Bergedorf. 1973 legt das City Center Bergedorf einen furiosen Start hin. Und direkt daneben entsteht noch ein Neubau, der keiner sein soll.
Wer 1973 durch die Bergedorfer City spaziert und den Blick nach oben richtet, kann die Zukunft je nach Blickwinkel schon sehen. Über die Dächer der historischen Häuser wächst am Alten Hafen das City-Center Bergedorf (CCB) in die Höhe, ein modernes Einkaufszentrum nach amerikanischem Vorbild. Ob das Konzept von mehreren Einzelhändlern unter einem Dach funktionieren wird, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand. Tatsächlich prägt das CCB den Bezirk bis heute.
Die Bergedorfer Zeitung kann ihren Lesern jedenfalls am 17. Februar verkünden, dass der geplante Zeitplan einhalten werden könne. „Eröffnung am 1. November“ titelt das Blatt auf den Lokalseiten. Die Hälfte der Laden- und Büroflächen sind bereits vermietet. Auch eine Fußgängerbrücke zum zukünftigen Parkhaus soll errichtet werden, verkünden die Bauherren. Die etablierten Bergedorfer Kaufleute begrüßen die Fortschritte: „Hier entsteht zweifellos ein weiterer Anziehungspunkt für unsere Stadt“, betont Hajo Penndorf, Vorsitzender der Interessengemeinschaft Bergedorfer Kaufleute, in der bz.
CCB wird 1973 unter enormen Andrang der Bergedorf eröffnet
Allerdings: Schon der Rohbau der zukünftigen Shopping-Mall verändert das Leben von 100 Bergedorfer Familien – und das nicht zum Guten. Denn das Gerüst aus Beton und Stahl stört ihren Fernsehempfang. Unter der Schlagzeile „Leben im Schatten des City-Centers“ beschreibt die bz am 24. Februar unscharfe Bilder, Mehrfachbilder oder gleich einen komplett lahmgelegten Empfang bei Anwohnern der Vierlandenstraße, dem Sachsentor, Rektor-Ritter-Straße und Hinterm Graben. „Besonders ältere, alleinstehende Menschen sind betroffen. Wenn sie abends nicht fernsehen können, verlieren sie den Kontakt zur Außenwelt“, schildert die Bergedorfer Zeitung die fatale Situation.
Als Reaktion auf das technische Desaster formiert sich eine Bürgerinitiative, die Druck auf den Bauherrn macht. Die Koalition aus SPD und FDP in der Hamburgischen Bürgerschaft ist ebenfalls nicht untätig und appelliert an den Senat, sich bei der Bundesregierung dafür starkzumachen, dass der Fernsehempfang in Zukunft bei entsprechend hohen Bauten sichergestellt werden müsse. Der Bauträger SF-Bau äußert Verständnis und schlägt vor, einen Kleinsender auf dem fertigen CCB zu installieren, um das Signal zu verstärken. Die Post erteilt diesem Plan jedoch eine Absage, wie die bz am 29. März berichtet. Es könne zu Überstrahlungen kommen, die den Empfang an anderer Stelle stören.
In der Berichterstattung zum Richtfest am 5. Mai erläutert die Bergedorfer Zeitung ein Ergebnis der Standortplanung, das bis heute als Grund für die gute Verankerung des CCB in Bergedorf gilt: „Das CCB ist im Stadtkern angesiedelt, ist also nicht wie viele andere Einkaufszentren ein Fremdkörper am Rande der Stadt“. Die Lage am Wasser, umgeben von Grünanlagen und den historischen Fachwerkhäusern des alten Bergedorfs, werde eine angenehme Einkaufsatmosphäre schaffen.
Die bz begleitet den Baufortschritt in den kommenden Monaten stetig und verspricht am 8. Oktober, dass die neue Brücke vom neuen Serrahnparkhaus zum Busbahnhof „erhebliche Erleichterungen“ für die Passagiere von Bussen und S-Bahn bringen wird. Kurz vor der Eröffnung erscheinen dann am 30. November acht Sonderseiten der Bergedorfer Zeitung und trommeln für das „Einkaufsparadies auf Großstadtniveau“, wie es vielleicht nicht ganz unvoreingenommen in der Überschrift heißt. Die Sonderseiten erinnern auch noch einmal daran, dass das CCB nur an dieser Stelle entstehen konnte, weil die Fläche durch das Großfeuer der Holzhandlung Behr 1969 frei geworden war. Die Firma zog an den Curslacker Neuen Deich um und der Bau des Shoppingcenters konnte geplant werden.
Am 2. November berichtet die Bergedorfer Zeitung dann von der Einweihung am Tag zuvor. Kurt Unverhau, der Direktor der Bauherrin Victoria-Versicherung, gibt bei der Eröffnung des damals 8500 Quadratmeter großen Einkaufsparadieses zu, dass er noch Mitte September skeptisch war, ob der Termin gehalten werden könne. „Nächtelanges Schuften“ habe sich nun aber ausgezahlt.
Und die Bergedorfer? Die sind begeistert und stürmen das Einkaufszentrum in bis heute legendärem Ausmaß. Um 10 Uhr öffnen die Tore zum Neubau mit seinen fast 40 Geschäften. Eine Dreiviertelstunde später muss das erste Geschäft wegen Überfüllung geschlossen werden. „Die Menschen ballten sich in Trauben vor dem Eingang, es ging weder vor noch zurück“, schildert die bz die Zustände. Die Kunden jagen Sonderangebote zur Eröffnung und das Maskottchen „Mr. CCB“, das an wechselnden Orten Zehnmarkscheine verteilte. „Ein irres Angebot ist das hier“, urteilt eine junge Bergedorferin, während sich ein Vater mit Kindern freut, dass sein Nachwuchs im Center keine Angst vor Autos haben muss.
Während das CCB 1973 seiner Fertigstellung entgegeneilt, müssen sich die Bergedorfer im Sommer desselben Jahres von der historischen Kornwassermühle verabschieden. „Der Abriss beginnt“, verkündet die Bergedorfer Zeitung am 26. Juni. Das Bauwerk war ursprünglich im 13. Jahrhundert errichtet worden, die Bauern der Umgebung wurden verpflichtet, ihr Korn nur an dieser Stelle mahlen zu lassen. Für die Landesherren war es eine sprudelnde Einnahmequelle. Jetzt wird das in der Zwischenzeit mehrfach erweiterte und umgebaute Gebäude abgetragen.
An der gleichen Stelle wächst in den folgenden Monaten ein Stahlgerüst in die Höhe, das von spöttischen Bergedorfern „Sophias Skelett“ genannt wird – nach der Bauherrin Sophia Szagun, die im Neubau eine Boutique einrichten lässt. Auf das moderne Innenleben wird eine Schicht Ziegel und vermeintliche Fachwerkbalken aufgetragen, sodass die Mühle bis heute auf den ersten Blick den Eindruck eines ehrwürdigen historischen Gemäuers erweckt. Eigentlich sollte die neue Kornwassermühle sogar zeitgleich mit dem CCB am 1. November fertig werden – diesen Plänen erteilt die bz am 11. Oktober aber eine Absage. Schließlich steht zu diesem Zeitpunkt weiterhin nur das nackte Stahlgerippe.
Dabei hatte die Bergedorfer Zeitung noch am 19. April berichtet, dass die Kornwassermühle – so die Überschrift – „Originalgetreu – Stein auf Stein“ wiederaufgebaut werde. Das Bezirksamt begründet die Entscheidung auch damit, dass so 100.000 Mark gespart werden, die für die Instandsetzung des eigentlich denkmalgeschützten Bauwerks nötig gewesen wären. So übernehmen die zukünftigen Boutiquebetreiber die Kosten und erhalten den Mühlenneubau dafür in Erbpacht.
Brutaler Mord an einer Prostituierten
Ein brutaler Mordfall erschüttert Bergedorf und die Vier- und Marschlande im Frühjahr. Mit den Rufen „Vati, Vati, da liegt eine Puppe im Graben“, weckt eine Elfjährige am 11. März in der Schrebergartenkolonie am Curslacker Neuen Deich ihren Vater, der gerade ein Nickerchen hält. Tatsächlich handelt es sich bei der vermeintlichen Puppe um die schrecklich zugerichtete Leiche der 60 Jahre alten Prostituierten Annemarie Alex, bekannt als „Gräfin von Eppendorf“. Die Polizei identifiziert die Frau anhand eines Schließfachschlüssels, in dem Fach am Hamburger Hauptbahnhof finden sich ihre persönlichen Habseligkeiten.
Die bz kann schon am 13. März titeln: „Der Mörder kommt aus Curslack“. Die Ermittler hatten den 57 Jahre alten Gärtner Wilhelm Taege in seiner Wohnung verhaftet. Zeugen hatten gesehen, wie er mit dem Opfer in St. Georg in ein Auto gestiegen war, Taege hatte die „Gräfin“ am Hansaplatz getroffen. Nach stundenlangem Verhör gesteht der Mann: „Ich habe sie geschlagen, dann riss der Faden“. Er habe die bewusstlose Frau ins Wasser geworfen, wie sie zu ihren schrecklichen Verletzungen kam, könne er sich nicht erklären. Taege gibt an, dass ihn Annemarie Alex bestohlen habe und es daraufhin zum Streit kam. Tatsächlich findet die Polizei seinen Wohnungsschlüssel bei der Leiche.
Ein Schock für die Bevölkerung ist auch ein Unglück in Lohbrügge zwei Monate später. Am 11. Mai titelt unsere Zeitung: „Der Todessprung eines Achtjährigen“. Der Junge hatte sich auf dem Klettergerüst eines Spielplatzes ein Seil um den Hals gelegt, war dann heruntergesprungen. Eine dreijährige Freundin erlebt das Unglück und rennt davon, erst als andere Kinder den vom Gerüst hängenden Jungen entdecken, alarmieren sie die Polizei. Der Achtjährige erliegt jedoch im Krankenhaus seinen Verletzungen.
Anfang des Jahres stirbt Max Brauer, der erste frei gewählte Bürgermeister Hamburgs nach dem Krieg. Die bz würdigt die Verdienste des Sozialdemokraten, der seinen Teil zum Wiederaufbau der Hansestadt leistete. Brauer kam in Altona zur Welt und wurde 1924 auch Oberbürgermeister der damals noch selbstständigen Stadt westlich von Hamburg. Dennoch schafft es unsere Zeitung, den SPD-Mann am 2. Februar in ihrem Nachruf lokalpatriotisch zu vereinnahmen – schließlich stammte Brauer aus einer „alten Bergedorfer Glasbläserfamilie“, wie in der Unterzeile hervorgehoben wird.
Jom-Kippur-Krieg führt zu autofreien Straßen in Deutschland
Am 6. Oktober überfallen Ägypten, Syrien und weitere arabische Staaten Israel, ausgerechnet am hohen jüdischen Feiertag Jom Kippur. Zwei Tage lang rücken die Angreifer auf der Sinai-Halbinsel und den Golanhöhen vor, zwei Gebiete, die Israel zuvor im Sechstagekrieg besetzt hatte. Am Montag, 8. Oktober, titelt die bz jedoch bereits: „Nahost-Krieg: Israelis schlagen zurück“. Der Gegenangriff hat begonnen, auch wenn die Lage an den Fronten zu diesem Zeitpunkt für die deutschen Zeitungen noch unklar ist. Einen Tag später spricht unser Blatt bereits vom „Vormarsch Israels“. Am Mittwoch berichte die bz von „Bomben auf Kairo und Damaskus“. Die Luftwaffe der Israelischen Streitkräfte fliegt schwere Angriffe auf die Hauptstädte der beiden Hauptgegner.
Am Wochenende rollen israelische Panzer bereits auf Damaskus zu. Binnen 24 Stunden könnte die syrische Hauptstadt in der Hand der Israelis sein, kündigt die Bergedorfer Zeitung an. Am Dienstag, 16. Oktober, lautet die bange Schlagzeile auf der Titelseite „Weitet sich der Krieg aus?“. Während die Sowjetunion ankündigt, die arabischen Staaten „in jeder Weise zu unterstützen“, springen die Amerikaner Israel mit Lieferungen von Waffen und Munition zur Seite. Tatsächlich ist die Unterstützung der Amerikaner wohl auch der Versuch, Israel davon zu überzeugen, den Krieg konventionell gewinnen zu können. Ministerpräsidentin Golda Meir hatte bereits den Befehl gegeben, das israelische Atomwaffenarsenal gefechtsbereit zu machen.
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Auf Druck der UNO kommt es am 22. Oktober zu einem Waffenstillstand. Doch die Folgen des Konflikts sollten bald auch in Deutschland und Bergedorf zu spüren sein. Die ölfördernden arabischen Länder reduzieren nämlich ihre Fördermengen. Die Ölkrise in der westlichen Welt bahnt sich an. „Erdöl-Produktion ab sofort um ein Viertel gekürzt!“, lautet die Schlagzeile der Bergedorfer Zeitung am 5. November. Die Bundesregierung reagiert auf die daraus resultierende Benzinknappheit mit Fahrverboten am Wochenende, und so spricht die bz am 26. November von „gespenstischer Stille“ auf den Straßen des Heimatgebietes. Auf den Autobahnen sind teils rollschuhfahrende Kinder und Pferdekutschen zu sehen.