Bergedorf. Tanz, Kino und ausschweifende Partys machen die Krisen der Vergangenheit vergessen. Das geht nicht lange gut.
Die ausschweifende Partylaune der Goldenen Zwanziger füllt den Anzeigenteil der Bergedorfer Zeitung gleich seitenweise. Nirgendwo sonst lässt sich so gut ablesen, wie die Bergedorfer vor fast 100 Jahren den „Tanz auf dem Vulkan“ wagen – Tanz- oder Kino-Nächte, Sport- oder Konzertereignisse genießen trotz Armut, Arbeitslosigkeit, politischer Turbulenzen und immer noch gezeichnet von den Folgen des kaum zehn Jahre zurückliegenden Ersten Weltkriegs.
„Heut woll’n wir lustig sein“ wirbt der Holsteinische Hof in Lohbrügge auf der prominenten letzten Seite der Wochenendausgabe vom 12./13. Mai 1928, gleich neben dem „Großen Einweihungsball“ des Ausflugslokals Billtal, dem „Sonntags-Tanz“ im Waldschloss und dem Sommervergnügen der Militärischen Kameradschaft. In Neuengamme machen sich der Gasthof Stadt Hamburg mit seinem „Großen Ball“ und der nahe Gasthof Stadt Lübeck mit „großer Ballmusik“ Konkurrenz. Oder wie wäre es mit „Unterhaltungsmusik“ in Hitschers Gasthaus oder dem „Konzert mit Tanz“ im Restaurant von J. Heidt in Lohbrügge?
Leben in den 20er-Jahren: Bergedorf feiert am Abgrund
Es sind die Jahre von 1925/26 bis zum Herbst 1929, als sich überall in Deutschland und der ganzen westlichen Welt ein erstaunliches Lebensgefühl verbreitet. Eine leichte wirtschaftliche Erholung gepaart mit einer kurzen Phase relativer politischer Stabilität genügt, um den ganzen Frust und die Ängste von Weltkrieg und Hyperinflation auszublenden – und einfach nur das Leben zu genießen.
Das gilt ganz besonders für die Deutschen, die zudem ja noch immer unter den Reparationsleistungen an die Siegermächte leiden. Aber die wurden damals durch kurzfristige Kredite vor allem aus den USA erstmal zwischenfinanziert. Wie so vieles im zarten Aufschwung der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre hing auch der weltweite Siegeszug des gerade erfundenen Fließbands zur Massenproduktion von Waren aller Art auch an Krediten aus der neuen Weltmacht und ihrer Banken. Eine Abhängigkeit, die den Zusammenbruch der US-Börse an der Wall Street am 24. Oktober 1929 in die ganze Welt exportierte. Der „Schwarze Donnerstag“ leitete so auch den erneuten Untergang in Deutschland ein.
Es gibt keine Partei ohne Vorbehalte gegen die Weimarer Republik
Knapp zwei Jahre vor dem Fiasko beschreibt die Bergedorfer Zeitung die zerbrechliche Grundlage der Goldenen Zwanzigerjahre in ihrer Silvesterausgabe 1927 so: „An der Spitze steht das Bedürfnis einer stärkeren Basis für die Regierungssysteme.“ Das Blatt erinnert daran, dass noch keine einzige Regierung der Weimarer Republik eine ganze Legislaturperiode überstanden hat und ohnehin kaum eine Partei vorbehaltlos hinter der Demokratie steht. Dennoch gebe es „bei allen Verständigen“ Einigkeit darüber, dass „der Weltfriede gewahrt werden muss, um Deutschland, wie seinen Nachbarländern ein Verharren auf dem mit Erfolg beschrittenen Pfade des wirtschaftliche Aufstiegs zu sichern“. Zudem müssten endlich die Reparationsschulden in den Griff bekommen werden.
Dem tiefen Bedürfnis der Menschen nach Erholung, ein bisschen Normalität und Zerstreuung tun diese Probleme keinen Abbruch. So berichtet die Redaktion am 2. Mai 1928 vom massenhaften Ansturm der Hamburger auf die Züge ins Grüne. Weil der 1. Mai in der Hansestadt zum arbeitsfreien Feiertag erklärt worden war, nicht aber im benachbarten Preußen, zu dem auch Schleswig-Holstein und das Herzogtum Lauenburg gehören, hatte die Bahn keinen Sonntagsfahrplan vorgesehen.
Mai 1928: „Lawinenartiger Ausflugsverkehr“ nach Bergedorf und Aumühle
„Besonders zwischen Hamburg und Friedrichsruh gab es auf allen Bahnhöfen ein heilloses Durcheinander, das alle Verkehrsmaßnahmen einfach über den Haufen warf, als der Verkehr im Laufe des Tages lawinenartig anschwoll“, berichtet die Zeitung über manche „Erregung des Publikums“, die an den Stationen Bergedorf und Aumühle besonders groß war: „Die Reisenden warteten teils bis zu eineinhalb Stunden, um endlich ihren Zug besteigen zu können. In Bergedorf passierte es den Ausflüglern, dass die Züge viermal dicht besetzt ankamen und eine Mitfahrt daher ausgeschlossen war.“
Auch im sogenannten Schießtal, dem späteren Billtal-Stadion im Bergedorfer Gehölz, waren am 1. Mai 1928 Tausende. Organisiert von SPD und Gewerkschaften, strömten die Massen mit einem großen Festumzug vom Sander Markt in Lohbrügge durch Bergedorf und sein Villengebiet zur Festwiese.
Bergedorf feiert den ganzen Tag – und anschließend bis tief in die Nacht
Eine Großveranstaltung, die sich zum Abend hin in zahlreichen Bergedorfer Gasthäusern fortsetzte, wie die Bergedorfer Zeitung berichtet: „Konzert, Aufführungen, Verlosung und Kinderspiele sorgten im Gehölz und im Hotel Billtal für Unterhaltung der Großen und Kleinen. Abendveranstaltungen fanden im Colosseum und bei Eckermann statt. Hier wurden Instrumental- und Vokalkonzert, Rezitationen, Theater und turnerische Vorführungen von Mitgliedern der Freien Turnerschaft geboten. Die Feier war von prächtigem Wetter begünstigt und nahm in allen Teilen einen schönen Verlauf.“
Nicht nur Ausflüge ins Grüne waren im Mai 1928 beliebt. Wie ein Blick auf die Anzeigenseiten der Bergedorfer Zeitung zeigt, hatte längst auch der Aufschwung der Kinos Bergedorf erreicht. Ende der 1920er-Jahre gingen in Deutschland – dem Mekka der Lichtspielhäuser – täglich etwa zwei Millionen Menschen in die damals mehr als 5000 Kinos, die vor allem amerikanische, aber auch immer mehr deutsche Filmproduktionen zeigten. Die Universum Film AG, kurz UFA, in Babelsberg bei Berlin wurde nach Hollywood zum zweitgrößten Filmimperium der Welt. Hier entstanden Klassiker wie der Stummfilm „Metropolis“ von 1927 und drei Jahre später Marlene Dietrichs Welterfolg „Der blaue Engel“.
Viele Bergedorfer Gasthäuser verwandeln sich am Wochenende in Kinos
In Bergedorf schaute man die Streifen im Hansa-Kino am Brink oder in diversen Gasthäusern, die sich regelmäßig am Wochenende in Kinosäle verwandelten. So wirbt das Portici am Neuen Weg beim Frascatiplatz in der Bergedorfer Zeitung als „Lichtspiele Portici“, machen Restaurants in Zollenspieker und Warwisch in einer gemeinsamen Anzeige als „Vierländer Lichtspiele“ auf sich aufmerksam. Die größten Anzeigen schaltet das Hansa-Kino, das stets auch Tanzfilme im Programm hat – vor allem den besonders beliebten Charleston, der als Tanzstil der Goldenen Zwanziger gilt.
Das jähe Ende der großen Party läutet die Bergedorfer Zeitung auf ihrer Titelseite am Freitag, 25. Oktober 1929, ein. Unter der Überschrift „Schwarzer Tag in Wall Street“ geht der Blick auf den Vortag in New York: „Unter panikartigen Verkäufen rutschten die Kurse innerhalb des Börsenverlaufes um bis zu 50 Dollar. Von Minute zu Minute steigerte sich die fieberhafte Aufregung, die noch dadurch erhöht wurde, dass die technischen Einrichtungen den gewaltigen Umsätzen nicht gewachsen waren.“
„Schwarzer Donnerstag“ sorgt für Chaos auf New Yorks Straßen
Der Ansturm Tausender frustrierter Menschen und der Lärm der Broker sei so groß gewesen, dass die Glocken der benachbarten Trinity-Kirche nicht mehr zu hören waren. „In der allgemeinen Aufregung brachen sechs Makler zusammen und mussten ins Krankenhaus gebracht werden.“
Grund für den „Schwarzen Donnerstag“ – und auch den Ansturm der Massen zur Wall Street – war der auf Kredit finanzierte Wirtschaftsaufschwung in den USA, der wesentlich auf der Erfindung der Fließbandarbeit fußte. Die Produktion ging dabei allerdings so rasant nach oben, dass sie schließlich die Nachfrage überstieg. Das ließ viele der gewährten Kredite platzen, in die zahllose Amerikaner alles Ersparte investiert hatten, auch ihre Altersvorsorge. Auch viele Banken brachen zusammen.
US-Börsencrash schwappt als „Schwarzer Freitag“ sofort nach Deutschland über
Die Zeit des Wohlstandes wich auf der ganzen Welt einer tiefen Depression. Neben den Amerikanern waren auch die Deutschen besonders betroffen, hatten sie die Reparationszahlungen doch mittlerweile über US-Kredite finanziert, um wenigstens den eher zarten Wirtschaftsaufschwung hierzulande auszulösen. Die Folgen für Deutschland waren Massenarbeitslosigkeit, Armut, Konkurse und nicht zuletzt ein mörderischer Straßenkampf zwischen der schon seit 1919 aktiven KPD und den Nazis, die mit der Krise immer mehr Zulauf erhielten.
Blickt man auf die Artikel der Bergedorfer Zeitung, nähert sich die Krise zunächst langsam. Am 29. Oktober ruft das Blatt seine Leser noch dazu auf, sich am fünf Jahre zuvor erfundenen und bis heute auf den 29. Oktober festgelegten Weltspartag zu beteiligen. Begründung: „Die gesamte Wirtschaft leidet nach wie vor unter einem starken Kreditmangel, der nur behoben werden kann durch steigende Kapitalbildung im Inland.“ Der Einzelne könne sich so gegen persönliche Risiken absichern, die Allgemeinheit brauche das bei Banken und vor allem Sparkassen liegende Geld für Zukunftsprojekte. „Als Beispiel sei nur auf den Wohnungsbau hingewiesen.“
Fatale Entscheidung der Städte: Auch Bergedorf stoppt den Wohnungsbau
Tatsächlich gibt es auch Ende 1929, elf Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, noch immer die durch ihn ausgelösten riesige Wohnungsnot. Aber ausgerechnet hier setzen die Gemeinden jetzt den Rotstift an, wie die Zeitung am 2. November 1929 vom Deutschen Städtetag berichtet: Das Ausfallrisiko für die zum Bau erforderlichen Kredite sei in der neuen Weltwirtschaftskrise schlicht zu hoch. „Verschiedene Städte des Westens haben unter dem Druck der Finanznot bereits jetzt alle Bauten eingestellt.“
Kein gutes Omen für die Stimmung auch in Bergedorf, die unsere Zeitung in der Silvesterausgabe 1929 mit Blick auf die abgelaufenen 20er-Jahre und das bevorstehende Jahrzehnt so beschreibt: Man denke „nicht mit froher Erinnerung zurück für unser deutsches Volk, das gerade während dieser Jahre unglaublich Schweres durchmachen musste: Hunger und Bürgerkrieg, Inflation und Vermögensverlust, verlorene Weltgeltung und eine gescheiterte Kulturmission.“
Bitteres Fazit: „Die Regierenden trennt eine Kluft von den Regierten“
Der Blick nach vorn fällt so für die ganze, wenig geliebte Weimarer Republik wenig hoffnungsfroh aus: „Wie kann Friede werden in einem Vaterland, in dem die Parteigruppen, die Berufsstände, die Nörgler und die Selbstzufriedenen sich unaufhörlich bekämpfen?“ Vor allem wirtschaftlich, aber auch politisch brauche es wieder „eine wirkliche Volksgemeinschaft“.
Und wer in der bürgerlich-konservativen, einst kaisertreuen Bergedorfer Zeitung an der Schwelle zu den 1930er-Jahren schon Vorboten für das Ende der Demokratie sucht, findet sie: Das Parlament debattiere monatelang nur über Fragen dritter und letzter Ordnung, während die Grundfragen unserer Existenz „einfach durchgepeitscht“ würden. „Darüber ist der Zusammenhang mit dem Volke verloren gegangen, die Regierenden trennt eine Kluft von den Regierten.“
Bergedorfer Zeitung wirft Bürgermeister Wiesner (SPD) diktatorische Züge vor
Ähnlich deutlich gehen die Redakteure der Bergedorfer Zeitung in derselben Ausgabe mit den politischen Umständen in Bergedorf ins Gericht. Der regierenden sozialdemokratischen Mehrheit im Stadtrat und SPD-Bürgermeister Wilhelm Wiesner werden diktatorische Züge nachgesagt. Sie seien mit ihrer Wohlfahrtspolitik, städtischem Wohnungsbau und immer mehr Regulierungen „auf dem Wege der Erdrosselung des privaten Grundeigentums“.
Versöhnliche Worte gegenüber der SPD und ihres „Hetzblättchens“ Bergedorf-Sander Volksblatt finden sich in der Bergedorfer Zeitung fortan nicht mehr. Die politischen Grabenkämpfe werden heftiger, bis zur unverhohlenen Freude über das Verbot durch die Nazis im April 1934.
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Derweil breitet sich die wirtschaftliche Not in der Bevölkerung rasend schnell aus. Die Goldenen Zwanziger sind unwiderruflich vorbei, wie die Bergedorfer Zeitung in ihrer Weihnachtsausgabe 1930 beschreiben: „Es gibt so viele, deren Gesichter dunkel werden, wenn sie daran denken, dass sie ihrer Familie so manchen bescheidenen Wunsch nicht erfüllen können, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse es ihnen nicht gestatten, andere als die dringenden Ausgaben zu machen.“
Die abschließende Aufmunterung der Leser sieht Ende 1930 dann so aus: „Das Weihnachtsfest soll uns in diesem Jahr mehr als je nicht nur ein Fest der Liebe sein, sondern auch ein Fest der Hoffnung. Der Hoffnung, dass dieses Jahr der wirtschaftlichen Not der schwerste Kelch war, den wir leeren mussten. Und dass es fortan wieder aufwärts geht.“ Es sollte anders kommen.