergedorfer Zeitung, die sich mit der Machtergreifung Hitlers sofort gleichgeschaltet hatte. Buchstäblich öffentlich verkündet das Blatt jeden einzelnen Schritt zur Judenvernichtung, indem schon vor den Vorfällen selbst die Vorgaben der Machthaber als Anweisungen an die Partei-Aktivisten und die gesamte Bevölkerung abgedruckt werden. Die Juden sollen zu verhassten Sündenböcken für alle Probleme Deutschlands und seines neuen Regimes gemacht werden.
Es ist beabsichtigt „das Judentum an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen
Eindrucksvoll sind die Zeitungsausgaben der drei Tage vor dem 1. April 1933, in denen die Bergedorfer Zeitung die scheinbar interne Anordnung der NSDAP abdruckt. So seinen „sofort Aktionskomitees zu bilden zur praktischen planmäßigen Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte“. Es sei zwar beabsichtigt, „das Judentum an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen“, aber gleichzeitig penibel darauf zu achten, dass keine Gewalt angewendet wird oder es gar zu Plünderungen kommt. Alles müsse sich „in vollster Ruhe und größter Disziplin vollziehen“, aber „am Sonnabend um 10 Uhr schlagartig einsetzen“.
Dass das in Bergedorf, Hamburg und dem Rest Deutschlands genauso gelingt, berichtet die Bergedorfer Zeitung schließlich am 1. April selbst. Kritische Anmerkungen finden sich nicht, was an einer unverhohlenen Drohung der Nazis liegt, die die Bergedorfer Zeitung drei Tage zuvor als Punkt 5 der Anordnungen der NSDAP selbst abgedruckt hat: Bei Zeitungen, die sich nicht im Sinne der Nazis an der Aktion beteiligen, „ist darauf zu sehen, dass sie aus jedem Haus, in dem Deutsche wohnen, augenblicklich entfernt werden. Kein deutscher Mann und kein deutsches Geschäft soll in solchen Zeitungen noch Annoncen aufgeben.“
Drogerie der Rosendoffs muss Bergedorfs Innenstadt verlassen
Für die Rosendorffs hat der Boykott samt beginnender Juden-Ausgrenzung Folgen: Vermutlich auf Druck der Bergedorfer NSDAP und des Fachverbandes der Drogisten wird der Mietvertrag für die Drogerie Germania gekündigt. Hugo Rosendorff musste mit seinem Geschäft in einen viel kleineren Laden am Neuen Weg umziehen. Außerhalb der Bergedorfer Innenstadt gelegen, fehlt hier die Laufkundschaft, was die Umsätze zusätzlich spürbar zurückgehen lässt. Die Familie muss ihre große Fünfzimmerwohnung an der Ernst-Mantius-Straße gegenüber dem Amtsgericht aufgeben und zieht in eine deutlich kleinere am Reinbeker Weg.
Rasant geht derweil die Ausgrenzung der Juden aus der sogenannten deutschen Volksgemeinschaft voran. Der NS-Gesetzgebung geht es um den schrittweisen Entzug aller sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Grundlagen. Zentraler Schritt auf diesem Weg ist das im September 1935 auf dem Nürnberger Parteitag der NSDAP erlassene Reichsbürgergesetz, das mit seinen zahlreichen Ergänzungen und insgesamt 13 Ausführungsverordnungen als „Nürnberger Rassengesetze“ die rechtliche Basis legt, um alle Juden schrittweise aus dem öffentlichen Leben auszugrenzen und im Juli 1943 schließlich ganz zu entrechten.
Erste Verordnung zu den Rassengesetzen: „Ein Jude kann kein Reichsbürger sein“
Die ersten beiden Verordnungen druckt die Bergedorfer Zeitung am 15. November 1935 im Wortlaut und untereinander ab: „Ein Jude kann kein Reichsbürger sein“, lautet die Überschrift zu der sieben Paragrafen kurzen Rechtsvorschrift, die Juden das Wahlrecht und das Bekleiden öffentlicher Ämter verbietet. Alle jüdischen Beamte werden in den Ruhestand versetzt. Gleich darunter folgt das Eheverbot, das die Fortpflanzung der Juden unterbinden soll. Im Rassenwahn der Nationalsozialisten ist das eine „Maßnahme zum Schutz des deutschen Blutes“.
Wer die Juden unter Bergedorfs Geschäftsleuten, Ärzten und Rechtsanwälten sind, wissen alle Mitarbeiter des Rathauses seit 1935: Am 11. September lässt NSDAP-Bürgermeister Hermann Matthäs an alle Dienststellen eine Liste der „Nichtarier in Bergedorf“ verteilen. Sie umfasst neben Hugo Rosendorff unter anderem Ex-Amtsgerichtsdirektor Walter Rudolphi, die Kaufhausbesitzer Georg Schäfer und Berthold Frank sowie Zahnarzt Dr. Ernst Tichauer.
Zwei Kinder fliehen ins Ausland, doch die Eltern und eine Tochter wollen bleiben
Die Rassengesetze treffen die Rosendorffs gleich Anfang 1936. Sie werden von Bergedorf zwangsumgesiedelt nach Winterhude in ein für Juden vorgesehenes Wohnquartier. Das ist der Anlass für den gerade 22 Jahre alten Sohn Herbert, Deutschland zu verlassen. Im März 1936 emigriert er nach Uruguay. Und er erreicht, dass ihm im Dezember auch seine 19-jährige Schwester Ellen folgt sowie seine Tante Anni und ihr Ehemann Hans Bormann, die lange mit den Rosendorffs zusammen gewohnt hatten.
Nur die Eltern und die jüngste Schwester Inge (17) bleiben. Erst Anfang 1939 wird Hugo Rosendorff für alle einen Ausreiseantrag stellen. Doch der bleibt bei den deutschen Behörden liegen, wie Bernhard Nette in seinem Buch „Ausplünderung: Bergedorfer Juden und das Finanzamt“ belegt.
So müssen sie die nächsten Stufen der Entrechtung erleben, die jetzt auch in körperliche Gewalt übergehen. Auch die Boykottmaßnahmen für Rosendorffs jetzt als „jüdisches Geschäft“ gekennzeichnete Drogerie am Neuen Weg zeigen Wirkung. „Die Zahl der Kunden ging stetig zurück“, schreibt Stefan Petzhold im Schlossheft „Juden in Bergedorf“ des Bergedorf-Museums. Und weiter: „In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden die Schaufensterscheiben zertrümmert und die Fassade beschmiert.“
„Reichspogromnacht“ im November 1938: Auch Rosendoffs Drogerie wird angegriffen
Hitlers Führungsclique hatte das tödliche Attentat eines jungen Juden auf den deutschen Diplomaten Ernst Eduard vom Rath vom 7. November in Paris zu einem gezielten Anschlag des Judentums auf Deutschland stilisiert und „den Zorn des Volkes gegen die Juden in Deutschland“ entfacht. Als Zivilisten getarnte Rollkommandos von SA und SS sowie einige Helfer aus der Bevölkerung zerstörten in der „Reichspogromnacht“ mehr als 7000 jüdische Geschäfte und zündeten fast alle Synagogen an.
Die Bergedorfer Zeitung kommentiert die Ereignisse in der Ausgabe vom 11. November 1938 mit einer Verlautbarung von Propagandaminister Joseph Goebbels: „Die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes über den feigen jüdischen Meuchelmord hat sich in der vergangenen Nacht in umfangreichem Maße Luft verschafft. In zahlreichen Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltungsaktionen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen.“
Neue Gesetze der Nazis rauben den Juden die wirtschaftliche Existenz
Aber offenbar hat die Führung in Berlin Sorge, dass der entfesselte Mob weitermachen könnte: „Es ergeht nunmehr an die gesamte Bevölkerung die strenge Aufforderung, von allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum, gleichgültig welcher Art, sofort abzusehen“, schreibt Goebbels. „Die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat in Paris wird auf dem Wege der Gesetzgebung beziehungsweise der Verordnung dem Judentum erteilt werden.“
Der Drogerie der Rosendorffs bescheren die Zerstörungen und die sofort folgenden Verordnungen das Aus. Denn den Juden wird eine Milliarde Reichsmarkt als „Sühneleistung“ für das Attentat auferlegt, ferner die sofortige Beseitigung aller Schäden des Pogroms auf Kosten der Geschäftsinhaber – und das bei gleichzeitiger Beschlagnahme der Versicherungen. Den Schlusspunkt setzt die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“, die Juden ab 1. Januar 1939 jegliche selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit verbietet
Hugo und Hertha Rosendorff müssen schließen – und sind auf die Fürsorge angewiesen
„Am 3. Dezember 1938 erschienen auch bei Hugo Rosendorff Beamte mit der Anordnung, das Geschäft zu schließen“, schreibt Stefan Petzhold. „Er musste die Drogerie daraufhin zwangsweise verkaufen. Doch der niedrige Erlös konnte nicht einmal die Außenstände decken. Die Rosendorffs waren fortan auf Zuwendungen der jüdischen Gemeinde angewiesen. Nach und nach sah sich die Familie gezwungen, sämtliche Wertgegenstände, Schmuck und schließlich sogar einen Großteil der Möbel zu verkaufen.“
Zu allem Überfluss erleidet Hertha Rosendorff Mitte 1938 auch noch einen Schlaganfall, was erhebliche Krankenhauskosten bedeutet, die die Familie 1939 schließlich zum Fürsorgefall machen. Die Drangsalierung der Juden nimmt derweil immer groteskere Formen an. Haben sie keine typisch jüdischen Vornamen, müssen Männer zusätzlich den Namen Israel und Frauen den Namen Sara annehmen.
Juden müssen Radio, Telefon, Schreibmaschinen und sogar ihr Fahrrad abgeben
„Verboten war ihnen zudem der Besuch von Theatern, Kinos, Konzerten, Museen, Sportplätzen und Badeanstalten“, fasst Geerd Dahms zusammen. „Im Sommer durften sie die Straßen nach 21 Uhr, im Winter ab 20 Uhr nicht mehr betreten. 1939 mussten Juden ihre Radiogeräte abliefern, ein Jahr später ihr Telefon, dann alle Schreibmaschinen und 1943 selbst Haustiere und die Fahrräder. Öffentliche Verkehrsmittel durften ebenfalls ab 1943 von ihnen nicht mehr betreten werden, sodass, egal ob alt oder krank, nur noch der Weg zu Fuß blieb.“
Schon am 23. Oktober 1939 ist jegliche legale Ausreise vom Reichssicherheitshauptamt unterbunden worden. Und das Tragen eines Judensterns ist ab 15. September 1941 Pflicht. „Wer diesen nicht trug, lief Gefahr, auf offener Straße hingerichtet zu werden“, schreibt Stefan Petzhold.
Die ersten Deportationen nach Theresienstadt nehmen auch die Rosendorffs mit
Doch damit ist das Leid der drei in Deutschland verbliebenen Rosendorffs noch längst nicht beendet. Hugo und Hertha Rosendorff werden getrennt untergebracht, sie mittlerweile wohl zum Pflegefall geworden, während ihr Mann ab 1940 zur Zwangsarbeit verpflichtet wird. Beide kommen 1942 mit einem der ersten Transporte von Hamburg ins Ghetto Theresienstadt, wo Hertha Rosendorff im Oktober stirbt. Ihr Mann wurde am 7. Juli 1944 in Auschwitz vergast.
Schockierend ist auch das Schicksal der jüngsten Tochter Inge. Sie hatte trotz der widrigen Umstände geheiratet und war am 21. März 1940 Mutter geworden. Mit ihrer Tochter Bela wird die 22-Jährige am 18. November 1941 ins Ghetto nach Minsk deportiert, wo kurz zuvor auch ihr Mann gebracht worden ist. Hier verliert sich ihre Spur. „Ob die junge Familie mit der kaum zweijährigen Bela den Winter unter den hier katastrophalen Lebensbedingungen überhaupt überlebt hat, ist nicht sicher“, schreibt Geerd Dahms. Vielleicht wurden sie erst später erschossen oder vergast. „Im Gedenkbuch für die Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sind sie als ,verschollen in Minsk’ verzeichnet.“
Propagandafilm „Jud Süß“ kommt 1940 in die Kinos – und begeistert die Massen
Als die kleine Bela ihr erstes und vielleicht einziges Weihnachtsfest feiert, starten die Nazis den Höhepunkt der antijüdischen Propaganda: In den Kinos laufen kurz nacheinender die Filme „Jud Süß“ und „Der ewige Jude“ an. Sie leisten einen wichtigen Beitrag, um die Bevölkerung gegen die Schrecken der ersten Deportationszüge und das alltägliche Leid der Juden immun zu machen. Beide basieren auf antisemitischen Vorurteilen wie religiösen Kindsopferungen, der Geldgier, dem Machtstreben und der angeblichen jüdischen Weltverschwörung.
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Juden werden mit Ratten verglichen, die den „arischen Volkskörper“ infizieren und aussaugen. In „Jud Süß“ gipfelt schließlich alles in der Vergewaltigung der „arischen“ Heldin und der „sühnenden“ Hinrichtung des durchtriebenen jüdischen Antihelden Joseph Süß Oppenheimer. Beim Filmkritiker der Bergedorfer Zeitung entfacht das die gewünschte Wirkung: „Seine viehische jüdische Sexualität tobt sich ungestraft unter den deutschen Mädchen aus“, schreibt Helmut Studt, der ausdrücklich die Authentizität der Darstellung „dieses Gierens nach Schändung deutschen Blutes und Schändung deutscher Menschen“ lobt.
Fazit des Reporters nach der Premiere im Lohbrügger Weltspiegel-Kino: „Mit dem ,Jud Süß’ hat Veit Harlan einen der eindrucksvollsten Filme überhaupt geschaffen. Mit monumentaler Wirkung fesselt er uns, dass wir uns der Handlung niemals entziehen können und dieser Film noch lange als ein Erlebnis ganz besonderer Art in uns nachklingen wird.“