Bergedorf. Trotz Chaos nach dem Weltkrieg: Als die Lizenzfreigabe steht, braucht Verlegerfamilie Wagner nur neun Tage bis zur Erstausgabe.
Drei Hungerwinter, kaum Heizmaterial, eng rationierte Lebensmittelmarken und nirgends neue Kleidung zu kaufen: Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ließen die Bergedorfer verzweifeln – auch weil die einst 30.000 Einwohner kleine Stadt durch die vielen Flüchtlingswellen auf über 70.000 Menschen anwuchs. Doch trotz des Mangels in allen Lebensbereichen – für die Kinder waren die vielen neuen Freiheiten nach der Kapitulation des Naziregimes ein großes Abenteuer mit unendlich vielen neuen Eindrücken.
Dazu gehörte am 1. Oktober 1949 auch ein auffällig lauter Mann, der mit einer großen Tasche voller Zeitungen über den Wochenmarkt auf der Chrysanderstraße lief: „Bergedorfer Zeitung – die erste Ausgabe!“, rief er den Menschen zu, die gut ein Jahr nach der Währungsreform im Juni 1948 langsam wieder vom Tauschen zum Kaufen kommen konnten. „Von diesem Tag an gehörten solche Zeitungsverkäufer zum Alltag“, erinnert sich der damals sechsjährige Peter von Essen an die Premiere unserer Zeitung nach dem Krieg.
150 Jahre Bergedorfer Zeitung: Neustart nach dem Weltkrieg
Sechs Jahre und sieben Monate nachdem die Nazis Ende Februar 1943 das Ende der Bergedorfer Zeitung wegen angeblichen Papiermanegels verfügt hatten, nutzte die Verlegerfamilie Wagner die erste Chance für den Neustart der damals immerhin schon 66 Jahre alten Lokalzeitung. Erst zehn Tage zuvor war das von den Siegermächten eingeführte Lizenzverfahren aufgehoben worden, mit dem sie die tief im deutschen Pressewesen verwurzelten Kanäle von Goebbels Propagandaministerium und seines nationalsozialistischen Sprachgebrauchs trocken legen wollten. Dabei galten ihnen die sogenannten Altverleger als besonders suspekt.
Familie Wagner war es gelungen, ihre Bergedorfer Buchdruckerei von Ed. Wagner über den Krieg zu retten, indem mit winziger Mannschaft Visitenkarten, Hochzeitseinladungen, Werbezettel und sonstige Druckaufträge aller Art angenommen wurden. So konnte sie sofort mit der Bergedorfer Zeitung durchstarten – mit einer leider nicht erhaltenen Probenummer noch im September und der Erstausgabe vom 1. Oktober 1949, die stolz die „Nr. 1“ und „67. Jahrgang“ im Titel trägt.
Rückkehr auf einen Zeitungsmarkt mit bereits mächtiger Konkurrenz
Sie traf auf einen Zeitungsmarkt, der bereits von den sogenannten Lizenzzeitungen dominiert wurde. Wie bei allen Blättern der Altverleger gehörten deren einstige Abonnenten natürlich längst zu den Lesern jener Blätter, die als erste im befreiten Deutschland gedruckt wurden. Dazu gehörten unter anderem die seit 1946 erscheinende Zeitung „Die Zeit“, das seit 1947 geduckte Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ und verschiedene Publikationen des schon 1946 gegründeten Axel-Springer-Verlages, zu denen ab 1948 auch das Hamburger Abendblatt gehörte.
Ein Wettbewerbsnachteil, mit dem sich die Erstausgabe der Bergedorfer Zeitung gleich auf der Titelseite in einem Leitartikel befasst – mit Fortsetzung auf Seite 2: „Die Fesseln sind gefallen“, heißt es dort – und: „Ein großer Teil der Monopolpresse leistete bei der bisherigen Militärregierung der Siegermächte verzweifelten Widerstand gegen die aufkommende Konkurrenz.“
Leitartikel in der Erstausgabe mit Bekenntnis zum Grundgesetz
Es folgt ein Bekenntnis zum Grundgesetz: „Wenn gesagt wurde, Kleinstadtzeitungen könnten wieder einen Nazigeist aufkommen lassen, so ist dieser Gedanke als völlig absurd abzulehnen. Kein vernünftiger Verleger oder Journalist wird heutzutage auf die Idee kommen, eine Zeitung Goebbelsscher Prägung herauszubringen.“
Und weiter: „Wir haben aus der furchtbaren Katastrophe, die über uns gekommen ist, doch alle etwas gelernt. Die Realitäten der Gegenwart können wir nicht hinwegdebattieren. Und wir müssen erkennen, dass ein Leben in demokratischer Freiheit die einzig mögliche Gemeinschaftsform für die deutsche Zukunft ist. Von einem totalitären Polizeistaat wollen wir alle nichts mehr wissen.“
„Schon Eure Eltern und Großeltern lasen Bergedorfer Zeitung“
Gleichzeitig sagt die Bergedorfer Zeitung jetzt den gewöhnlich überregionalen Lizenzzeitungen unverblümt den Kampf an – und setzt dabei auf die Bergedorfer als ihre angestammten Leser: „Schon Eure Eltern und Großeltern lasen immer ihre Heimatzeitung. Haltet ihnen und uns die Treue – Bergedorfer Zeitung“, heißt es in einer regelmäßig erscheinenden Anzeige.
Und etwas wissenschaftlicher im Leitartikel: „Übergebührliche Zentralisation im Zeitungswesen würde nur Verflechtung und Stagnation bedeuten, wie das Beispiel Russland zeigt und die Pressediktatur der NS-Verlage abschreckend gelehrt hat. Jede Zeitung besitzt ihren Eigenwert, über den allein der Leser zu entscheiden hat. Die sehr vielen lokalen Imponderabilien können nur durch eine eigenständige Ortspresse erfasst werden.“
Große Freude über Wiedererscheinen bei Lesern – und viele Forderungen
Genau das bestätigen auch verschiedene Leserbriefe in der Erstausgabe vom 1. Oktober 1949: „Das war eine Freude am frühen Morgen als die Probenummer unserer Zeitung ins Haus geflattert kam“, schreibt ein O. M. – um gleich fortzufahren: „So – jetzt hoffen wir aber auch, dass unsere Sorgen angehört werden.“
Auch unter der Überschrift „Der Sport begrüßt unsere Zeitung“ heißt es über „Bergedorf als „sportbegeisterte Stadt“ mit 20 Sportvereinen: „Tausende strömen jeden Sonntag auf die Sportplätze, um ein spannendes Fußball- oder Handballspiel zu sehen, die Leistung unserer Leichtathleten oder Turner zu bewundern. Durch das Erscheinen der bz hat der Bergedorfer Sportsfreund endlich wieder ein publizistisches Organ, das seinen Wünschen und Interessen gerecht wird und ihm eine Übersicht über das gesamte Sportgeschehen vermittelt.“
Kaum weibliche Redakteure: „Sogar Frauenseite wird oft von Männern gemacht“
Klare Worte gibt es auch von den Bergedorferinnen: Das Wiedererscheinen werde „mit großer Sympathie begrüßt“, schreibt eine Elas Dreyer. „Möge die neuerscheinende Bergedorfer Zeitung den Frauen den Raum zugestehen, um ihrem Interessenkreis genügend Ausdruck zu verleihen.“ Zwei Wochen später beklagt eine Helga, dass im Journalistenberuf fast nur Männer arbeiten: „Obwohl das männlich Geschlecht uns zahlenmäßig unterlegen ist, gibt es unter den Journalisten nach der neuesten Statistik nur sieben Prozent Frauen. Man versperrt uns einfach den Weg zum Beruf. Sogar die ,Frauenseite’ wird häufig von einem Mann gemacht.“
Die großen Themen der letzten drei Monate des Jahres 1949 kreisen in unserer Zeitung um die Rolle der jungen, erst am 23. Mai 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland in der Welt: „Schluss mit jeder Politik, die auf Rachegelüsten basiert“, titeln wir schon am 1. Oktober in der Erstausgabe unter dem Foto von Bundespräsident Theodor Heuss und einem „Fünf-Punkte-Programm“ für den Frieden“.
Schlagzeile: „Bonn provisorische Hauptstadt der Bundesregierung“
Zudem spricht sich Bundeskanzler Konrad Adenauer mehrfach gegen den Aufbau einer neuen Armee in Deutschland aus. Und es fällt die Entscheidung, dass statt Berlin nun „Bonn provisorische Hauptstadt der Bundesregierung“ wird, wie unsere Leser am 4. November 1949 erfahren. Insgesamt geht es unter dem Eindruck des aufziehenden Kalten Krieges immer wieder um das Thema Frieden. Abschließend heißt es auf der Titelseite unserer Silvesterausgabe: „Unser Neujahrswunsch für 1950: West und Ost gehören zusammen“.
Die großen lokalen Themen sind der Auftakt zum Bau des vom Billtal-Stadions mit Hunderten Männern als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme und die Schaufenster der Geschäfte im Sachsentor, die sich nach der Währungsreform im Juni 1948 sofort wieder füllten – allerdings mit Waren, die für viele Bergedorfer nicht bezahlbar waren. Denn sie erhielten wie alle Bürger der Bundesrepublik nur 60 D-Mark, und ihr in Reichsmark Erspartes schrumpfte in D-Mark auf nur noch zehn Prozent der alten Zahl.
Bergedorfer sind in Feierlaune – trotz Entbehrungen der Nachkriegsjahre
Trotz aller Entbehrungen der Nachkriegsjahre sticht die riesige Feierlaune der Bergedorfer ins Auge. So findet sich in unserer Zeitungsausgabe vom 29. Dezember 1949 eine komplette Anzeigenseite zum Thema „Wo treffen wir uns Silvester?“. Sie umfasst stattliche zwölf Bälle und sonstige Feiern in diversen Gasthöfen Bergedorfs, Lohbrügges und der Vier- und Marschlande.
Wie zwei Jahrzehnte zuvor in den „Goldenen 20er-Jahren“ bildete das Freizeitvergnügen auch jetzt wieder ein Ventil, um dem tristen, vom Überlebenskampf geprägten Alltag zu entfliehen. Im Buch „Die Stunde Null“ des Kultur- & Geschichtskontors heißt es dazu: Vieles war auch hier natürlich „geprägt von Improvisationen und Behelfslösungen“. Aber Konzerte und Theateraufführungen, Kabarett- und Kinoabende waren gewöhnlich ausverkauft.
Rasanter Zulauf für Sportvereine, Chöre und Laienspielgruppen
Zudem gab es Bälle, bei denen gern auch auch die Nächte durchgemacht wurden, Sportvereine wuchsen rasant, ebenso Chorvereinigungen und auch Laienspielgruppen. Nicht zuletzt entstand auf Initiative des Hamburger Bürgermeisters Max Brauer im Mai 1948 unter anderem in Bergedorf der Lichtwark-Ausschuss. Seine Aufgabe bis heute: Die Kultur für die Menschen in den Stadtteilen beleben.
Zudem gewann Bergedorf politisch zumindest wieder ein kleines bisschen Selbstständigkeit, wenn auch die von den Nazis 1938 mit dem Groß-Hamburg-Gesetz entzogenen Stadtrechte nicht mehr wiederbelebt wurden. Im September 1949 wurde die Hansestadt in sieben Bezirke aufgeteilt, einer davon ist bis heute Bergedorf. Zum 1. Dezember trat Albert Schaumann (SPD) sein Amt als erster Bezirksamtsleiter im Bergedorfer Rathaus an.
Klare Absage aus Hamburg an Bergedorfs Träume von neuer Eigenständigkeit
Schon sechs Wochen zuvor, am 16. Oktober, hatten die Bergedorfer ihre erste Bezirksversammlung gewählt. In ihrer ersten Sitzung am 15. November wurden Bergedorfs Selbstständigkeitswünsche deutlich in die Schranken gewiesen, wie unsere Zeitung berichtet: „Die Hauptaufgabe der Bezirksversammlung ist klar ersichtlich: Sie soll Anregungen geben, Mängel aufzeigen und Verbesserungen vorschlagen.“
Das alles – wie bis heute – aber bloß als Ausschuss, der Bergedorfs Verwaltung begleitet: „Bei allen Beschlüssen muss die Bezirksversammlung bedenken, dass es in Hamburg nur einen Gesetzgeber geben kann – die Bürgerschaft – und nur eine Regierung – den Senat. Nur bei strengster Einhaltung ihrer Befugnisse kann die Bezirksversammlung das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen und der Klarheit der notwendigen Verbesserung der Verwaltung dienen.“
Familie Wagner und ihre Zeitung: Garanten für Bergedorfs Selbstbewusstsein
Wenig Raum also für Bergedorfs neue Politiker, um mit Herzblut für den eigenständigen Charakter der einstigen Stadt zu kämpfen, geschweige denn ihn durchzusetzen. Umso mehr kam diese Aufgabe nun der wiederbelebten Bergedorfer Zeitung zu, wie Peter von Essen erzählt, der 1974 schließlich selbst Redakteur unserer Zeitung wurde und bis zu seinem Ruhestand 2001 blieb.
Das Ansehen der Verleger-Familie Wagner und ihr Auftreten hatte sich dem heute 80-Jährigen aber schon in Kindertagen eingebrannt: „Wir wohnten damals wie die Wagners im Villengebiet. Und meine Großmutter war mit Martha Bauer befreundet, der Tochter des Verlagsgründers Eduard ,Ed.’ Wagner und Miteigentümerin des Verlags. Die war damals zwar auch schon eine betagte Dame, aber sehr resolut und immer gut gekleidet“, erinnert sich Peter von Essen.
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Sie wie auch ihr Neffe Reinhard Wagner, der nach dem Krieg Verlag und Druckerei führte, genossen in Bergedorfs wichtigen Kreisen höchstes Ansehen. Und sie waren natürlich auch in der einflussreichen Wirtschaftlichen Vereinigung vertreten.
„Tante Bauer, wie ich sie nennen durfte, hatte klare Vorstellungen, wie Dinge zu laufen hatten. Und das sagte sie nicht nur, man hörte auch auf sie“, erinnert sich Peter von Essen. Selbst bei ihrer Abneigung gegen den Nazi-Chefredakteur der Bergedorfer Zeitung, Theodor Müller soll sie kein Blatt vor den Mund genommen haben. „Dass Bergedorf bis heute einen eigenen Charakter hat, liegt ganz wesentlich an der Verleger-Familie Wagner – und ihrer Zeitung.“