Hamburg. 1992 kommen Flüchtlinge in bis dahin nicht gekannter Zahl nach Deutschland. Rechtsradikales Gedankengut fällt auf fruchtbaren Boden.
Der Schock sitzt tief nach den Mordanschlägen von Mölln in der Nacht auf den 23. November 1992. Drei Türkinnen sterben, darunter ein zehnjähriges Mädchen, weitere acht werden teils schwer verletzt. Schnell ist klar, dass Neonazis die Molotowcocktails geworfen haben, gesteuert von blindem Ausländerhass. Doch es ist nicht der Hass allein, der sie antreibt. Hinter diesen und vielen weiteren Taten der frühen 90er-Jahre, etwa dem brennenden Flüchtlingsheim in Rostock-Lichtenhagen, steckt ein rechtsradikales Netzwerk, das seine Wurzeln ganz besonders in Lohbrügge hat.
Dort sind seit den frühen 80er-Jahren schon jene Neonazis aktiv geworden und zu braunen Führungskadern aufgestiegen, die sogar bis heute wichtige Galionsfiguren und Strippenzieher der ultrarechten Szene sind: Thomas Wulff, genannt „Steiner“, und Christian Worch. Sie überzogen Bergedorf und ganz Hamburg mit einer Welle der Gewalt gegen Ausländer, die sich Anfang der 90er-Jahre sogar noch steigerte. Denn jetzt kam eine Welle an Aus- und Übersiedlern, die allein in Hamburg gut 1000 zusätzliche Plätze für Flüchtlinge pro Monat erforderte. Die Folge beschreibt die Bergedorfer Zeitung mit ihrer Titelzeile vom 17. September 1992: „Protest gegen Ausländer formiert sich“.
150 Jahre bz: Ausländerhass – Lohbrügge wird zur Brutstätte der Neonazis
So wird das zweite Jahr nach der Wiedervereinigung zu einem Schmelztiegel der Gefühle: Können die Deutschen einen solchen Zustrom verkraften? Oder müssen die Grenzen dichtgemacht werden, die „Ausländer raus“, wie es etwa die Neonazis fordern. Vor allem in den neuen Bundesländern, die Worch mit seinem in Lohbrügge-Nord entworfenen „Aufbauplan Ost“ für rechtsnationale Gedanken erobern will.
Und diese Saat geht auf: Die untergegangene DDR hatte eine Gesellschaft hinterlassen, die an zentralistisch-diktatorische Strukturen gewöhnt war, aber die alten Machthaber der SED-Elite hasste. Ein Vakuum, in das nun das für sie neue, rechtsnationale Gedankengut vorstößt. Und ganz nebenbei vertreibt seine radikale Sprache die einsetzende Orientierungslosigkeit und bietet mit „den Ausländern“ auch die Sündenböcke, die jetzt für alle zerplatzen Versprechen der „blühenden Landschaften“ nach der Wiedervereinigung herhalten müssen.
Die „Anti-Antifa-Listen“: Christian Worch lässt Adressen von Neonazi-Gegner veröffentlichen
So auf eine neue Basis gestellt, wird 1992 auch der Kampf gegen die aktiven Nazi-Gegner im Westen neu angefacht. Jetzt mit dem ebenfalls von Christian Worch und Thomas Wulff initiierten Projekt der „Anti-Antifa-Listen“: Im August veröffentlicht das Parteiblatt „Index“ der rechten Partei „Nationale Liste“ die Namen engagierter Antifaschisten und Demokraten, einschließlich ihrer Privatadressen, ja sogar ihrer Gewohnheiten, Lieblingskneipen und vielem mehr.
Hinzu kommen den Neonazis unliebsame Buchläden, Cafés, Beratungsstellen, Schülerzeitungen, Jugendzentren und sogar Senioren-Arbeitskreise, wie es Heinrich Eckhoff für seine Chronik „1974-1994 – 20 Jahre Neonazis in Hamburg“ recherchiert hat. Für ihn ist klar: „Es geht den Nazis mit diesen Listen um nichts anderes als Einschüchterung und Aufforderung zur direkten Gewalt.“
Kurz vor Weihnachten 1985: Lohbrügger Neonazis ermorden den Türken Ramadan Avci
Dabei wirft er einen ebenso erschreckenden wie detailreichen Blick auf Bergedorf, der sich teils auf Berichte unserer Zeitung, teils auf eine Sondernummer der Bergedorfer Stadtteilzeitung „zwonullfünf“ der Grün-Alternativen Liste (GAL) von 1986 stützt. So gelingt es Worch, Wulff und dem 1991 verstorbenen Michael Kühnen seit den frühen 80er-Jahren, vor allem aus Lohbrügge-Nord, aber auch aus Bergedorf zahlreiche junge Männer uns sogar einige Frauen zu radikalisieren.
Es gibt eine schier unendliche Reihe von Straftaten gegen Ausländer, vor allem gegen Türken. Höhepunkte sind ein Brandanschlag auf das Bergedorfer GAL-Büro am Grasredder, in dem am 11. März 1984 gerade die Frauengruppe tagte, als die Molotowcocktails flogen. Und der Mord am Türken Ramazan Avci vom Abend des 21. Dezember 1984 an der S-Bahn-Station Landwehr, der von drei Lohbrügger Neonazis erschlagen wurde. Es folgten unter anderem ein Brandanschlag auf dem Camp der Roma und Sinti auf dem Frascatiplatz 1987, der Sturm des linken Jugendtreffs „Unser Haus“ an der Wentorfer Straße im April 1989 und eine bewusst inszenierte Massenschlägerei auf dem Bergedorfer Stadtfest 1992.
Anschläge, Schlägereien, Wehrsportübungen – doch die Polizei sieht lange nur „Einzelfälle“
Hinzu kommen regelmäßige Wehrsportübungen mit scharfen Waffen in den Besenhorster Sanddünen bei Geesthacht. Und auch direkt neben der Polizeischule im unwegsamen „Bunkerwald“ zwischen Geesthachts und Altengamme zwischen den Ruinen der alten Pulverfabrik Düneberg, wo sie dennoch fast immer unbehelligt bleiben. Genau diese scheinbare Toleranz der Polizei und auch deren in den Augen der Bergedorfer Grünen wenig konsequente Antwort auf die rechten Straftaten, die angeblich stets von „Einzeltätern ohne politische Motivation“ begangen werden, sorgt für viel Diskussionsstoff.
Die „Chronik der Einzelfälle“ wird bei den Nazi-Gegnern zum geflügelten Wort. Bis Hamburgs Innensenator Werner Hackmann (SPD), der selbst aus Bergedorf stammt, unserer Zeitung am Tag nach den Mordanschlägen von Mölln ein bemerkenswertes Interview gibt: Bergedorf sei weiterhin eine Hochburg der Neonazis, auch wenn diese Wahrnehmung im Herbst 1992 „etwas verblasst“ sei. Der hier von Michael Kühnen gegründeten rechtsradikalen Nationalen Liste „gehören in Bergedorf derzeit 30 Mitglieder an. Steigenden Zulauf erhalten sie unter anderem aus der hiesigen Skinhead-Szene.“
Türke vor Kneipenschiff „Kogge“ fast totgeschlagen – Prozess gegen Bergedorfer Neonazis
Während Hackmann hier noch eine Nähe der Polizei, auch einzelner Beamter, zu den Neonazis weit von sich weist, soll der Innensenator zwei Jahre später genau darüber stolpern: Im September 1994 muss er zurücktreten, weil der Bericht eines Beamten genau das belegt – zumindest für Einzelfälle. So habe ein Polizist sogar an Wehrsportübungen in Geesthacht und im Sachsenwald teilgenommen, ein anderer die Rechtsextremen direkt aus dem Staatsschutz mit Informationen versorgt.
Die Leser der Bergedorfer Zeitung verfolgen 1992 derweil den Prozess gegen drei hiesige Neonazis, die im Sommer 1991 einen 26-jährigen Türken vor dem Kneipenschiff „Die Kogge“ auf der Serrahnstraße am Bergedorfer Hafen fast totgeschlagen haben. Das 19- bis 22-jährige Trio ließ sich vor dem Hamburger Landgericht vom prominenten rechtsextremen Anwalt Jürgen Rieger vertreten.
bz-Gerichtsreporter: „Der Hauptangeklagte grinste bei den Ausführungen des Richters“
Während sich der Prozess über fast ein halbes Jahr hinzieht, gibt es in der Bergedorfer Zeitung zahlreiche Berichte über brutale Angriffe rechter Schläger auf Türken. Als am 1. September das Urteil fällt, gibt es für den 22 Jahre alten Haupttäter nur drei Jahre Haft, seine Komplizen kommen letztlich mit Bewährungsstrafen davon. Tatsächlich waren sie nicht einmal wegen Mordversuchs angeklagt, sondern nur wegen versuchten Totschlags. Zudem wertet das Landgericht ihren erheblichen Alkoholpegel zur Tatzeit als strafmildernd. „Der Hauptangeklagte Markus H. grinste bei den Ausführungen des Richters“, schreibt bz-Gerichtsreporter Claus-Werner Oksas.
Tatsächlich geschehen brutale Übergriffe wie dieser 1992 in einem besonderen Klima der Verunsicherung. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht auch die Bergedorfer Zeitung über den immer weiter anschwellenden Zustrom an Flüchtlingen etwa aus den Kriegsgebieten Ex-Jugoslawiens oder als Aus- und Übersiedler aus dem gesamten ehemaligen Ostblock berichtet
Flüchtlingswelle der frühen 90er-Jahre: Überall schießen Wohnunterkünfte aus dem Boden
Überall schießen neue Wohnunterkünfte aus dem Boden. Etwa die bis heute bestehende Anlage am Curslacker Neuen Deich südlich der A25, die Ende 1992 eingeweiht wird und eigentlich nur fünf Jahre bestehen bleiben soll. Auch am Spieker Markt in Zollenspieker schweben die Wohncontainer ein. Und nördlich des Reinbeker Redders wird am Rand von Lohbrügge-Nord die Unterkunft „Hirtenland“ gebaut. Überall engagieren sich Bürger für die neuen Nachbarn, aber gleichzeitig wird die Polizei aufgestockt, um mögliche Übergriffe von Neonazis oder ihren Sympathisanten zu verhindern.
Die angespannte Lage nutzt auch die rechtsnationale DVU für sich, die 1992 unter anderem im Landtag in Kiel sitzt. Wie heute die AfD versucht sie, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Am 17. September berichtet die bz über einen Eklat in der Gedenkstätte Neuengamme: Beim Besuch einer Delegation um Landtagspräsidentin Ute Erdsiek-Rave (SPD) findet sie einen Kranz der DVU vor. Die Aufschrift: „Den Opfern der Gewaltherrschaft und des alliierten Terrors.“ Die Abgeordneten wollen sich mit ihrer Visite in der Gedenkstätte auf einen Besuch in Israel vorbereiten.
Auch Bergedorfs CDU-Fraktion nutzt Flüchtlingswelle zur Stimmungsmache
Während der anhaltende Ansturm der Flüchtlinge und Übersiedler etwa in Lohbrügge und Zollenspieker eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft auslöst, gibt es auch vehemente Gegner. Die CDU unter ihrem Fraktionschef Hans-Heinrich Klemm stimmt in der Bezirksversammlung schlicht gegen weitere Unterkünfte. Mit einer Begründung, die auf falschen Fakten basiert, wie der bz-Artikel vom Wochenende 28./29. November 1992 ausführt: „Zwei Probleme, die Wohnungsnot und die Kriminalität von Ausländern, führte Klemm gegen die weitere Aufnahme von Asylbewerbern an. Es sei ungerecht, dass immer mehr Aufwendungen für den sozialen Wohnungsbau erbracht würden, der dann bevorzugt Asylbewerbern zur Verfügung stünde.“
SPD-Fraktionschef Christoph Mallok stellte in seiner Replik die tatsächliche Rechtslage heraus: „Kein Asylbewerber hat Anspruch auf eine Sozialwohnung.“ Klemms einziges Ziel sei es, Vorurteile in der Bevölkerung zu verstärken. Der GAL-Abgeordnete Ralf Meyer warf Klemm vor ,„mit Problemen Stimmungsmache zu betreiben“.
Scheinbar offizielles „Merkblatt“ zur Unterbringung von Flüchtlingen verunsichert Lauenburg
Tatsächlich ist schon zwei Monate zuvor war ein Info-Abend von Bezirksamt und Sozialbehörde zum bereits angelaufenen Bau des Flüchtlingsdorfs „Hirtenland“ am Reinbeker Redder aus dem Ruder gelaufen. Viele der 300 anwesenden Bürger lehnten das Projekt ab, ohne es jetzt natürlich noch verhindern zu können. Die Reaktion: „Wütende Anwohner verließen die Aula der Schule Richard-Linde-Weg mit der Drohung, dass das nächste Wahlergebnis den herrschenden Politikern einen Schock versetzen werde“, schreibt die bz am 17. September.
Eine Stimmungslage, die auch die Neonazis sowie ihre politischen Verbündeten in NPD und DVU nutzen wollen. Was man heute als Fake-News bezeichnen würde, macht die Runde. Ein besonders dreister Fall landet in Lauenburg Ende Oktober als „Merkblatt“ in den Briefkästen der Bürger. Geziert vom offiziellen Stadtwappen und versehen mit fingierten Unterschriften von Bürgermeister Manfred Sauer und Bürgervorsteher Egon Schwintowsky steht dort: „Halten Sie jetzt schon ein nettes Zimmer in Ihrer Wohnung bereit. Wenn in absehbarer Zeit die Aufnahmekapazitäten der Kasernen, Hotels, Pensionen, Sporthallen und Schulen erschöpft sind, kommen wir gern auf Ihr Angebot zurück.“
Asylbewerber flüchten vor Schlägertrupps der Neonazis aus Bahlen bei Boizenburg
„Der Bürgervorsteher erstattet Anzeige gegen unbekannt“, titelt unsere Zeitung am 30. Oktober auf der Lauenburg-Seite zur Reaktion der Stadt. Die ist Anfang August 1992 zudem gerade von einer beängstigend-hilflosen Behördenposse im Umgang mit Flüchtlingen erschüttert worden: Rund 130 Asylbewerber waren aus einer Unterkunft in Bahlen bei Boizenburg vor anrückenden Schlägertrupps der Neonazis nach Lauenburg geflohen.
Die Stadt bringt die Menschen notdürftig in der ehemaligen Grenzkontrollstelle unter, wo sie aber kaum länger als wenige Tage bleiben können. Alle öffentlichen Unterkünfte sind längst überlaufen. Wohin also mit den Menschen, darunter viele Familien mit Kindern? Die Antwort von Schleswig-Holsteins Sozialminister Günther Jansen (SPD): Einheiten der Bereitschaftspolizei sollen die Flüchtlinge „mit sanfter Gewalt“ zurück über die Landesgrenze bringen. Denn für sie sei schließlich Mecklenburg-Vorpommern zuständig, berichtet die bz am 4. August unter der Überschrift „Jansen will Asylanten zur Rückkehr zwingen“.
In Bergedorf entwickelt sich ein Krieg zwischen jungen Türken und Neonazis
In Bergedorf entwickelt sich derweil ein regelrechter Krieg zwischen Neonazis und Skinheads auf der einen Seite und türkischen Jugendlichen sowie der linken Antifa auf der anderen. Während die Nazis Brandanschläge auf türkische Geschäfte und Gewalttaten sogar gegen Senioren anderer Nationalitäten verüben, schlagen die jungen Türken zurück. In Reinbek wird in der Nacht auf den 4. Dezember 1992 ein 26-Jähriger beim Zigarettenholen überfallen und mit dem Messer bearbeitet: „Hakenkreuze ins Gesicht geschnitten“, lautet die Titelzeile der bz.
Nur eine Nacht später überfallen rund 60 Türken, verstärkt durch die schlagkräftigen „Wilhelmsburger Türken-Boys“, den Club „Happy Billard“ an der heutigen Kurt-A.-Körber-Chaussee. Er gilt als beliebter Treffpunkt der rechten Szene. Es gibt zwei Verletzte, gut 20 schwer beschädigte Autos, ein völlig zerstörtes „Happy Billard“ und 17 Festnahmen. Die Polizei kam erst mit einiger Verzögerung am Tatort an, schreibt die bz. Der Grund: Sie sicherte vor allem die Flüchtlingsunterkünfte vor Übergriffen der rechtsradikalen Schläger und „musste für den Billard-Treff erst zwei Hundertschaften aus Altona anfordern“.
SPD kritisiert Arbeit der Lohbrügger Jugendtreffs – Die sehen sich als Sündenböcke
Fazit der Politik: Bergedorfs Neonazi-Szene ist auch 1992 offenbar noch sehr präsent, also die Strategie gescheitert, ihre erstaunlich erfolgreiche Nachwuchsrekrutierung in ihrer Brutstätte Lohbrügge trockenzulegen. Dabei hatte man doch 1990 das Personal der Jugendtreffs am Kurt-Adams-Platz (KAP) und am Röpraredder extra um 3,5 Planstellen aufgestockt. „Unser Eindruck nach zwei Jahren ist: Es wurde zu wenig getan“, sagt Jugendhilfe-Ausschuss-Chefin Karin Rogalski (SPD) schon am 10. Juli 1992 in Richtung der Jugendtreffs auf der Titelseite der bz und droht die Verlagerung des Personals in andere Stadtteile an. In den Häusern sei schlicht verschlafen worden, ein Konzept gegen den Einfluss rechtsradikaler Gruppen zu entwickeln.
Im selben Artikel hält allerdings Peter Wesenberg, Chef des Jugendclubs KAP, mit deutlichen Worten dagegen: „Die Gelder wurden für präventive Arbeit bewilligt, mit der mehr Jugendliche in die offene Jugendarbeit eingebunden werden sollten. Zwar gibt es so auch Kontakte zu Skinheads. Schwierig aber wird es, wenn diese Jugendlichen bereits in rechtsradikale Parteistrukturen eingebunden sind. Die wollen dann kein Billard spielen, sondern politisch agitieren.“ Er habe den Eindruck, die Politik wolle den Schwarzen Peter des wachsenden Rechtsradikalismus‘ jetzt den Jugendzentren zuschieben. „Dabei ist das ein politisches Problem, das Parteien, Polizei, Schule und Elternhaus gemeinsam lösen müssen.“
„Jugend- und Sozialarbeit kann keine neuen Wohnungen und Arbeitsplätze schaffen“
Noch deutlicher – und auch für unseren heutigen Rechtsruck brandaktuell – ist die Einschätzung eines Leserbriefs zu dem Artikel. Veröffentlicht in der bz am 17. August 1992, heißt es darin: „Die Attacke der SPD-Fraktion bestätigt die konsequente Delegierung der Arbeit gegen Rechtsextremismus an die Instanz der Jugendarbeit. Doch diese kann nicht neue Wohnungen und Arbeitsplätze schaffen. Und: Jugend- und Sozialarbeit hat kaum die Chance, Sinndefizite und den Mangel an freien Räumen zu beheben.“
Zudem dürfe nicht vergessen werden, dass „Rechtsextremismus auch eine deutliche Verbindung zum Vertrauensverlust der etablierten Parteien“ habe. „Solange Jugendliche über mangelnde politische Einflussmöglichkeiten verfügen und die etablierte Politik immer wieder nur abschreckende Beispiele oder Skandale bietet, werden rechtsradikale Politikangebote bei Jugendlichen mit naiven Politikvorstellungen einen fruchtbaren Boden finden.“
Polizei, Politik, Jugendarbeit: Seit den 80er-Jahren fühlt sich niemand für Neonazis zuständig
Erstaunlich ist, dass diesen Glauben an die Wunderheilung des erstarkenden Rechtsradikalismus in Bergedorf allein mittels Jugendarbeit schon seit seinen Anfängen in den frühen 80er-Jahren gab. So fragt die bz zwar am Wochenende 1./2. Dezember 1984: „Welche Gefahren bringen Neonazis?“, nachdem sie mehrmals Feiern im DLRG-Heim am Ladenbeker Furtweg gestürmt und heftigen Schaden hinterlassen wurde. Doch die Antworten bleiben vage.
Die Politei bestätigt zwar, dass es eine wachsende Zahl von Hakenkreuz-Schmierereien, Körperverletzungen und Aktionen der verbotenen „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“ (ANS) gebe. Sie spricht sogar davon, dass es „in Bergedorf eine nach dem verurteilte Nazi-Führer Michael Kühnen benannte Kameradschaft“ gebe, bei der „einige junge Anhänger neu hinzugekommen“ seien. Doch das Problem könne nicht durch die Polizei, sondern nur „durch gesellschaftspolitische Aufklärung gelöst werden“.
Mordanschläge von Mölln als Folge jahrelang unterschätzter rechtsradikaler Seilschaften
Fazit unserer Zeitung in einem großen Artikel vom 26. November 1984 zu den Vorfällen im DLRG-Heim: „Betroffen waren von diesen ,Fest-Störern‘ unter anderem auch Gemeinde- und Bürgerhäuser im Bezirk. Ein Zustand, der sicherlich nicht hingenommen werden kann. Er zeigt aber auch, dass dann, wenn es in Bergedorf kein Freizeitangebot für Jugendliche gibt – und das ist an Wochenenden ausschließlich der Fall – bei bestimmten Gruppierungen das Aggressionspotenzial steigt. Bleibt zu hoffen, dass das im Frühjahr mit seiner Arbeit beginnende Haus der Jugend Heckkaten am Oberen Landweg da eine Ventilfunktion übernehmen kann.“
Das Scheitern dieser Taktik, eine Polizei, die „auf dem rechten Auge blind“ war, wie Bergedorfs GAL schon 1986 in ihrer Stadtteilzeitung „zwonullfünf“ schreibt, und eine Gesellschaft, die von der Flüchtlingswelle Anfang der 90er-Jahre buchstäblich überrollt wird, führen 1992 schließlich zu Mordanschlägen wie in Rostock-Lichtenhagen und Mölln. Jetzt haben sich die rechtsradikalen Seilschaften gefestigt, nicht nur im Untergrund, wie die Bergedorfer Zeitung unter Berufung auf das NDR-Magazin „Panorama“ am 6. Dezember berichtet: „Nach Verfassungsschutz-Analyse ist die NPD das einigende Band zwischen einer Reihe von gewalttätigen Jugendgruppen, die bei uns neben Mölln auch die Brandanschläge auf Asylbewerberheime in Boizenburg, Kollow, Gudow und Pritzier verübt beziehungsweise versucht haben.“
Auch 1999 wieder: 500 Neonazis marschieren durch Bergedorf – Gegendemos verboten
Dennoch blickten Politik, Polizei und auch die breite Mehrheit der Gesellschaft weiterhin über die Unterwanderung von Rechtsaußen hinweg, wie die Bergedorfer Historikerin und SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Dr. Christel Oldenburg gerade erst zusammenfasste. In ihrer Rede vor den gut 2000 Teilnehmern der Demonstration „Bergdorf gemeinsam für Demokratie“ am 2. März 2024, erinnerte sie unter anderem an den Marsch von 500 Neonazis vom 10. Juli 1999 durch Bergedorf. Von der Polizei „aus Sicherheitsgründen“ aus der Hamburger Innenstadt nach Bergedorf verlegt, skandierten die Neonazis ganz offen „Ruhm und Ehre der Waffen-SS“.
„Gegendemonstrationen von Antifa und Gewerkschaften wurden verboten“, erinnerte Christel Oldenburg dieses Vorgehen an die 80er-Jahre, als Brandanschläge wie der vom 11. März 1984 auf die im Bergedorfer GAL-Büro tagende Frauengruppe und sogar der Mord an Ramazan Avci am 21. Dezember „als Einzeltaten ohne politischen Hintergrund“ eingestuft wurden. Und das, obwohl Bergedorfer Neonazis die Täter waren.
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1999 immerhin gründete sich nach dem Schock über die Nazi-Demo mitten in Bergedorf das „Rathausbündnis gegen Rechtsextremismus“, um solche behördlichen Aussetzer zu unterbinden. „Ein Wendepunkt in der Wahrnehmung rechter Gewalt“, lobt Oldenburg. „Jetzt immerhin war die Mitte aufgewacht“ und im Zuge der Corona-Proteste in 2021 um das breite gesellschaftliche „Bergedorfer Bündnis gegen rechts“ ergänzt worden..
Christel Oldenburgs Aufruf nach Jahrzehnten von rechter Gewalt und Rechtsextremismus gerade im Bezirk Bergedorf: „Wir müssen das endlich in den Blick nehmen, denn es gab noch zahllose weitere Vorfälle, von denen kaum jemand weiß. Und wir müssen die vielfältigen Formen der Gegenwehr dokumentieren. Denn auch sie gab und gibt es bis heute“, sagte sie mit Blick auf den Demonstrationszug vom 2. März, in dem sich auch viele Plakate gegen die AfD als aktuelle Rechtsaußen-Partei fanden.
„Erst diese Gegenwehr macht Bergedorf zu einem lebenswerten Ort, an dem alle demokratisch gesinnte Menschen ein gutes Leben führen können“, so Oldenburg auch mit Blick auf die massiven Proteste Hunderter Bergedorfer vom Dezember 2014 gegen die NPD um Neonazi Thomas Wulff. Die hatten damals mit einer Kundgebung vor der neu errichteten Flüchtlingsunterkunft auf dem Park-and-ride-Platz am Bahnhof Nettelnburg Stimmung gegen Fremde machen wollen. „Das ist unsere Aufgabe für Gegenwart und Zukunft. Wir werden und wir dürfen in dieser Sache nicht nachlassen.“